Thomas Bugert
Das Jahr der Innovationen im Jazz
Eine Analyse ausgewählter Alben des Jahres 1959
189 S., 44 Euro
Tectum Verlag. 2024
ISBN 978-3-8288-4922-8
1959. Ein schlechtes Jahr für den Rezensenten (in einer Missionsschule im Westfälischen ahnt er noch nichts vom Jazz).
1959. Ein gutes Jahr für den Jazz, ach was: „der Beginn des zeitgenössischen Jazz“, laut Darius Brubeck, 76.
Er ist in dieser Frage allerdings - wie soll man das nennen? - „befangen“.
Am 25.06., 01.07. und 18.08. jenes Jahres nimmt sein Vater mit seinem Quartett das erste Album der Jazzgeschichte auf, das fast ausschließlich (6 von 7) Stücke in ungeraden Taktarten oder im Wechsel mit dem bis dahin gebräuchlichen 4/4-Takt enthält.
Das exotischste darunter, „Blue Rondo a la Turk“, in 9/8; das mit Abstand populärste, „Take Five“, geschrieben von seinem Altsaxophonisten Paul Desmond (nomen est omen) in 5/4.
Das Album „Time Out“ ist zudem der eine Millionseller aus den Big Five jenes Jahres, souverän überholt von dem am 02.03. sowie 22.04.1959 produzierten „Kind of Blue“ von Miles Davis, mit über 6 Mio verkauften Einheiten das neben Keith Jarretts „Köln Concert“ (1975) wohl populärste Jazzalbum aller Zeiten.
Wer gehört noch zu den Big Five von 1959?
John Coltrane „Giant Steps“ (04. und 05.05. sowie 02.12.1959), Ornette Coleman „The Shape of Jazz to come“ (22.05.1959) und Bill Evans „Portrait in Jazz“ (28.12.1959).
Wir sehen, hätte Bill Evans seinen Studiotermin nur um wenige Tage verschoben, wäre er in einen anderen bedeutenden Jazzjahrgang gerutscht, nicht ganz so bedeutend wie der hier verhandelte. Und die Big Five wären zu Big Four geschmolzen. Es sei denn, man hätte mit „Mingus Ah Um“ (05. und 12.05.1959) die Gruppe aufgefüllt.
Big Five, um das klarzustellen, ist keine Wortmarke des Autors Bugert, sondern eine Wortschöpfung des Rezensenten, bemüht um einen fluffigen Einstieg in seine Arbeit.
Der Autor bemüht sich in der 22-seitigen Einleitung ausführlich um eine Begründung seiner Auswahl „stilprägender Alben“. Er vergleicht seine Selektion mit diversen anderen Bestenlisten und lexikalischen Einträgen und steht damit ganz sicher nicht singulär da. Erkenntnisleitend ist immer die Perspektive der titelgebenden Eigenschaft „Innovationen“. Und die findet er in den Alben seiner Auswahl „klarer“ als bei dem 59er Mingus.
Welch extreme Auslese Bugerts Liste (der, wie gesagt, viele zustimmen werden) darstellt, erschliesst sich aus einer Fußnote im Schlusskapitel. Da zitiert er aus der e-mail-Kommunikation mit Tom Lord, dem verlässlichsten Discographen des Jazz, der für 1959 sage und schreibe „2.836 Recording Sessions“ ermittelt haben will.
Ob die irgendjemand damals und in den sechs Jahrzehnten danach komplett gehört hat? Ob diese Person zu einem völlig anderen Urteil käme bzw. gekommen wäre?
Bevor der Gedanke einen lähmenden Reiz entfaltet, rasch wieder auf den Boden geschaut: wir bewegen uns auf dem Feld der Plausbilitäten.
Und in dieser Hinsicht lautet das stärkste Argument für das zunächst scheinbar willkürliche Zeitfenster „1959“:
es kann laut Thomas Bugert als „Brennpunktjahr der Jazzgeschichte gesehen werden, in dem sich vorher angelegte Konzepte wie in einem Brennpunkt verdichten und danach (in unterschiedlicher Vermischung) auseinandergehen und weiterentwickeln“.
Es gab mithin - wie hier auch dargelegt - schon vor „Kind of Blue“ modalen Jazz bei Miles Davis („Milestones“, 1958, oder „Ascenseur pour l´echafaud“, 1957).
Ungerade Taktarten vor „Take Five“, z.B. der irrsinnige „Turkish Mambo“ von Lennie Tristano 1955 mit 7/16, 6/8, 5/8. Oder Fats Wallers „Jitterbug Waltz“ 1942.
Prinzipien des FreeJazz vor „The Shape of Jazz to come“, wiederum bei Lennie Tristano, 1949, und auch bei Cecil Taylor („Jazz Advance“, 1956).
Interaktion, weswegen das Bill Evans Trio hier verhandelt wird, gab es zuvor prominent bei Mingus und im Modern Jazz Quartett, in der Form der Kollektivimprovisation auch schon im New Orleans Jazz.
Harmonische Verdichtungen finden sich in Bluesstücken von Charlie Parker, bei Mingus´ „Goodbye Pork Pie Hat“; Modulationen im Terzabstand bei Richard Wagner und Hugo Wolf - John Coltrane aber führt beides in „Giant Steps“ (sowie „Countdown“) in neuer Dichte und in einem Affentempo vor.
Damit sind die wesentlichen Innovationen gerafft genannt, Bugert führt sie anhand der Stücke der betreffenden Alben en detail aus.
Der Analyse fügt er jeweils einen Blick auf die Rezeptions-
geschichte der Produktionen an; ein wichtiger Aspekt, um zu erfassen, warum diese Werke nicht einfach nur isoliert „historisch“, sondern auch heute noch wirksam sind.
Im Falle von „Giant Steps“ fällt diese Betrachtung mit knapp einer Seite am kürzesten aus. Das ist kaum verständlich, nimmt doch dieses Stück „eine zentrale Rolle für Musiker ein, die ihr handwerkliches Können demonstrieren wollen“ (Bugert). Darunter z.B. auch Jennifer Batten, Gitarristin von Michael Jackson - sie wird hier nicht erwähnt.
Möglicherweise (und hier spekuliert der Rezensent) verbirgt sich in dieser Knappheit ein sehr spätes Echo auf das Verdikt von Ekkehard Jost (1938-2017) über das Coltrane-Solo in diesem Stück, das jener für eine „meisterhaft dargebotene, gut geplante Etüde“ hielt.
Jost ist die meist-zitierte Stimme in diesem Band. Allein im Literaturverzeichnis nimmt er mehr als eine Seite ein, überwiegend Stichworte aus dem Sachteil von Reclam´s Jazzlexikon, 2009 (dessen vorderer Teil, der Personenteil von Wolf Kampmann, den Professor bei Erscheinen doch befremdet hat).
Bei diesem Buch von Thomas Bugert handelt es sich um die gut lesbare Überarbeitung einer Masterarbeit am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Justus-Liebig-Unversität Gießen. 2022 eingereicht bei Claudia Bullerjahn, die 2004 den inhaltlich umgewidmeten Lehrstuhl von Jazzprofessor Jost übernommen hat.
Bei der Frage nach dem Ursprung der Innovationen verlassen beide, sowohl Prüferin als auch Prüfling (obwohl letzterer doch einiges für die Erklärung „Musik entsteht aus Musik“ angehäuft hat) ihren Beritt, nämlich die Musikwissenschaft. Sie begeben sich auf das Glatteis politischer Motivsuche und präsentieren Mutmaßungen, die in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen der Universität Gießen kaum Bestand haben werden.
Frau Bullerjahn zieht zwar auch „künstlerische Entscheidungen, Experimente und kreative Visionen der Bandleader“ heran, zuvor aber spricht sie tatsächlich von der „zunehmenden Verschärfung des Kalten Krieges“, vom „Rüstungswettlauf oder dem kulturellen Zeitgeist der Ära“ sowie - Dauerbrenner dieser Assoziationsketten - von der „Bürgerrechtsbewegung in den USA“.
Thomas Bugert klingt in seiner Schlußbemerkung ähnlich. Dass Bill Evans und Dave Brubeck Elemente aus Jazz und Klassik „paaren“, setzt in ihm die Überlegung frei: „Diese Idee der Gleichberechtigung kann man auch in der Bürgerrechtsbewegung und in der Politik des 1961 zum Präsidenten der USA gewählten John F. Kennedy finden“.
Beide unterliegen damit einem Irrtum, den der US-Jazzhistoriker und Psychologe Mark C. Gridley 2007 in einem luziden Essay thematisiert hat.
Sein Befund: „In den meisten Fällen fand die Politik lediglich zur gleichen Zeit statt wie die Jazzbewegungen. Korrelation war nicht gleich Kausalität.“
Die Frage aller Fragen beantwortet er so:
„War das Streben nach bürgerlichen Freiheiten der Grund für das Streben nach musikalischen Freiheiten? Nein. Die Free-Jazz-Bewegung entstand aus musikalischen Quellen, nicht aus sozialen Kräften.“
PS: Da wir gerade, Freunde eingeschlossen, wieder und wieder „Power to the People“ von Joe Henderson hören, aufgenommen im Mai 1969…
Das Jahr 1969 drängt sich mit mindestens gleichwertiger Legitimation als Schlüsseljahr auf:
Miles Davis „In a silent Way“ und „Bitches Brew“, Tony Williams Lifetime „Emergency“, Frank Zappa „Hot Rats“, John McLaughlin „Extrapolation“, Miroslav Vitous „Infinite Search“ u.a.
PPS (16.05.24) "Jazz ist tot. Er starb 1959 und kommt nie wieder!"
Wer könnte einen solchen Stuß verzapft haben?
Richtig, Nicholas Payton, 2013.
Dieses und vieles mehr finden wir in Walter van de Leur. Jazz and Death: Reception, Rituals, and Representations. Routledge, 2023
erstellt: 13.05.24
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