Maximilian Hendler

Prehistory of Jazz

Beiträge zur Jazzforschung/studies in jazz research 16


Hollitzer Verlag, Wien, 2023
242 Seiten, 54 Euro

ISBN 978-3-99012-980-7

 "Jazz ist afrikanisch“, rief neulich der Vibraphonist Mulatu Astatke dem Schriftsteller Navid Kermani in Addis Abbeba zu.
Er tat das mit einer gewissen Autorität; war er doch der erste afrikanische Student am Berklee College of Music in Boston. In New York hat er Latin Jazz aufgesogen und später das (Jazz)Vibraphon in seine Heimat Äthiopien importiert, er hat in Moers gespielt und 1971 mit Duke Ellington.
Wer den Kontext liest, kann zu dem Eindruck kommen, seine Behauptung sei doch eher anekdotisch gemeint.
Und sie kommt sie uns ja auch bekannt, ja alltäglich vor. Wie häufig lesen wir von „den afrikanischen Wurzeln des Jazz“ (als ob diese freilägen wie ihre natürlichen Referenzen im nächsten Wald).
Und, verwenden wir nicht ständig den Begriff der „afro-amerikanischen Musik“ mit einem downbeat auf dem Präfix - wobei die zweite geografische Bestimmung sozusagen inhaltslos mitschwingt?
Und, wir sind dabei nicht mal in schlechter Gesellschaft - wenn wir an George Lewis denken, an seinen Schüler Harald Kisiedu, andererseits aber auch an die Vorwürfe anderer aus dieser neuen Entourage, die auf dem Jazzforum Darmstadt zum Beispiel anklagen:
„Wenn sich die Institute der sogenannten ´westlichen Hochkultur´ Schwarze Musik aneignen, wird sie irgendwie weniger subversiv und weniger Schwarz“ (Vincent Bababoutilabo in Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 17, 2022, S. 66).
Sie alle werden wenig Freude an diesem Band von Maximilian Hendler, 84, haben.
max hendlerDer gelernte Tischler, Jazzfan seit dem 15. Lebensjahr, Slawistik-Professor in Graz bis 2002,  hat sich in den letzten Jahrzehnten ganz auf die Musikethnologie verlegt. Er forscht nicht nur in Archiven, sondern im Stile eines klassischen Einzelreisenden weltweit.
Was Hendler alles gehört hat, macht einen staunen.
Er hat über das Banjo geschrieben, über Jazz und lateinamerikanische Musik, über die Rhythmusformeln der Karibik, zweimal über die Vor- und Frühgeschichte des Jazz.
Die Taufe des Königs von Kongo im Jahre 1491, sie ist für ihn ein Schlüsselereignis der musikalischen Globalisierung.
Bis jetzt hat Hendler nur auf Deutsch publiziert. Das mag, neben seinen desillusionierenden Thesen, seine eher bescheidene Rezeption erklären.
Die wird sich mit diesem Band ändern; „ Prehistory of Jazz“, eine Art „Compilation“ aus einem halben Dutzend früherer Bände, mit gewissermaßen neu geschriebenen „Scharnieren“ zwischen den Kapiteln - erscheint nun auf Englisch. Endlich.
„Prehistory of Jazz“ kann also, sollte es ihm zur Kenntnis gelangen, Mulatu Astatke etwas sagen, vielleicht auch aufregen. Und, sozusagen am anderen Ende der Fahnenstange, auch Alan Stanbridge (wir kommen auf ihn zurück) dienlich sein.
Hendler weiß um die Sprengsätze, die er zwischen zwei Buchdeckeln platziert.
Denn wann hat es das je gegeben?
Ein Jazzbuch, dem eine Trigger-Warnung vorausläuft:

Wenn LeserInnen glauben, ein Schwarzer sei ein Schwarzer und damit unfähig, etwas anderes zu lernen als das, was seine Vorfahren bereits aus Afrika mitbrachten, rät ihnen der Autor, vorliegendes Werk nicht in die Hand zu nehmen, denn sie werden darin keine Bestätigung ihrer Auffassung finden.
Das klingt nach kalter Dusche. Und hier kommt die nächste:
Die von US-Amerikanern aufgebrachte und von Europäern willfährig übernommene Meinung, im Jazz wirke afrikanische Musik weiter, muss durchgängig hinterfragt und anhand von Fakten korrigiert werden.
So klingt es bei Maximilian Hendler in der Einleitung.
Und wer bei einem neuen Buch gerne erst mal Anfang und Ende aufschlägt, der findet auf den letzten Metern, auf Seite 191, diesen Merksatz:
Wenn sich bei den Afroamerikanern etwas "Afrikanisches" erhalten hatte, waren es Reste afrikanischen Temperaments, jedoch nichts, was sich in Noten fassen ließe.
Das ist ein unerhörter, ein für viele auch ungehörter Befund.
Das „Afrikanische“ am Jazz und seinen Vorläufern ist demnach nicht im Material der Musik zu finden, sondern in deren Interpretation.
Wie kann das sein?
Haben nicht die Sklaven ihre Musik aus Afrika „mitgebracht“ und in der Neuen Welt mit der dortigen Musik „verschmolzen“?
The Slave Trade
Hendler beginnt aus guten Gründen mit einem Kapitel über den Sklavenhandel. Wer sich noch nicht mit dem Thema befasst hat (das derzeit unter „De-Kolonisierung“ auch in Musikkreisen mit Schlagseite wieder auftaucht), der wird diese 21 Seiten hilfreich finden.
„Was hat nun die Geschichte der Sklaverei mit der Musik der Afroamerikaner zu tun?“, fragt Hendler.
„Direkt nichts, indirekt jedoch sehr viel.“

Diese Antwort dürfte vielen als kontra-intuitiv erscheinen - wobei sie übersehen, dass Hendlers Fazit ein Prozess von über 300 Jahren zu Grunde liegt; von der zwangsweisen Übersiedlung der ersten Sklaven aus Westafrika bis zur Aufhebung der Sklaverei 1865.
In diesem langen Zeitraum wurden nicht nur Verschleppte assimiliert, sondern auch deren Nachfahren sozialisiert; also bereits in Amerika geborene, etwa im Rahmen der berüchtigten „Slave-Breeding Industry“ in Virginia.
Cover Hendler PrehistoryDie Entrechteten wurden bzw. waren also bereits afrikanischen Musizierpraktiken entwöhnt; für sie war
(…)Musik zu dem geworden, was sie in Europa und den weißen amerikanischen Dependancen war, nämlich Unterhaltung.
In der zwangsweisen Übernahme der Musik der Mastergesellschaft
(…)wurde der Keim für jene Musikformen gelegt, die seit dem 19. Jahrhundert Europa mit exotischem Flair versorgen und aus denen im 20. Jahrhundert der Jazz herauswuchs.
Das "Afrikanische" dieser Musikstile ist das Temperament, mit dem sie die Afroamerikaner spiel(t)en. Die vollkommen im postromantischen Zöglingstrauma versunkenen Weißen empfanden diese Spielweisen als etwas so unerhört Neues, daß sie keinen anderen Gedanken mehr fassen konnten als „Africa!"
Offenbar kannten diese die Quellen ihrer eigenen Musik nicht; denn laut Hendler seien den Sklaven vielfach zersungene, also im europäischen Sinn ´falsche´ Stimmführungen übermittelt worden.
Mit der Folge:
Im Notenmaterial der "Slave Songs" deutet überhaupt nichts darauf hin, dass irgendwelche Elemente aus Afrika kämen.
Weitere pre-Jazz-Befunde:
die Verwendung von Instrumenten in Bassfunktion: in den USA vollkommen vom europäischen Erbe geprägt.
Synkopen und scotch snaps: letztere überhaupt nicht in der afrikanischen Polyrhythmik präsent, erstere könnten bestenfalls „hineingelesen“ werden.

Irish Eyes are smiling

Wenn rekapituliert wird, welche Musikquellen aus der schwarzen Folklore stammen, so haben sie alle schottisch-irisch-englisches Gepräge, wobei diese Reihenfolge bewusst gewählt ist.
An anderer Stelle verschiebt er die Quellen in leicht geänderter Folge:
„Selbst als die Volksliedforscher in den 1930er Jahren ausströmten und die Lieder der Afroamerikaner in den Südstaaten aufnahmen, kam allenthalben die irisch-schottisch-englische Melodik zum Vorschein, die sich in Amerika gebildet hatte.“
Minstrelsy; Shows, bei denen Weiße als Schwarze sich verkleideten und übel über sie herzogen. Noch so ein Phänomen, das heute gerne wieder falsch verstanden wird. So gab es z.B. in der Spätphase der Minstrelsy - ab 1870 - auch schwarze Ensembles.
Maximilian Hendler aus Graz rüttelt an den Grundfesten des Jazz - so, wie sie vielfach überliefert sind. Bei ihm lernt man, dass die Dinge weniger eindeutig, viel komplizierter sind.
Aber, bleibt denn nun gar nichts vom afro-amerikanischen Anteil an der Jazzmusik?
The Language of the Blues
Wenn es überhaupt irgend etwas ´Afrikanisches´ in der Musik der Afroamerikaner in den USA gibt, dann im Blues - trotz des englischen Namens. Mit dem Blues ist der Übergang zum Jazz erreicht.
Das Wort taucht um 1900 auf (z.B. in dem „Coon Blues“ des kreolischen Klarinettisten Alphonse Picou aus New Orleans. Er basiert auf dem Text eines schwarzen Schienenlegers, den der bei der Arbeit gesungen haben soll.)
Allein dieser späten Nachweisbarkeit wegen hält Hendler eine afrikanische Herkunft des Blues für „mehr als fraglich“.
An der Blues-Intonation - den sogenannten „blue notes"- hält er im Großen und Ganzen fest; jedenfalls lesen sich die entsprechenden Zeilen nicht wie eine komplette Negation. Er betont die Dreigliedrigkeit der Blues-Strophe - auch wenn diese wiederum nichts exklusiv „Afrikanisches“ sei.
Hier, im Kapitel über den Blues, hätte man sich eine ausführlichere Debatte über die blue notes gewünscht, und vielleicht weniger den Abdruck des Textes aus einem slovenischen Volkslied, der belegt, dass die Dreigliedrigkeit der Blues-Lyrics auch dort vorkommt (ohne dass es den Blues beeinflusst hätte). Hier dringt der alte Slawist Hendler durch, der im steirischen Radkersburg, einer Art Landzunge, umgeben von Slovenien, geboren wurde.
Über den Einfluß des Irischen (Anthony Braxton kennt ihn, was ihn in seiner community schon zum Außenseiter machen dürfte) hätte man gleichfalls gerne mehr gelesen. Wobei Hendler ein Fehler unterläuft.
Es war die Vorgangsweise der Engländer gegenn die Iren und Schotten, welche Teile dieser Völker ebenfalls zu Sklaven machte und nach Amerika verfrachtete.
Das ist, zumindest was die Iren betrifft, nicht zutreffend.
Hendler hat das Manuskript zum vorliegenden Band 2017 abgeschlossen; er konnte also zum Beispiel nicht eine Dissertation von Liam McKee an der University Of California in San Diego zur Kenntnis nehmen, der 2021 zu einem anderen Fazit kommt:
„Die irischen Einwanderer in den karibischen Kolonien waren keine Sklaven, sondern eine Art von Arbeitern, die als "indentured servants" bekannt waren.“*
Darunter muß man sich „Vertragsknechte“ vorstellen, die freilich nicht - wie die Sklaven - ihrer Freiheit verlustig gingen.
The Last Sentence
Da (s.o.) bereits von einem Merksatz auf Seite 191 die Rede war, hier ist ein gewichtiger von Seite 192:
Dass der Jazz 100 Jahre später bemerkenswerte Tendenzen zeigt, eine historische Kunstform zu sein, gehört in ein anderes Buch.
Dieser letzte Satz ist geeignet, manche Verwirrung, auch Empörung, die das Buch vielleicht auslösen mag, in einem Frühstadium abzufangen - wenn man es denn vollständig liest.
Hendler spricht ausschließlich über die frühen Jahre des Jazz und seine Vorgeschichte, noch einmal: er spricht im Kern über die Jahre 1890 bis 1930.
Er spricht nicht über die größte Zeitspanne des Jazz, vom Modernen bis hin in den aktuellen Jazz, vulgo: als dieser, spätestens mit dem Bebop, eine Kunstform wurde.
Er spricht also auch nicht über die späteren Hinwendungen zu dezidiert afrikanischen Praktiken im Jazz; er spricht zum Beispiel nicht über Don Cherry, Geri Allen, Herbie Hancock, Pharoah Sanders, oder auch Abdullah Ibrahim, Heiner Goebbels oder die Loose Tubes…
Hendlers „Prehistory of Jazz“ ist gleichwohl - wenn auch mit anderem Schwerpunkt - neben Alan Standbridges „Rhythm Changes“ ein willkommenes, ein dringend notwendiges Gegengewicht zum derzeit aufblühenden afro-amerikanischen Essentialismus unserer Tage.
Wo z.B. woke deutsche JazzmusikerInnen ihren vermeintlich "privilegierten" Status dadurch meinen legitimieren zu können, indem sie Dankbarkeit bezeugen, die Musik einer unterdrückten Minderheit spielen zu dürfen.
„Prehistory of Jazz“ von Maximilian Hendler sollte, nein wird den internationalen Jazzdiskurs bereichern. Die erste Gelegenheit dazu dürfte sein, wenn im April 2024 die Konferenz Rhythm Changes wieder in Graz Station macht.

PS: 
durchweg verwandte Überlegungen finden sich bei Philip Tagg "Open Letter about ‘Black Music’, ‘Afro- American Music’ and ‘European Music", 1989.
Kostprobe: "Zu welcher Zeit und an welchem Ort ist oder war die Musik ´wahrhaft schwarz´ oder ´am meisten afro-amerikanisch´?
In Charleston, South Carolina, im Jahr 1760, als Sklaven der zweiten Generation als Jig- und Reel-Fiddler gesucht wurden?"

*Dank an Odilo Clausnitzer für den Hinweis
erstellt: 10.08.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten