PETER NIKLAS WILSON
Jazz-Klassiker
2 Bd. kartoniert in Kassette
816 S, 98 Abb., 24.90 Euro
Stuttgart: Philipp Reclam jr, 2005
Peter Niklas Wilson (1957-2003), das war, um den schönen Begriff von Volker Kriegel wieder aufzugreifen, eine "Einzelanfertigung". Kein anderer deutschsprachiger Publizist vermochte Musikwissenschaft und Jazz-Journalismus derart in einem eigenen Werk zu verbinden. Posthum fällt auf, dass alle seine Veröffentlichungen Einzelthemen galten, denn seine letzte Arbeit ist seine erste mit übergreifendem, kanonischem Charakter. Bis dato fügten sich seine Texte zu einem eindrucksvollen Mosaik, aber eben ohne den Anspruch, Anschlussstücke für die ganze Jazzgeschichte auszulegen.
Mit "Jazz-Klassiker" ist das de facto der Fall, auch wenn seine Lebensgefährtin Nina Polaschegg - wie man das halt tut - mit Dämpfer spielt: "Entstehen sollte ein Buch mit rund hundert Jazzbiographien, also ohne Anspruch auf lexikalische Vollständigkeit, versteht sich, aber mit dem Anspruch auf Relevanz."
Letzteres eine bare Selbstverständlichkeit, "Anspruch auf Relevanz" durfte man allem unterstellen, was PNW zeitlebens anpackte, aber diesmal tritt er eben doch in einer anderen Rolle auf, als Herausgeber, also als einer, der ein Feld beschreibt, ohne es im Einzelnen zu bestellen.
"Jazz-Klassiker". Der Begriff füllt sich leicht, einem jeden fällt dazu etwas ein; und wenn man Band 1 aufschlägt, der von Jelly Roll Morton über Billie Holiday bis zu Miles Davis führt, so würde kein Jazz-Stammtisch nirgends eine andere Ordnung vorschlagen.
Die Crux des Unternehmens liegt in Band 2 (John Coltrane über Archie Shepp bis Steve Coleman), zumal in den lobenden Begleitakkorden von Polaschegg: "Klug gewählt ist auch der Schwerpunkt, der auf Europa und auf moderneren Tendenzen im Jazz liegen sollte."
Diesen "moderneren Tendenzen" gilt Band 2, zu Teilen auch Band 1, insofern man man darin einen "Schwerpunkt" erkennen. Der erste Europäer dieser Richtung (Albert Mangelsdorff) taucht aber erst auf Seite 445 auf. Gefolgt von Joe Zawinul, Misha Mengelberg...ja das ist der Misha Mengelberg - aber ist denn der ein Jazz-Klassiker? Und Gunter Hampel, Alexander von Schlippenbach, Barry Guy, Derek Bailey, Franz Koglmann? Man kann sie mögen, verehren, abgöttisch lieben - aber sind sie Jazz-Klassiker?
Was zeichnet den Jazz-Klassiker aus?
Ist das jemand, der wichtige Aufnahmen veröffentlicht hat? Einer, der andere beeinflusst, gar eine "Schule" gegründet hat?
Wilson gibt keine, konnte vielleicht keine Antwort (mehr) geben und Polaschegg geht diesen Aspekt auch nicht an. Ein grundlegendes Kriterium, wie denn diese Auswahl zustande kam, bleibt somit im Dunkeln.
Also machen wir, wie´s auch bei Lexika üblich ist, den Elchtest und schauen mal nach, wer nicht drinsteht, um Aufschluss über das Wilson´sche Jazz-Klassiker-Verständniszu bekommen.
Und jetzt wird´s finster, so finster, dass man es einem Wilson-Projekt gar nicht zutrauen mag. Es fehlen Elvin Jones, Tony Williams, Jack DeJohnette, die founding fathers des modernen Jazz-Schlagzeugs - allesamt keine "Jazz-Klassiker" a la Wilson! Jimmy Smith, John Scofield, McCoy Tyner (keine Konzertrezension versäumt, seinen Einfluss auf die Jazzpianisten zu erwähnen), Michael Brecker (der einflussreichste Tenorsaxophonist der letzten beiden Jahrzehnte) - alle keine "Jazz-Klassiker". Jim Hall ist drin, Wes Montgomery nicht, Clifford Brown ja, Freddie Hubbard nein.
Nun könnte man vermuten, wenn schon nicht der Herausgeber selbst die Marschroute erklärt, so könnte sich doch das Format der Beschriebenen als "Klassiker" aus den jeweiligen Einträgen ergeben.
Fehlanzeige. Viele Beiträge entsprechen dem üblichen Jazz-Lexikalismus, kaum einer der Autoren macht sich die Mühe, den "klassischen" Charakter seines/r Protagonisten herauszustellen. Im Gegenteil, Tom R. Schulz wagt den Eiertanz, "Legitimationsnöte" anzudeuten im Falle Bill Frisell, wenn man nur "die Plattenveröffentlichungen der letzten Jahre zum Maßstab" nähme...und jetzt konmt´s, "wäre seine Aufnahme in dieses Buch über Jazzmusiker nur schwer zu rechtfertigen." Im Falle Pat Metheny´s (als Leader der gleichnamigen Group) reicht er für die These "Als Jazzrocker konnte man ihn jedoch kaum einstufen", die ulkige Begründung ein: "...Metheny improvisiert nicht über engen Ostinato-Strukturen, sondern spannt die Bögen seiner musikalischen Geschichten immer über harmonisch weite Terrains, und die Grooves der Pat Metheny Group knacken und krachen nicht, sie federn allenfalls."
Wer Quellen sucht für die seit Jahren groteske Fehleinschätzung des Jazzrock, in solchen Sätzen findet er sie.
Herausgeber Wilson hat mehrere derer aufgenommen, denen er ausführliche Arbeiten gewidmete hatte - leider nicht Miles Davis. Nun gut, es ist tonnenweise groberer Unfug über jenen geschrieben worden, aber wenn Stefan Hentz die bahnbrechende Arbeit von Teo Macero (ohne ihn namentlich zu erwähnen!) auf die Briefmarke "Cut- und Sample-Methode" verkleinert, oder der späte Miles habe "den Swing zu Gunsten des Groove hinan(ge)stellt", so geht das nicht in Ordnung, ganz gewiss nicht einem Werk, wo PNW draufsteht.
Schnitzer wie diese, zugegeben, halten sich in Grenzen, der Reclam Verlag hat sich mit einer anderen Jazz-Publikation viel mehr um die Realsatire verdient gemacht.
Aber der Konstruktionsfehler von "Jazz-Klassiker" stösst halt bei fast einem jeden Umblättern wieder auf. Er summiert sich zu der Erkenntnis, dass der grosse Autor Peter Niklas Wilson nicht zum Kanoniker taugte, auf diesem Sektor bleibt - der sachlich schwächere - JEB unerreicht.
PS: Bei der Lektüre liess sich der Wunsch nicht unterdrücken, endlich auch mal das andere Ende der Fahnenstange kennenzulernen, die absolute Alternative zu "Klassikern" - die Aussenseiter.
Der Herausgeber eines solchen Bandes hätte freie Hand, er hätte quasi die Lizenz für ein Fass ohne Boden, die Kritiker nichts zu mäkeln (wem will schon ein Elchtest für Aussenseiter einfallen?) - mich würde nicht wundern, wenn in einem Band "Jazz-Aussenseiter" mehrere derer auftauchten, die hier als "Jazz-Klassiker" geführt werden.
That´s Jazz! Im Jazz ist immer auch das Gegenteil "richtig".
erstellt: 16.04.05
© Michael Rüsenberg, 2005, Nachdruck verboten