Destination unknown. Die Zukunft des Jazz
Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung. Band 18
Eine Veröffentlichung des Jazzinstituts Darmstadt
herausgegeben von Wolfram Knauer
272 S., 29 Euro
Wolke Verlag. 2024
ISBN 978-3-95593-018-9
„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“
Von wem auch immer diese geniale Aussage stammt - Mark Twain, Karl Valentin oder Winston Churchill -, sie immunisiert wetterfest gegen die Zumutungen der Futurologen.
Denn, der 7. Oktober 2023 in Israel, 9/11 in New York, der Fall der Berliner Mauer - niemand hat diese welthistorischen Ereignisse vorhergesehen.
Um wieviel mehr muss dies für ein so fluides Geschöpf wie „den Jazz“ gelten?
„Die Zukunft des Jazz“. Das Jazzinstitut Darmstadt tat gut daran, dem Motto seines 18. Jazzforums im September 2023 sogleich die Unmöglichkeit des Unterfangens voranzustellen: jazzlike mit dem Titel eines Sun Ra-Albums „destination unkown“ - Ziel unbekannt.
Ähnlich jazzlike (in der Kunst des Irjenswie) äußert sich der Schriftsteller Thomas Meinecke, er wurde in Darmstadt als Schallplattensammler und DJ interviewt:
„Es ist ja fast eine Tautologie, über ´Jazz und Zukunft´ zu sprechen, weil der Jazz immer dieses Vorecho in sich trug“, sagt er.
Er denkt dabei an „In a Mist“, ein Soloklavierstück von Bix Beiderbecke 1927, das „klingt wie die Musik, die 20 Jahre später Lennie Tristano und andere machten.“
(Möglicherweise meint er „Intuition“, 1949).
Meinecke ist aber viel zu gewitzt, um nicht in der gleichen Antwort die Zeitperspektive wieder zu korrigieren:
„…zugleich würde ich nie von ´seiner Zeit voraus´ sprechen wollen, weil es eigentlich voll die Gegenwart ist. Genau das, finde ich, kann Jazz sehr gut.“
Abgesehen davon, dass das auf jede Musik zutrifft, zumal im Konzertsaal, ergänzen wir Meinecke wohl richtig, wenn wir „voll die Gegenwart“ auch auf Popmusik, Neue Musik u.a. ausweiten.
Auch André Doehring kennt die Zeitperspektiven-Problematik. Er begegnet ihr, indem er quasi zu den Sternen greift und - ungehört in unserer kleinen Welt - einen der bedeutendsten deutschen Historiker zu Rate zieht, Reinhart Kosselek (1923-2006); nämlich dessen Theorie „der vergangenen Zukunft“.
Doehring leitet u.a. das Institut für Jazzforschung in Graz. Er prüft das Modell von Kosselek anhand zweier Kindermusiken von Wolfgang Dauner (1935-2020): die TV-Reihe „Glotzmusik“ (1974) sowie die LP „Das Auto Bubberbumm“ (1976), zusammen mit Dieter Süverkrüp, 89.
Doehring hat einen biografischen Bezug dazu, da er „als 1973 in Westdeutschland geborenes Kind diese Sendung bereits gesehen haben musste, mich aber erst wieder im erlebenden Mitvollzog daran erinnern konnte“. Offenbar hilfreich war dabei auch das Interesse seiner Tochter (11), „die nach der ersten alle weiteren Folgen sehen wollte“.
Das war dem ausgewachsenen Kritiker nicht vergönnt. Und nach dem, was Doehring daraus beschreibt, wurde das Rechercheinteresse des Rezensenten daran nicht unbedingt beflügelt. Jedenfalls kann er mitnehmen, dass die Dauner-Men seinerzeit „nie belehrend“ waren, dass bei allem Humor „musikalisch hier Ernst herrscht, dass die Kinder auch musikalisch als ernstzunehmende Partner:innen auf Augenhöhe gelten“.
Gleichwohl, „mein Bild vom Jazz als freies musikalisches Handeln wurde damals womöglich mehr durch diese medienvermittelten Begegnungen geprägt, als mir bewusst war und später in eigenes musikalisches Handeln einfloss“ (Doehring).
Nun hat Koselleks Theorie die entscheidende Pointe, jedenfalls wie Doehring sie referiert, „dass das, was wir wissen müssen, um die Gegenwart zu meistern und eine Zukunft zu entwerfen, immer seltener auf historischen Erfahrungen aufbauen kann.“
Liegt hier der Grund, warum Doehrings feine Denkübung schließlich nur als Erinnerung an Dauners „vergangene Zukunft einer medienbasierten Jazzpädagogik“ hängenbleibt, ohne konkreten Bezug zur Gegenwart?
Und eben nicht „ins Heute gewendet“ wird, wie der Titel des Essays verspricht?
Folgt man Uli Kempendorff, dann sind Dauners Errungenschaften nur für einen kurzen Moment vergangene Zukunft gewesen (noch vor seiner Geburt 1981), dann müssen wir uns die heutige Ausbildung von JazzmusikerInnen als eine Wüstenei vorstellen (und umso mehr wundern, dass die 18 deutschen Institutionen unter diesen miesen Umständen so viele Talente hervorgebracht haben).
Folgt man dem geschätzten Saxophonisten, dann gibt es keinen „exit from the nineties“.
Sein Diplom, begonnen 2000 an der Jazzabteilung Hanns Eisler in Berlin, erscheint ihm als Produkt einer „anti-intellektuellen, reflektionsarmen Ausbildung, in der sich in den letzten 25 Jahren viel zu wenig verändert hat“ - an der er, nunmehr als Lehrbeauftragter für Saxophon an der HMTM Hannover, von 2021-2024 einen Anteil hat.
Die Passagen über diese Zeit sind nicht minder von Wut getragen: kein Zugang zum Konzertsaal im Haus für die Angehörigen der Jazzabteilung. „Jazz bleibt, so wie er gelehrt wird, Exot, was tatsächlich abwertend gemeint ist, denn eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Musik wird mangels Mitteln nicht erzwungen - eine Argumentation der Daseinsberechtigung fällt aus“.
Eigene Nachforschung in Hannover ergibt: Uli Kempendorff hat recht, aber nur in logistischen Fragen wie z.B. Zugang zum Konzertsaal. Tatsächlich konnte man im Neues Haus 1 zu Hannover „die Sektkorken knallen“ hören, als die größte Bremserin, die Hochschulpräsidentin, zum 1. April 2024 in den Ruhestand verabschiedet wurde.
In vielen anderen Punkten aber hält ein Mitarbeiter eines anderen Institutes Kempendorffs Wutrede für ein typisches Produkt von „modischem Hochschul Bashing“. Der Saxophon-Kollege habe zu wenig Ausdauer gezeigt, die inhaltlichen Belange seines Fachbereiches hochzuladen (worin durchaus Bedauern über seinen Abgang mitschwingt).
Kempendorffs Schlusssatz wird nicht nur dort befremdlich wirken:
„Denn wenn sich hier nichts tut, befürchte ich, man könnte unserer Musik, so gut wie sie ist, bald mit Max Frisch eine ´durchschlagende Wirkungslosigkeit´ bescheinigen“.
Die Zukunft des Jazz, sie erscheint einigen so vernagelt, dass eines der drei Panels (alle seltsam unkonturiert) allen Ernstes mit der Frage eingeleitet wird:
„Ist der Jazz dem Untergang geweiht, wenn sich an den gegenwärtigen Strukturen nichts ändert?“
Die schwäbische Jazzpianistin Monika Herzig, nach Jahrzehnten in den USA, nunmehr in Wien, stellt „einen praktischen Leitfaden zur Genderparität“ vor. Dass diese in manchen Jazzkonzerten fast oder auch ganz realisiert ist, diese Gegenwart gewordene Zukunftshoffnung, kann nicht Gegenstand ihrer Überlegungen sein, findet aber auch sonst keine Erwähnung. Ebensowenig Felder wie die „Zukunft der Tonträger- oder Streamingindustrie“, die „Aufgabe von Radio, Internet oder Podcasts“, im Vorwort von Herausgeber Wolfgang Knauer angekündigt - niemand greift sie auf.
Größten Raum in diesem Band (30 Seiten) nimmt die Wiedergabe einer Masterarbeit (Teresa Becker) ein, die bei einem Sample von 12 Personen der „Rolle und Funktion von Musiker:innen in der Nachhaltigkeitskommunikation“ nachgeht. Sie liest sich wie ein sehr heutiges Tugendbrevier und hält die Antwort auf die Gretchenfrage, die man mehr und mehr ahnt (wie kommt denn das beim Publikum an?) bis zur Schlusspassage in der Schwebe.
Ja, wirklich, wir haben hier ausführlichst eine Vorübung verfolgt, denn „anknüpfende Forschungsprojekte sollten unter anderem auf Medienwirkungsphänomene der Nachhaltigkeitskommunikation von Musiker:innen eingehen, um den Einfluss der Nachhaltigkeitskommunikation von Musiker:innen auf die Rezipierenden nachvollziehen zu können“.
Auch das Panel „Jazz - aber für wen eigentlich?“ kommt ohne jede Empirie über die damit Angesprochenen, das Publikum, aus. Es klingen aber Forderungen an, ohne die man bis dato gut gefahren ist und die sich für einige Clubbetreiber zu einer nicht wirklich schönen Zukunftsmusik formen: „In kaum einem venue sehe ich ein Awareness-Team, selten einen code of conduct zu Rassismus, Diversität, Diskrimierug. Und keine Barrierefreiheit“ (James Banner).
Ist Jazz per se Black Music?
Das eigentliche Subthema des Bandes aber steht weder in seinem Titel noch in einem seiner 16 Beiträge. Es ist ein so heißes Eisen, dass der Saxophonist Frank Gratkowski (ganz nebenbei: einer der Besten in diesem Lande) in einem Impulsreferat wohlweislich drumherum navigiert (und sich lieber ästhetischen Fragen von Improvisation & Komposition zuwendet):
„Ich will gar nicht weiter auf die Frage eingehen, ob Jazz tatsächlich per se Black Music ist“.
Die Frage ist keineswegs so deplatziert, wie es scheinen mag. Gratkowski spricht am Nachmittag des zweiten Forumtages; da hat er vermutlich (und vielleicht auch mit Befremden, wir wissen es nicht) den Beitrag von Harald Kisiedu gehört:
„JAZZ IS DEAD. Überlegungen zu einer gar nicht mal so neuen Idee“.*
Nein, zentral ist hier nicht Frank Zappa mit seinem gerne missverstandenen Bonmot, sondern der gleichnamige Song aus dem Album „Love Quantum“ (2022) des schwarzen Trompeters Theo Croker.
„Wir, die Fackelträger der Wahrheit, öffnen eure Augen/ und lassen nicht zu, dass diese Institutionen unsere Kultur sterben lassen“ lauten zwei Zeilen daraus.
Man überhört sie leicht im Rap dieses gut groovenden Stückes. Kisiedu hält dies für „eine radikale Kritik an der Institutionalisierung der Vermittlung des Wissens über ´Jazz´und des Umgangs mit diesem im Kontext von Hochschulen“ (an deren einer, am Oberlin College, Croker einst bei Donald Byrd studiert hat).
Damit nicht genug; Kisiedu erkennt darin „eine fundamentale Zurückweisung weißer Deutungshoheit im Hinblick auf ´Jazz´“.
Der Song sei „kein Lamento (…) sondern eine Feier, die von der eschatologischen Hoffnung getragen ist, dass der Tod des ´Jazz´ eine unerlässliche Voraussetzung für das eigentliche Leben nach dem Tod darstellt, der selbstbestimmte Musik somit erst ermöglicht. Der Tod des ´Jazz´ ist somit etwas zutiefst Emanzipatorisches und führt letztendlich zur Befreiung Schwarzer Musik“.
Eine Nummer kleiner sind Croker & Kisiedu nicht zu haben. Und wo lernten sie sich kennen? Nicht im Apollo in Harlem, nicht im Village Vanguard, sondern in einem Tempel des Hamburger Bildungsbürgertums, in der Elbphilharmonie.
Harald Kisiedu ist Lehrbeauftragter für Jazzgeschichte und Musikwissenschaft am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück, mithin an einem Typus Institution, die er erneut als wenig segensreich für die Musik einschätzt, die er immer wieder nur in Klammern, als „Jazz“, anspricht.
Obgleich laut Hochschul-Webseite „Jazz als globales Phänomen“ zu seinen Aufgabengebieten gehört, taucht er in dieser Eigenschaft in seinem Text gar nicht auf. Kisiedu versteht (und verengt) diese Musik aus/auf einem/n afroamerikanischen Essentialismus.
Den Jazzbegriff, den er hier auf Seite 38 vorschlägt, ist nicht nur heute falsch, er war auch schon vor 100 Jahren falsch - und schimmert inzwischen auch durch die Selbstbeschreibungen deutscher JazzmusikerInnen, die sich „privilegiert“ fühlen, die Musik der Afroamerikaner spielen zu dürfen:
„Ein Jazzbegriff des 21. Jahrhunderts sollte dem komplexen Verhältnis, das afroamerikanische Menschen gegenüber dem Begriff, dessen Begriffsgeschichte und dessen Implikationen und Konnotationen haben, Rechnung tragen“ (Harald Kisiedu).
(swingin´) Wittgenstein
Diese Auffassung von Jazz steht der von Bettina Bohle diametral entgegen. Die neue Leiterin des Jazzinstitutes Darmstadt, die am 1. April 2024 auf Wolfram Knauer folgt, liefert mit „Genre & Jazz - Eine sprachpragmatische Annäherung an eine hitzige Diskussion“ den überzeugendsten Beitrag des ganzen Bandes. Ein Stück, das den Anforderungen eines wirklichen Essays genügt und auch davon lebt, dass die Autorin ihr Handwerk in einem Studium der antiken Philosophie erlernt hat.
Im Grunde stellt sie Kisiedu gar keinen neuen Jazzbegriff entgegen, (sie erwähnt ihn namentlich auch gar nicht); sie hält impliziert am alten Wort „Jazz“ fest. Sie öffnet lediglich einen Handwerkskasten, mit dessen Hilfe die Bedeutung des Wortes, also der Jazzbegriff, historisch variabel gehalten, auf gut Deutsch: immer wieder angepasst werden kann - ohne sich in jener Beliebigkeit zu verlieren, die Kisiedu als „post-Genre-Moment“ schon feiert.
Auch sie greift dabei zu den Sternen, sie zieht den wohl bedeutendsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts heran, Ludwig Wittgenstein (1889-1951), nämlich dessen Vorstellung von „Familienähnlichkeit von Merkmalen“.
„Im Sinne der Familienähnlichkeit sind die dem´Jazz´ zugeordneten Merkmale ein Spektrum, in das sich Musik begründet einordnen lässt, indem bestimmte Merkmale festgestellt und herausgehoben, andere als nicht so relevant herausgearbeitet werden“ (Bohle).
Von Wittgenstein zieht sie noch ein anderes Bild heran:
„Wie ein Tau, bei dem keine einzelne Faser durch das gesamt Tau durchgeht, sondern sich einzelne Fasern mit den einen Fasern überlagern und diese wieder mit anderen, so ist es auch mit Merkmalen: Keines gilt einfach für alle“.
Der Diskurs, was gehört zum Jazz und was nicht?, wird dadurch nicht leichter. Das Erkennen & Bestimmen von Merkmalen erfordert weitaus mehr Hinhören & Recherche (wieviel in der Schwarzen Musik kommt wirklich aus Afrika?).
„Das Vorhandensein aller dieser Merkmale ist nicht notwendig, um etwas Jazz nennen zu können“.
Der Gedanke ist keineswegs neu, Helga de la Motte hat ihn vor etlichen Jahren schon auf die Klangkunst angewandt.
Bohle liegt ganz sicher nicht falsch, wenn sie mit ihrem „Verstehensangebot“ die Hoffnung auf einen leicht entspannteren Diskurs verbindet:
„So können musikalische Ereignisse, die - aufgrund der eigenen Hörerfahrung - nicht sofort einordbar sind, pragmatisch angegangen werden, sie führen nicht sofort zu einer Genrekrise. Mit dem von mir hier vorgelegten pragmatischen Genrebegriff kann die Diskussion darüber, was ´Jazz´ ist und was ihn ausmacht, weniger hitzig als dies häufig der Fall ist, geführt werden.“
Kein Jammertal, das Interview mit dem Leiter des Bundesjazzorchesters, mit Niels Klein und der Flötistin Jorik Bergman. Sie ist Teil der Aufmerksamkeits-Renaissance für den schwarzen Komponisten Julius Eastman (1940-1990). Er hat für das BuJazzO zwar den Wettbewerb „Zukunftmusik“ ausgerufen - ohne den Anspruch, Musik der Zukunft zu finden, wohl aber um zu zeigen, wie junge Leute heute im Bereich Big Band komponieren. Und darüber erfährt man einiges, auch logistisch:
„Wenn das BuJazzO irgendwo ein Konzert spielt, sind bereits 10.000 € an Reisekosten weg“.
"When Sun Ra met Janelle Monáe"
Ein solcher Band wäre unvollständig ohne Stichworte wie „Ancient to the Future“. In der Musikwelt schlechthin versteht man den Gedanken als eine Selbstverständlichkeit (in zugespitzter Form, dass Musik immer Musik über Musik sei), im Jazz beinahe exklusiv als afro-amerikanische Bewegung, in Anlehnung an den Slogan des Art Ensemble Of Chicago „Great Black Music: Ancient to the Future“.
Der Historiker Richard Herzog (Marburg) kennt sehr wohl die universelle Grundlage dieser spezifischen Ableitung, schlingert in seinem Portät von Matana Roberts und Moor Mother aber zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Und entgeht auch nicht dem heute irrlichternden Mythos, den der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube neulich so verspottet hat:
wenn Elvis den Schwarzen den Blues entwendet haben sollte - warum erklingt er immer noch?
So löst die poetische Zeile von Moor Mother „The Blues Remembers Everything the Country Forgot“ in Herzog eine seltsame Befürchtung aus:
„Denn wenn der Blues weggenommen, angeeignet oder kommerzialisiert wurde, wie lässt sich dann auf die darin kodierten Erinnerungen zurückgreifen? Kann dies letztlich einer - zumindest partiellen - Weißwaschung US-amerikanischer und speziell südstaatlicher Geschichte gleichkommen?“
Das andere elementare Stichwort „Afrofuturismus“ (bzw. „Afrofuturism“, weil die Autorin als einzige auf Englisch schreibt) kommt bei Magdalena Fürnkranz aus Wien zum Tragen, ebenfalls in einer Art Doppelporträt, nämlich von Sun Ra (1914-1993) und der Soulsängerin Janelle Monáe.
Anders als Fürnkranz´ Untertitel "When Sun Ra met Janelle Monáe" behauptet, können die beiden nie miteinander musiziert haben, weil sie (wenn das Personalpronomen bei einer nicht-binären Frau korrekt ist) erst acht Jahre alt war, als er verstarb.
Ganz nebenbei illustriert Fürnkranz auf eigene Art auch den Sachverhalt, dass es zum Hören von Musik keiner ins Ohr dringender Schallwellen bedarf (das klassische Beispiel nach wie vor: Ohrwürmer): das Abum „Songs are Spaceships“, das Ra & Monáe aufgenommen haben sollen, existiert - track für track plus Musikvideo - ausschließlich in der Fantasie von Magdalena Fürnkranz.
Eine Utopie, eine Zukunftsmusik, die außer der Autorin nie jemand hören wird.
Moment. Ist dies vielleicht doch „voll die Gegenwart“ (Thomas Meinecke)? Oder sogar real? (vgl. Markus Gabriel, „Fiktionen“, 2020).
Für Fürnkranz ist ihre Fiktion kein ästhetischer Selbstzweck, sie ist Teil einer Mission:
„Schließlich bietet das imaginäre Album ´Songs are Spaceships´ mit seinem begleitenden emotionalen Video eine kraftvolle Bühne für schwarze Themen, es feiert schwarze Geschichte, nutzt afrofuturistische Fantasie, um über Mystik, Identität und Befreiung nachzudenken und bietet schwarzen Individuen einen Ausblick auf eine nicht-lineare, fließende und feministische - utopische - Zukunft.“
Den frappierendsten (und auf gewisse Weise einleuchtendsten) Satz des Bandes sagt in einem der Panels die ukrainische Jazzkuratorin Mariana Bondarenko:
„Macht einfach weiter. Ich bewundere die Strukturen hierzulande. Das ist, ehrlich gesagt, mein Traum für eine Ukraine nach dem Krieg.“
*"Jazz is dead". Wie uralt die Idee ist, lesen wir bei Walter van de Leur. Jazz and Death: Reception, Rituals, and Representations. Routledge, 2023
"Der Tod des Jazz wurde von dem Moment an verkündet, als das Genre in den 1920er Jahren zu einem Begriff wurde."
Mit dem Unterschied freilich, dass van de Leur zu ganz anderen Schlüssen kommt als Kisiedu.
Foto (Kempendorff): Gerhard Richter
erstellt: 05.04.24
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