Christian Rentsch, 1945 - 2025

christian rentsch   1Was haben wir zusammen gelacht! Was haben wir uns gestritten!
Im Januar 2024 unterhielten wir uns - was keiner bei Annahme des Anrufes ahnte - von Bett zu Bett; er im Spital in Zürich, ich in Köln.
Für Biografien wie die seine ziehe ich gerne die Kategorie von Volker Kriegel heran: „Einzelanfertigung“. Sie erscheint mir im Falle CR als zu schwach.
Was für ein Leben!
Von 1969 bis 2004 schrieb er für den Zürcher Tages-Anzeiger; zunächst als Freier, er berichtete noch zu Studienzeiten aus dem Berlin der Spät-APO-Zeit, später als Kultur- und Medienredaktor sowie als Leiter des Kulturressorts. Er kannte sie alle: Dürrenmatt, Frisch … als wir einmal zum S-Bahnhof Stadelhofen in Zürich gingen, wies er auf eine Dachetage: „Da hat Max Frisch seine letzten Tage verbracht“.
Prominenz begegnete ihm schon in Kindertagen, er machte sich nicht viel daraus (obwohl, Profil, Individualität, Aufsässigkeit wusste er zu schätzen). Liberale wie Theodor Heuss verkehrten bei den Rentschs, Vater Eugen war Verleger alt-liberaler Literatur. Mit ihm hat der linke Sohn sich früh überworfen.
Er brauchte es materiell nicht, aber als Anekdote gefiel ihm doch sehr, dass, hätte sein Vater die „Negermusik“ nicht vehement abgelehnt, er als Erbe vom bestverkauften Jazzbuch der Geschichte profitiert hätte.
Noch vor dem S. Fischer Verlag, der es bis heute vemarktet, hatte nämlich Joachim Ernst Berendt in den fünfziger Jahren für „Das Jazzbuch“ beim Rentsch Verlag, Zürich, angefragt.
Mit Berendt hatte Christian es nicht so. Kein Wunder für den wohl kritischsten Jazzkritiker in der Schweiz. Dafür konnte er es umso mehr mit Berendts Nachfolger bei den Berliner Jazztagen, mit George Gruntz.
Seit dem neunzehnten Lebensjahr war er ihm verbunden, seit der damals schon renommierte Pianist Gruntz den ambitionierten Vibraphon-Anfänger in einer seiner Bands mitlaufen ließ.
Christian schrieb Texte für die Programmhefte der Berliner Jazztage während der Gruntz-Jahre. Er schrieb mehr noch über den Pianisten George Gruntz (1932-2013), er besuchte mit ihm Miles Davis in New York City.
Und einmal doch ließ er den Rollenkonflikt, den ein zudem kritischer Journalist in einer solchen Verbindung in sich balancieren muss, eskalieren: er schrieb eine negative Rezension über seinen Freund.
Gruntz war brüskiert. Es herrschte Funkstille. Nicht entscheidend ist, wie lange, sondern wie die beiden herausfanden. In den Monaten vor seinem Tod, nachts um Drei voller Schmerzen, wo fand Gruntz Trost in langen Telefonaten?
Hier kommt eine große charakterliche Eigenschaft von Christian ins Spiel: seine Loyalität. Ähnlich gegenüber Irène Schweizer (1941-2024); er hat sie bis zu ihrem Tode regelmäßig aufgesucht, auch als sie ihn nicht mehr erkannte.
Mitunter war bei ihm Loyalität nicht von Sentimentalität zu unterscheiden (und er nahm´s nicht krumm, wenn man ihn darauf ansprach). So fuhr er Jahr für Jahr, „aus mir selbst nicht erklärlicher Loyalität zu Burkhard Hennen“, „ans Moers Festival, wie er zu sagen pflegte. Bis 2024, als Hennen lange durch den übernächsten Festivalchef abgelöst war, und das Festival ihm nicht nur körperlich Mühen bereitete.
Ja, Christian war sozial engagiert. In einer Szene, in der dieses Attribut schon dem/derjenigen zufliegt, der einem Stück Instrumentalmusik einen entsprechenden Titel aufpappt, muss noch eine weitere Eigenschaft herausgestellt werden.
Christian hatte eine mäzenatische Ader. Er war großzügig. Wo materielle Zuwendung helfen konnte, sprang er ein. Einem Musiker finanzierte er eine Zeitlang die Wohnung, er unterstützte Medien (auch jazzcity.de).
 In den letzten zehn Jahren wandte er sich vom Jazz ab; seine Urteile über unsere kleine Welt erschienen mir zu pauschal (wir haben selbstverständlich darüber gestritten) - trotzdem fuhr er nach wie vor auf „seine“ Festivals, saß in Moers, Willisau, Langnau, Zürich und Schaffhausen, immer ein Digitalrecorder in seiner Hand. Er hat im Hotel Konzerte  tatsächlich nachgehört.
mensch klima 0Er war politisch engagiert, im Großen und im Kleinen. Er veröffentlicht zwei 500-Seiten-Wälzer: „Wem gehört das Wasser?“ (2006) und „Mensch Klima!“ (2011). Er startet einen Klima-Blog.
Seit dem Ukraine-Überfall wohnt eine ukrainische Familie in seinem Haus. Und als sich eine Initiative bildet, die das Gelände sondiert, um Edward Snowden Asyl in der Schweiz zu gewähren, wer ist dabei?
Und wer führt das Wort, als 2020 „848 Petitionäre verlangen, dass die Gemeinde eine gemeindeeigene Beiz mit einem Pächter aus Erlenbach besetzt“? (Es geht um die Gastronomie im Schiffwartehäuschen in seinem Heimatort Erlenbach am Zürichsee; Tina Turner wohnte unweit, desweiteren Nils Wogram und Roger Federer).
Als im vergangenen Jahr eine junge Frau, deutlich unter zwanzig, eine große Demonstration in Zürich organisiert, da ist Christian sichtlich stolz, als man ihn darauf hinweist, dass in seinem ältesten Enkelkind eine gute Portion der Aufsässigkeit des Großvaters weiterlebt.
Christian gehörte in seiner Berliner Zeit zu denen, die Wolf Biermann in seiner legendären Wohnung in der Chausseestraße 131 aufsuchen konnten. Im November 2023 gelingt ihm die Reinszenierung des Zürcher Treffens von Biermann mit Franz Hohler vor zweimal ausverkauften Haus im Theater Rigliblick.

Lieber Chrigi! 
Obwohl ich von deinen Erkrankungen wusste, im Großen & Ganzen jedenfalls, trifft mich der Anlass für diesen Nachruf unvorbereitet. Ich schreibe ihn mit deiner Methode (wir hatten darüber gestritten): spontan, aus dem Moment heraus. In Trauer.
Ich hoffe, ich habe dich korrekt gezeichnet (wie ich dich sehe). Im Großen & Ganzen jedenfalls.

Seit Monaten liegt bei mir ein Buch, das ich für dich in einem deutschen Antiquariat erworben habe; vermutlich wegen der hohen Portokosten in die Schweiz, ich weiß es nicht mehr.
Adel S. EliasWer wirft den letzten Stein? Der lange Weg zum Frieden im Nahen Osten“, 1993. Ein alter, nach wie vor prophetischer Titel. In diesem Frühjahr, spätestens beim Schaffhausen Festival im Mai, wollte ich es überreichen.
Ich werde es zur Beerdigung am 2. Mai mitnehmen.
Apropos Schaffhausen. Ein Festival ohne den Rentsch.
Das können sich manche gar nicht vorstellen. Das müssen sie jetzt einüben.
Christian Rentsch, geboren am 30. Oktober 1945, verstorben am 12. April 2025 in Erlenbach bei Zürich. Er wurde 79 Jahre alt.

Foto: Christian Rentsch am 10.10.21 im Museum Ludwig, Köln
erstellt: 14.04.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

Monheim Triennale II - The Festival 2025

Die Monheim Triennale II kündigt sich an: The Festival.
Und es gehört wenig Prophetie zu der Annahme, dass sie zumindest medial im Schatten der Vorgängerin stehen wird: The Prequel.
Das dürfte weniger nachteilig sein, als es zunächst klingt, sind doch beide Events im Kern von demselben Personal geprägt. Nämlich jenen 16 signature artists, die 2024 zu „The Prequel“ eintrafen, zum gegenseitigen Kennenlernen; musikalisch in einer eher improvisatorischen Haltung.
Anfang Juli 2025 kehren sie zurück zur Hauptsache der Monheim Triennale II, „The Festival“, nun mit eigenen Projekten, in die auch Erfahrungen aus der „Werkstattausgabe“ 2024 einfließen sollen.
Am nachhaltigsten dürfte sich das in den „lokalen Kooperationen“ abbilden, einem weiteren Spezifikum dieses Festivals. Seit 2019 ist dazu vor Ort ganzjährig ein Artist in Residence präsent, der Bassist Achim Tang, der internationale Künstler in die lokale Musikwelt einbindet.
Deshalb saß bei der Programmpressekonferenz auch Edith Langgartner mit am Tisch, die Fachleiterin der Orchesterklasse an der Musikschule Monheim (an den Schulen der Stadt lernen 60 Prozent der SchülerInnen ein Instrument).

PK Monheim 2025   1

PK live in Monheim & New York City: Julia Úlehla, Edith Langgartner, Daniel Zimmermann, Reiner Michalke, yuniya edi kwon

 Langgartner & Tang werden im Hauptprogramm, am 4. Juli auf dem Festivalschiff, die künstlerischen Schnittstellen sein zwischen den lokalen Kräften und z.B. der New Yorker Violinistin yuniya edi kwon. Das Stück, das sie für diesen Anlass komponiert hat (mit dem improvisations-ästhetisch wunderbaren Titel „dance until you know what is is“), ist Folge aus einer ersten Begegnung im vergangenen Jahr.
Erneut beteiligt daran der New Yorker Multiinstrumentalist Shazad Ismaily. Der einzige Künstler, der on & off stage über eine Art Dauerkarte verfügt, in kleinen oder größeren Rollen wuselt er seit den ersten Festivaltagen durch das Gelände der "tiny town".
Shazad kann die Ortsangabe „Monheim am Rhein“ inzwischen fehlerfrei und mit geradezu theatralischer Inbrunst aussprechen.
Das tut er in „Every note you play“, einer Doku über die letztjährige Triennale II („The Prequel“) von Mika Kaurismäki.
Der Trailer wurde auf der Pressekonferenz vorgestellt, er steht nun auch im Netz.

Videos   Monheim Triennale

Der vollständige Film (82 Minuten) kommt im Sommer in Arthouse Kinos und wird im Herbst auf Arte ausgestrahlt. Er dürfte auf ganz eigene Art ein Bild der zeitgenössischen Musik zeigen, wie sie Festivalintendant Rainer Michalke in „brutaler Dichte“ für sein Festival reklamiert.
Das klappt seit 2020 ganz gut in der 43.000-Einwohnerstadt. Die Kooperation mit dem Bürgermeister der Stadt Monheim funktioniert wesentlich reibungsloser als die mit früheren Stadtspitzen in Michalkes jahrzehntelanger kuratorischer Tätigkeit (Stadtgarten Köln, Moers Festival).
Im September 2025 aber sind Kommunalwahlen in NRW. Daniel Zimmermann, immer noch erst 42 Jahre alt, kandidiert nach drei Legislaturen, nach 16 Jahren, nicht mehr für das Bürgermeisteramt. Ob sein jetziger Stellvertreter aus der gleichen Partei (Peto), Lucas Risse, gegen die parteilose Sonja Wienecke, aufgestellt von CDU, SPD, FDP und Grünen, obsiegen kann, ist ungewiß.
Immerhin bleibt Zimmermann der Lokalpolitik erhalten (und damit unter den Unterstützern), er kandidiert für einen Sitz im Stadtrat. Er verweist zudem auf den seinerzeit einstimmigen Ratsbeschluß pro Triennale. Freilich kann ein künftiger Stadtrat anders entscheiden; im schlimmsten Falle stünde der Intendant (dessen Vertrag bis 2029 läuft) ohne Etat da. Oder, um im aktuellen Bild zu bleiben, als Kapitän ohne Schiff.
Die MS Rheinfantasie, das Festivalschiff, ohnehin nur ein Ausweichquartier (allerdings optisch und akustisch gut geeignet), wird in diesem Jahr zum letzten Mal an Rheinkilometer 714 ankern. Die Triennale III, nach Monheimer Definition von „Triennale“ mithin 2026, würde mit anderen räumlichen Anforderungen starten, nämlich als The Sound, also im weitesten Sinne mit Klangkunst.
Jetzt aber kommen erst mal die 16 signature artists von Triennale II The Prequel zu Triennale II The Festival; erweitert um die von ihnen ausgewählten MitspielerInnen dürften es insgesamt über einhundert an den fünf Spielstätten des Festivals werden.
Solistisch oder genauer: solitär, wie im vergangenen Jahr, dürfte Terre Thaemlitz agieren. Formatsprengend auch, aber in einem eminent positiven Sinne, Peter Evans, ein Kernkünstler mehrerer Monheim-Jahre.
Der New Yorker Trompeter folgt mit einer Gegeneinladung aus der Triennale I der schwedischen Vokalistin Sofia Jenberg, dazu bringt er in einem Septett einen potenziellen Signature-Kandidaten mit, den Schlagzeuger Tyshawn Sorey.
Evans´ Projekt, das zur Referenz eine Bach-Kantate hat, ließ sich planerisch partout nicht in das strikte Monheim-Korsett von 40 Minuten einpassen. Also räumte man ihm am Folgetag ein „Part II“ ein.
Es wird dies wie etliche andere Projekte eine Weltpremiere sein; viele darunter audio-visuellen Charakters. Gar manche lesen sich in der Vorankündigung als geboren aus sehr individuellen Befindlichkeiten. Inwieweit diese darüber hinaus auch einen gesellschaftlichen Anspruch tragen und/oder gar große Kunst sind, wird die spannende Frage zwischen dem 2. und 6. Juli 2025 sein. In Monheim am Rhein.
Das vollständige Programm hier.

erstellt: 22.03.25
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Roy Ayers, 1940-2025

Roy ayers 1976Es gibt Jazzmusiker, die - zumindest streckenweise - mehr außerhalb des Jazz diskutiert werden also innerhalb. Ramsey Lewis gehört dazu, Eddie Harris, der späte George Duke und sicher auch Roy Ayers.
Er gehört zu den meist-gesampelten und -remixten Vertretern des Jazzfunk (der Einstufung von Wikipedia mag man folgen).
Der Legende nach hat er seine ersten Mallet-Stöcke im Alter von fünf Jahren von Lionel Hampton geschenkt bekommen. Aufgewachsen ist er in South Central Los Angeles, gin auf die Thomas Jefferson Highschool, die vor ihm z.B. auch Dexter Gordon besucht hatte.
Dort spielte er neben Vibraphon auch Gitarre und Klavier, von einem Studium ist nichts überliefert. Seinem Start als Postbopper 1962 folgte bereits ein Jahr später seine Debüt „West Coast Vibes“.
1966 schließt er sich dem Flötisten Herbie Mann an; der Höhepunkt ihrer Zusammenarbeit, „Memphis Underground“ (1969), ungeheuer populär und einflussreich, klingt heute kaum weniger überzeugend.
Es ist Genre-Musik, so wie vieles später von Ayers´ eigenen Ubiquity-Projekten: handwerklich gut gemachgt, die die Mode der Zeit auf einen gemeinsamen Nenner bringt.
Das kommt gut an, ist fraglos unterhaltsam, reicht aber sicher nicht für einen Eintrag in den jeweiligen (Jazz)Kanon der Zeit; dafür befindet sie sich zu weit außerhalb.
Vieles von Ayers lässt sich umstandslos diversen Soul-Moden zuordnen, so ganz sicher auch sein größter Hit „Everybody loves the Sunshine“ (1976).
Roy Edward Ayers Jr., geboren am 10. September 1940 in Los Angeles, starb am 4. März 2025 in New York City. Er wurde 84 Jahre alt.

erstellt: 06.03.25
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„Die vulnerable Gesellschaft“ > Jazzfans in London

Die Metropolitan Police (im deutschen Sprachgebrauch: Scotland Yard) hat eine sehr spezifische Opfergruppe ausgemacht:
„Jazzfans, die den Veranstaltungsort spät in der Nacht verlassen, zur Zielscheibe für illegale Taxis werden könnten, die ´verletzliche, betrunkene, alleinstehende Frauen ausnutzen´ sowie Handy-Diebstähle zum Ziel haben“, wie sie der Londonder Standard zitiert.
Es handelt sich nicht um vergangene, sondern um zukünftige Verbrechen.
Gym Box LondonAuch deren Ort ist bereits bekannt: 42 - 49 St Martin's Lane, London WC2N 4EJ, ein seit 2023 leerstehender Fitnessclub, unweit Trafalgar Square.
Dort will das Blue Note New York eine Dependance mit 350 Sitzplätzen einrichten, nach Rio, Tokio, Los Angeles, Beijing, Shanghai unbestritten eine weitere top Adresse.
Die Polizei ist dagegen, der Bürgermeister von London (City Hall) dafür. Er unterstützt das Projekt gegenüber UK Jazz News mit folgenden Worten:
Grassroots venues bieten eine Plattform für aufstrebende Künstler und geben dem Publikum die Möglichkeit, Musik in intimen Räumen zu genießen. Der weltberühmte Blue Note Jazz Club wird eine fantastische Bereicherung für das Nachtleben und die Kulturszene im West End sein, und City Hall steht in Kontakt mit den Betreibern, um jede mögliche Unterstützung anzubieten.“
(Aufschlussreich im Land von handy- und no go-Denglisch dürfte der Terminus grassroots venues für Clubs, also auch Jazzclubs, sein.)

Die Clubdichte in der britischen Hauptstadt, so zitiert der Standard wiederum das Bürgermeisterbüro, habe sich von 144 (2007) auf 94 (2016) reduziert. Eine andere Untersuchung kommt zu dem Schluss, das im UK pro Woche ein grassroots venue dichtmacht.
Kern des Problems ist offenbar gar nicht das Blue Note oder Jazz per se, sondern die Öffnungszeit: täglich nicht bis 11 pm, sondern 1 am, bei voller Alkohollizenz, wie sie ein namentlich nicht benannter Anwohner vorgebracht hat.
Eine online Petition auf change.org ist eingerichtet; sie hat die Zielmarke von 1.000 Stimmen binnen kurzem erreicht - aber offenbar (noch) nicht das erwünschte Ziel, die Öffnungszeit nicht auf 23 Uhr zu beschränken.
Damit der „significant threat to the talent pipeline”, wie es so schön in der Studie des Music Venue Trust heisst, die erhebliche Bedrohung für die nachrückenden Talente, sich nicht noch mehr ausweite.

PS (26.03.25): In einem Interview mit Sky News kündigt Steven Bensusan, Chef von Blue Note Entertainment, an, Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Stadtrates von Westminster City einzulegen, die Öffnungszeit der neuen Filiale auf 11pm zu beschränken:
"In jeder Stadt, in der wir jemals einen Club eröffnet haben, haben sie  uns den roten Teppich ausgerollt und wirklich versucht, mehr als das zu tun und uns dort zu haben, weil sie wissen, dass wir gut für die Wirtschaft sind. Wir schaffen eine Menge Arbeitsplätze und bringen nicht nur das Nachtleben, sondern auch ein kulturelles Ereignis in die Stadt. Sowas habe ich noch nie erlebt.“

erstellt: 16.02.25, aktualisiert 19.02.25
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Mike Ratledge, 1943-2025

Ratledge FotoWer ist Kult?
Es dürfte müßig sein, diesem schwammigen Begriff mit einem halbwegs festen definitorischen Konzept ein wenig Gültigkeit zu verschaffen.
Aber, hey, dieser Fall drängt sich geradezu auf! Er bietet sich an als Realdefintion von Kult.
Verehrt wird ein Künstler, von dem man zum Zeitpunkt seines Ablebens fast 50 Jahre lang keinen Ton mehr gehört hat, „der als künstlerisch wertvoll gelten könnte“.
Ein Künstler, der von vielen, die altersmäßig durch die Vorwahlen 6 und 7 zu erreichen sind, regelrecht vermisst wird. Seit Jahrzehnten. Die Aktivitäten auf facebook sprechen Bände.
Dabei konzentriert sich die Verehrung auf ein kleines Zeitfenster seines Lebens, geöffnet vom Frühjahr 1969 bis zum Frühjahr 1976. Das Zeitfenster beschreibt einen frühen Höhepunkt einer Band, die er dann nach sieben Jahren wieder verlässt.
In dieser Zeit hat diese, Soft Machine, den britischen Jazzrock von der Rockseite her umgekrempelt. Nicht unwesentlich, weil er dabei (nicht als einziger, aber als prägender) auf der elektrischen Orgel einen Sound entwickelt, der mit „Wespe im Gehirn“ metaphorisch gut erfasst ist. Er artikuliert sich in an- und abschwellenden Klangflächen, aber auch Cluster-Ballungen;  in langen Soli mit sicherem timing und mitunter Saxophonartiger Phrasierung. Ein Faszinosum!
Die meisten, die an diesem oft sehr eindrücklichen Klangbild mitgewirkt haben, sind verstorben: Kevin Ayers, Hugh Hopper, Elton Dean, Allan Holdsworth, John Marshall. Sie haben sich später, unabhängig vom Gruppenmythos, auch als individuelle Künstler behauptet.
Die Gruppe schleppt sich, mit anderem Personal, auch heute noch über die Bühnen. Sie könnte den Namen auch fallenlassen; ihr haftet, selbst wenn sie im Katalog der legendären Stücke blättert, nichts mehr von deren Magie an.
Wer sich nach den Umständen ihres Entstehens erkundigt, nach den Bewegkräften des Mythos, im Zeitfenster der späten 60er und frühen 70er, der kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er stösst auf ein Dickicht von Widersprüchen, Animositäten, ja Gegnerschaften auf engstem Raum - dem große Kunst entsprungen ist. Against all odds.
Wer nach einer Fortsetzung dürstete, wer sich nicht damit abfinden konnte, dass die bewegende Zeit nur noch in Tonträgern verschlossen vorliegt, der musste - wenn er überhaupt etwas wahrnehmen konnte - sehr viel später mit Befremden lesen, dass der verehrte Künstler die schönen Zeiten in die Tonne trat:
„Ein Teil des Problems mit Soft Machine war, dass man sich völlig in einem bestimmten Stil gefangen fühlte. Es war eine ziemliche Erleichterung, in die Werbemusik einzusteigen, wo es möglich ist, in einer großen Bandbreite von Stilen zu arbeiten. Etwa eines von drei Projekten ist interessant.“
Wer die Schallwellen, die hier angesprochen und vorsichtig gefeiert werden, zur Kenntnis nehmen konnte, verstand die Welt nicht mehr.
Etheridge Ratledge.pngSein Achtzigster wurde gefeiert vor knapp zwei Jahren - der Künster war nicht anwesend.
Heute kommt von John Etheridge, einem der aktuellen Namensträger von Soft Machine, mit dem er sich alle paar Wochen noch traf, die Nachricht auf facebook:
Michael Roland Ratledge geboren am 6. Mai 1943 in Maidstone/Kent, verstarb am 5. Februar 2023 in London. Er wurde 81 Jahre alt.

erstellt: 05.02.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

DLF Milestones zum 80. von Mike Ratledge

Soft Machine in Bilzen/B 1969

Mike Ratledge Interview 1974

 

 PS (11.02.25)
PS: War der Tod von Mike Ratledge (fast) exklusiv ein deutsches facebook Phänomen?
Das Großfeuilleton nahm nicht von ihm Kenntnis, seine kleineren Ableger ebenfalls nicht. Noch verwunderlicher: nichts bei UK Jazz News oder Richard Williams´ blog bluemoment.
Zwei britische Tageszeitungen zogen nach, nicht unter Culture oder Music, sondern - was die Zeitverzögerung erklärt - unter „obituaries“/Nachrufe:
Der Guardian sowie der Telegraph.

Siegfried Schmidt-Joos, 1936-2025

Freejazz Tv Miller 1

Radio Bremen, WDR, Rias, SFB, twen, Der Spiegel, Gondel (für die Nachgeborenen: Bikini-Frauen auf dem Cover), der Band „Es muss nicht immer FreeJazz sein“, die „historically speaking“-Kolumne im Jazz Podium…
Aber vor allem: die TV-Debatte „Free Jazz - Pop Jazz. Unverständlich oder Populär?“ von 1967, ein Dauerbrenner auf YouTube - auch deshalb, weil sie ewig die Frage wachhält: „Ist der Diskurs heute wirklich besser?“
Doch das ist nur seine jazz side of things.
Damit sind noch gar nicht seine anderen Seiten angetippt, seine Neigung zu Schlager, Chanson, Popmusik generell und last not least, sein „Rock Lexikon“, ab 1973 fff.
SSJ war ebenso der elder statesman der deutschen Jazzpublizistik wie auch seiner Pop-Anverwandten.
Er war durch und durch eine Blüte der Sixties; schon seine ersten beiden Bücher, beide von 1960 („Geschäfte mit Schlagern“ und „Jazz - Gesicht einer Musik“) sprechen Bände über die Zwei-, nein Vielgleisigkeit seiner Interessen.
Nebbich, nun darüber zu resümieren, ob er jeweils die Nase im Wind oder - noch törichter -: ob er immer recht hatte.
Viel entscheidender, der Mann konnte reden. Und schreiben.
Er war ein Stilist. Dessen Blüten jahrelang in Zitaten weiterlebten (beispielsweise die von den „Zerr- und Splitterklänge“, über die sich Volker Kriegel fortwährend lustig machen konnte).
Goodbye Siggi.
Siegfried Schmidt-Joos, geboren am 17. April 1936 in Gotha), verstarb am 3. Februar 2025 in Berlin. Er wurde 88 Jahre alt.

erstellt: 04.02.25
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Jazz Grammys 2025

Best Jazz Performance
“Walk With Me, Lord (SOUND | SPIRIT)” by The Baylor Project
“Phoenix Reimagined (Live)” by Lakecia Benjamin ft. Randy Brecker, Jeff “Tain” Watts and John Scofield
“Juno” by Chick Corea and Béla Fleck
 “Twinkle Twinkle Little Me” by Samara Joy ft. Sullivan Fortner
"Little Fears” by Dan Pugach Big Band ft. Nicole Zuraitis and Troy Roberts

Best Jazz Vocal Album
Journey In Black by Christie Dashiell
Wildflowers Vol. 1 by Kurt Elling and Sullivan Fortner
A Joyful Holiday by Samara Joy
Milton + Esperanza by Milton Nascimento and Esperanza Spalding
My Ideal by Catherine Russell and Sean Mason

Best Jazz Instrumental Album
Owl Song by Ambrose Akinmusir
Beyond This Place by Kenny Barron 
Phoenix Reimagined (Live) by Lakecia Benjamin
Remembrance by Chick Corea and Béla Fleck
Solo Game by Sullivan Fortner

Best Large Jazz Ensemble Album
Returning To Forever by John Beasley and Frankfurt Radio Big Band
And So It Goes by The Clayton-Hamilton Jazz Orchestra
Walk A Mile In My Shoe by Orrin Evans and The Captain Black Big Band
Bianca Reimagined: Music For Paws And Persistence by Dan Pugach Big Band
Golden City by Miguel Zenón

Best Latin Jazz Album
Spain Forever Again by Michel Camilo and Tomatito
Cubop Lives! by Zaccai Curtis
COLLAB by Hamilton de Holanda and Gonzalo Rubalcaba
Time And Again by Eliane Elias
El Trio: Live in Italy by Horacio ‘El Negro’ Hernández, John Beasley and José Gola
Cuba And Beyond by Chucho Valdés and Royal Quartet
As I Travel by Donald Vega ft. Lewis Nash, John Patitucci and Luisito Quintero

Best Alternative Jazz Album
Night Reign by Arooj Aftab
New Blue Sun by André 3000
Code Derivation by Robert Glasper
Foreverland by Keyon Harrold
No More Water: The Gospel Of James Baldwin – Meshell Ndegeocello

Mike Miller, 1953-2025

Gallery   Mike MillerZu den Sprachbildern, mit denen der Jazzautor Michael Naura (1934-2017) (s)einen eigenen Rang begründete (und derer sich jazzcity.de sehr gerne bedient), gehört die Position „…liegt sehr gut im Mittelfeld“.
Diese Beschreibung, vom Autor vermutlich mit dem ihm eigenen Sarkasmus beschwert, lässt sich mit Hilfe eines noch größeren Geistes (HM Enzensberger) durchaus von ihrem Ballast befreien und im vorliegenden Fall ins Positive wenden.
Der englisch-sprachige Wikipedia-Eintrag von Mike Miller ist weitgehend identisch mit mit der „Bio“ auf seiner Homepage. Man erfährt so gut wie nichts über die Umstände, unter denen er sein Instrument erlernt hat, sondern sieht ein eindrucksvolles Namenspanorama derer, denen er als Gitarrist gedient hat.
Von Larry Coryell, Robben Ford, Bill Frisell und den Fowler Brothers in den frühen 70ern, über 11 Jahre Pop bei Gino Vannelli und eine Studio-Session mit den Yellowjackets in den 80ern, nämliches später bei Chick Corea Elektric Band II („Paint the World“, 1993) und Vinnie Colaiuta (1994).
Später folgen Zappa-Orchesterinterpretationen sowie ein Gitarrenpart bei Mark-Anthony Turnage („Blood on the Floor“). 
Dass er, wie die jazzguitarsociecty suggeriert, ein „guitarist’s guitarist“, dürfte arg übertrieben sein, zutreffend aber sicher der zweite Satzteil, wonach er „one of the most sought-after and respected players in Los Angeles“.
Eben, ein sehr funktionaler Musiker; es macht Spaß, sich den einen oder anderen name job noch einmal anzuhören, vor allem „Paint the World“.
Er selbst pflegte eine Art Westcoast Jazzrock bis zuletzt, z.B. „Trust“ (2022) mit allerlei ex-Zappa- und ex-Corea-Personal. Wohingegen sein allerletztes Album „Every Breath, Every Step“ (2024) ununterscheidbar im Mainstream Rock versinkt.
Peinlich wie seinerzeit im Falle Tony Williams „Young at Heart“ (1996), der fast zeitgleich an einem Herzinfarkt verstarb, dass das Cover von „Every Breath, Every Step“ unter den Gegenständen an einem Strand ein Todeskreuz zeigt.
Mike Miller, geboren am 8. Mai 1953 in Sioux Falls/SD, starb am 18. Januar 2023 an einem Herzinfarkt. Er wurde 71 Jahre alt.

 erstellt: 19.01.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

Auch Jazzmusiker unter den Geschädigten in LA

Bei den Waldbränden in Los Angeles heisst es nicht mehr nur „Stars in Gefahr“, die Katastrophe bekommt nun auch weniger prominente Gesichter, die Gesichter von Jazzmusikern.

Maupin Haus

In diesem Haus in Altadena hat Bennie Maupin, 84, 25 Jahre lang gewohnt, ein Bereich in L.A., der seit den 60er/70er Jahren von Jazzmusikern bevorzugt wird.
Das Eaton Fire hat nicht nur Maupins Haus zerstört, verloren sind Dokumente aus 70 Jahren Familiengeschichte, Instrumente, das Auto; der einst bei Herbie Hancock gefeierte Baßklarinettist konnte nichts als sein Leben retten, wie sein Sohn Toussaint in einem Spendenaufruf schreibt.

Bobby BradfordDas gleiche Schicksal, gleichfalls in Altadena, ereilte den Trompeter Bobby Bradford, 90, und seine Frau Lisa. Auch im Falle des früheren Ornette Coleman-Mitstreiters gibt es einen Spendenaufruf, eingerichtet von einem langjährigen Kollegen, dem Gitarristen Karl Evangelista aus Oakland.
Die Zielmarken sind mit 60.000 bzw 65.000 Dollar recht bescheiden.

 erstellt: 15.01.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

 PS (18.01.25): Auch der Arrangeur Vince Mendoza (u.a. WDR Big Band) sowie der Bassist John Clayton und sein Sohn Gerald haben ihre Häuser durch die Brände verloren. down beat verlängert die Liste um etliche mehr, darunter Steve Lehman, Stanley Clarke, Jeff Lorber sowie der ex-Cannonball Adderley Schlagzeuger Roy McCurdy, 88.

 

Improviser In Residence, Moers 2025

Bart Maris c Benoit Van MaeleBart Maris, 60, aus Gent ist der neue Improviser In Residence in Moers.
Er ist der 18. in einer Reihe, in der seit 2008 nach der m/w/m/w-Regel eine Auswahl getroffen wird, und die auch Doppelbesetzungen kennt, beispielsweise 2021 die beiden Amerikaner Kevin Shea und Matt Mottel.
Der Trompeter und Kornettspieler übernimmt das Amt (damit verbunden auch ein Auftritt beim kommenden Moers Festival) von der Saxophonistin Virginia Genta sowie für die kommenden 12 Monate das Recht, eine neu geschaffene Wohnung in der Neustraße zu beziehen.
Die Ära prominenter Besetzungen liegt schon ein wenig zurück, denken wir beispielweise an Hayden Chisholm (2015), Julia Hülsmann (2014) oder Ingrid Laubrock (2012).
Mit Blick darauf, dass Maris das Festival von der Bühne her kennt und seit 2023 den Spielbereich „Wo die wilden Kinder wohnen“ betreut, scheint nunmehr nicht der große Künstler, sondern der anpassungsfähige Stadtmusikant gefragt.
Maris will die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den Fokus nehmen und sich jeweils wandeln nach dem Prinzip „Anderes Publikum - andere Musik“, wie er in einem Video betont.

erstellt: 12.01.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

Das Leben des Brian (Auger)...

…soll verfilmt werden.
Früher hätte sich mit dieser Nachricht eine Filmproduktion gemeldet, um damit zugleich auf einen Ausstrahlungstermin eines Auftraggebers, nämlich eines öffentlich-rechtlichen TV-Senders, zu verweisen; in diesem Falle wohl die BBC, vielleicht aber auch Arte oder eines der größeren deutschen Dritten Programme.
Those were the days, my friend
Heute kann man auf diesen Ausspielweg nicht mehr zählen (wir haben es selbst erfahren, vor Jahren, dass die angesprochenen Anstalten keine solchen machten, sich für eine größere Doku über Heiner Goebbels zu erwärmen.)
Heute läuft so etwas über crowdfunding, also die vorfristige Inanspruchnahme der Rezipienten.
Und also haben die beiden britischen Filmemacher Alfred George Bailey und Greg Boraman einen solchen Aufruf gestartet. Bis Ende Februar 2025 wollen sie für „Brian Auger - I speak Music“ (gar nicht so weit weg vom Stadtgarten-Slogan „We eat Music“) £ 225.000 einsammeln, zum jetzigen Zeitpunkt sind es 24 supporters mit £ 1.149.
Man möchte dem Projekt Erfolg wünschen angesichts einer Karriere, deren Höhepunkte zwar weit zurückliegen, die aber ein anschauliches Kapitel von swingin´ London entfaltet.
brian auger 1965Wer möchte nicht noch mal Brian Auger The Trinity & Julie Driscoll sehen & hören, oder Auger mit Rod Stewart (1965) oder anno 1972/73 den Oblivion Express mit der Rhythmusgruppe Barry Dean, bg, Lennox Laington, perc, Godfrey MacLean, dr.
Über allem, natürlich, das Orgelspiel eines Musikers, heute 85, der sich mit ikonografischen Zugriff auf die Hammond B 3 gegen die Dominanz der Amerikaner hat behaupten können.
Da gibt es Momente, wo einem schon mal die Haare zu Berge stehen können…

erstellt: 08.01.25
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