Irene Schweizer, 1941-2024

irene schweizer liveGanz sicher kann man in dieser Praxis auch die Bewahrung ihrer Würde erkennen:
nämlich darin, dass die wenigen, die in den letzten drei Jahren Zugang zu ihr hatten, über das, was sie dort sahen, nichts an die Öffentlichkeit gelangen liessen.
Der körperliche und geistige Verfall der berühmtesten Jazzmusikerin der Schweiz, er vollzog sich zeitversetzt zu den abklingenden Ovationen zu ihrem Achtzigsten sowie ihres letzten Albums („Celebration“, mit Hamid Drake, 2021).
Er schlich dahin an einem nicht ganz zufälligen Ort, im Zürcher Altersheim Bürgerasyl Pfrundhaus, auch bekannt als nachmittäglicher Spielort des Taktlos-Festivals, an dessen Gründung sie 1984 beteiligt war. Geleitet wird das Heim von der Partnerin des Gründers des Labels, das sie im selben Jahr mit angeschoben hat: Intakt Records.
Dass das Label, das den größten Teil ihrer über 75 CDs/LPs verlegt, nun von „the great personality of European Jazz“ spricht, ist keineswegs übertrieben.
Es lassen sich genügend Plädoyers dafür finden. Anthony Braxton zum Beispiel, nur vier Jahre jünger, sagt gleichwohl:
„I remember this great master when we were young“.
Und er betont in eher abstrakten Worten ihren Weg, der in der Tat ein steiniger war. Man kann viel darüber nachlesen, insbesondere in der Biographie von Christian Broecking („Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik“, Berlin 2016).
1964 zum Beispiel, als die Blue Notes aus Südafrika (unter ihnen Louis Moholo, mit dem sie später in einem ihrer bevorzugten Formate, dem Piano-Drums-Duo, auftrat) der Zürcher Damenwelt verfielen. Da erlebte sie Szenen, die heute einen shitstorm nach dem anderen hervorriefen:
„They all wanted to get me into bed, everybody was in love with me, all the time“.
Allerdings verfügte sie selbst über sehr effektive Abwehrkräfte als „authentic Lesbian as I am“; eine Orientierung, die ihr als Zwölfjährige erstmals aufgefallen war.
In Schaffhausen, da kommt sie her. In diesem Alter spielt sie, die Tochter eines Gastwirtes, die Handharmonika. In einem Nebenraum des elterlichen „Landhofes“ hört sie regelmäßig eine Jazzband proben. Sie wechselt daraufhin zum Klavier-, aber auch Schlagzeugunterricht.
George Lewis, in vollem Überschwang, spricht sehr viel später von den „political implications of Schweizer´s drumming“, will damit aber lediglich mit ihrer Handhabung des seinerzeit „ultimativen maskulinen Instrumentes“ den herausragenden Status ihrer Emanzipation in der damals nun wirklich patriachalen Jazzwelt markieren.
Sie war, im besten Kriegel´schen Sinne, eine „Einzelanfertigung“: in ihren Rollen als Frau, als überwiegende Autodidaktin, als ausgebildete Sekretärin.
Die lange Zeit noch dieser Tätigkeit nachging, um auch wirtschaftlich nicht vollends den Irrungen & Wirrungen der Jazzszene ausgesetzt zu sein.
1960, mit neunzehn, gewinnt das „Fräulein Schweizer“ einen Preis beim Zürcher Amateur-Jazzfestival.
Ein Konzert von Cecil Taylor 1966 in Zürich ließ sie zunächst eine Zeitlang verstummen, bis sie - von diesem Eindruck erholt - dann ihrerseits zum Free Jazz konvertierte, dem man sie zutreffend zuordnet, ohne dass sie sich gänzlich von Formen der Tradition (Blues, swing) gelöst hätte; eine Referenz zu Monk hielt sie immer aufrecht.
Sie trat solo auf, in etlichen Duo-Formaten, es gab eine afro-amerikanische Seite bei ihr (mit Don Cherry, John Tchicai u.a.), eine nominell-feministische (Les Diaboliques z.B.), sowie einen reichen Austausch mit der europäischen Jazz-Avantgarde.
Reserviert Irene Schweizer   1Sie wurde mit zahlreichen Preisen bedacht.
Die atmosphärisch würdigste Auszeichnung darunter, 2016 zu ihrem Fünfundsiebzigsten beim Jazzfestival in Schaffhausen, wo es schien, als werde sie von einer großen Abordnung aus der  Bürgergesellschaft ihrer Heimatstadt geehrt.
Ein Kabarettist (Michael Stauffer) hielt die Laudatio. Selten konnte man, wie dort, den Eindruck gewinnen:  die Jazzszene hat (endlich) eine Form gefunden zu feiern.
Das sollte sie auch in Zukunft tun:
Irene Schweizers Leben liest sich wie ein Rollenmodell, das man freilich nicht kopieren kann. Das aber als offenes Sinnbild stehen mag für einen individuellen, starken  Ausdruckswillen, against all odds - gegen alle Umstände.
Wenn es einen Albert Mangelsdorff Preis gibt - warum nicht demnächst auch einen Irene Schweizer Preis oder ein Irene Schweizer Stipendium?
Irene Schweizer, geboren am 2. Juni 1941 in Schaffhausen, verstarb am 16. Juli 2024 in Zürich. Sie wurde 83 Jahre alt.

Foto: Francesca Pfeffer/Intakt Rec. (Irene Schweizer)
erstellt: 17.07.24

©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten
PS Interview mit dem Schlagzeuger des Irene Schweizer Trios 1963-67, Mani Neumeier, in der September-Ausgabe des Schweizer Jazzmagazins Jazz´n´More.

Irene Schweizer (Dankesrede zum 75., Kammgarnfabrik, Schaffhausen, 26.05.16)

Ausgezeichnet

Der Jazz Pott wird seit 1998 in Essen verliehen.
EmpfängerInnen müssen nicht zwangsläufig in der im Titel ausgewiesenen geografischen Region siedeln oder gesiedelt haben.
Der Preisträger 2024, der 27. ingesamt, kommt ihr allerdings schon sehr nahe. Und aus - sagen wir - Berliner oder Münchner Sicht gehört Wuppertal einfach zum Ruhrpott dazu.
(Was die Hauptamtlichen im Revier, die viel-gescholtenen „Ruhr-Barone“ sowieso, mit Hilfe von Verbandskarten etc. zurückweisen können.)
Jan KazdaAuf dem kurzen Weg von der Wupper zur Ruhr haben die in Essen Verantwortlichen freilich die „stilistische“ Zuordnung des Ausgezeichneten Jan Kazda verunstaltet:

der Bassist und Filmmusikkomponist, geboren 1958 in Prag, seit Jahrzehnten in Wuppertal ansässig, repräsentiert demzufolge „die weniger bekannte Seite des ´Sound of Whoopatal´“.
Im Herzen dieses verebbten Sturmes, im Luisenviertel, wird man über dieses Etikett stolpern. Richtig lautet es Sounds like Whoopataal, stammt aus Amerika und bezeichnet die Szene der Brötzmanns und Kowalds. Mit der Kazda lediglich am Rande, als Mitglied von Hans Reichels Daxophon Quartett, assoziiert war.
Kazda vertrat parallel dazu Varianten des Jazzrock, u.a. in Das Pferd; und die Musik von Nino Rota aufzugreifen, noch dazu mit einem Streichquartett, wie er es heute tut, wäre den „echten“ Whoopataalern vielleicht bestenfalls als Zuhörer eingefallen.
Jan Kazda jedenfalls erhält den Jazz Pott 2024, dotiert mit 2.000 Euro, gestiftet vom Kabarettisten Hagen Rether.
Beim Preisträgerkonzert am 29. September im Grillo Theater Essen spielt er mit seinem Quartett und den Indigo Strings „The Music of Nino Rota“.

 

Foto: Silke Kammann
erstellt: 14.07.24

©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

 

Mika goes to Monheim (2)

Was für ein Schachzug!
Das Fernsehen hat die Dokumentation von Jazzfestivals weitgehend aufgegeben, das Radio reduziert gleichfalls.
Die Produktionen - man hielt sie jahrzehntelang für einen Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen - sind in ihrer visuellen Form stark und in ihrer akustischen bis auf einen doch noch deutlich wahrnehmbaren Sockel geschmolzen.
Kritik an ihrer Produktionsästhetik war ihr ständiger Begleiter: Kameras suchten den gerade erklingenden Solisten; hatten sie ihn denn gefunden, fuhren sie ihm fast in die Nasenlöcher, der Anblick einer vollständigen Künstlerperson bei der Arbeit, vor allem der improvisierten, ward den Zuschauern am Monitor meist vorenthalten.
Das Niveau der begleitenden Information: ein Grauen, Anbetung der Künstler statt Information, von ästhetischer Debatte ganz zu schweigen. Tiefpunkt auch hier: Moers, wo Arte seinen Ruf verspielte und das Kasperletheater distanzlos in alle Welt pustete.
Was für ein genialer Schachzug also, die Dokumentation eines Festivals (auch in ihren seltenen guten Momenten) nicht Handwerkern zu überlassen, die schließlich quasi namenlos durch den Abspann huschen, sondern die Dokumentation ihrerseits zu einem Kunstwerk zu machen!
Mika iphone   1Das Geniale der Entscheidung von Monheim Triennale-Intendant Reiner Michalke liegt nun darin, für die Dokumentation von The Prequel II (04.-06.07.24) einen Künstler zu verpflichten, dessen Ruhm (und hier dürfen wir durchaus einen Weltmaßstab anlegen) den von 15 der insgesamt 16 Monheim-PerformerInnen übersteigt (Ausnahme Heiner Goebbels).
Die Monheim Triennale, von der auch in den angrenzenden Städten Düsseldorf und Köln etliche unter den potenziell Vorbeschallten noch keine Vorstellung haben, wird also in ihrer Version The Prequel II  mit Bestimmtheit ganz andere Kreise ziehen.
Dank Mika Kaurismäki, 68, dem älteren der beiden finnischen Meisterregisseure-Brüder.
Mika war in Monheim, sah sich um in der Stadt, nahm Konzert- und also auch Drehorte in Augenschein. Auch an Rheinkilometer 714, wo alsbald die Hauptlocation, das Rheinschiff mit Hauptbühne, vertäut werden wird.
Improvisation ist ihm nicht ganz fremd. Er hat einen (Spiel)Film ohne Drehbuch gemacht ("Three Wise Men", 2008), etliche Musik-Dokus, aber keine über Improvisierte Musik oder in den Varianten, die ihn in Monheim erwarten.
Michalke hat ihm einen Berater zur Seite gestellt, den neulich pensionierten SWR-Jazzredakteur und Fortschreiber des Berendt´schen Jazzbuches, Günther Huesmann, 67. Dieser führte, gut vorbereitet und dramaturgisch geschickt, durch eine Pressekonferenz, die wie die Vorgänger demnächst unter den Monheim Videos zu sehen sein wird.
Erste Verblüffung: Mika spricht Deutsch, leise zwar, aber gut vernehmbar. Er hat es in den Jahren 1977-1981 in München gelernt, während des Studiums an der Hochschule für Film und Fernsehen (für das RW Fassbinder die Aufnahmeprüfung nicht geschafft hat).
Es war der zweite, der entscheidende Anlauf in die Profession. Ursprünglich war er nach München gekommen, um Architektur zu studieren. 15 bis 20 Filme pro Woche habe er damals im Filmmuseum gesehen, dabei täglich die Filmhochschule passiert, bis er schließlich dort doch anklopfte.
Der erste Anlauf ereignete sich im Herbst 1976 in Finnland. Mika hatte den Sommer über als Anstreicher gut verdient, im Overall betrat er einen Buchladen und erwarb die gerade erschienene „History of Cinema“, las sie mit der Konsequenz, Filmregisseur werden zu wollen, aber die Eltern….
Mika schaut Miriam   1

Günther Huesmann hat drei Filmausschnitte vorbereitet. Der erste führt in Kaurismäkis wohl berühmtesten Film „Mama Africa“ (2011) über die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba (1932-2008). Ein Interview mit ihr war verabredet, sie ist kurz vor Beginn der Dreharbeiten verstorben; der Ausschnitt in Monheim zeigt sie u.a. bei ihrer Rede vor der UNO in New York 1963.
Zwei weitere führen in die brasilianische Musik - ein begriffliches Dach für eine Vielzahl an Stilen, deren Namen die meisten wohl noch nicht gehört haben.
Huesmann zählt beiläufig ein Dutzend von ihnen auf, ein Dutzend neben Samba, darunter Choro, dem die Doku „Brasileirinho“ (2005) gewidmet ist.
Überhaupt Brasilien, Mika hat jahrelang in Rio gewohnt, hatte dort einen Musicclub, und neben seiner Tätigkeit als Filmregisseur, so Huesmann, habe er auch ein Händchen als Talentscout gezeigt. Mehrere Künstler, die als no names vor seine Kamera traten, hätten sich später zu Stars entwickelt.
Und dann Billy Cobham, kürzlich 80 geworden. Der (eine) frühe Superstar des Jazzrock-Drummings hat eine längsschnittartige, auch anekdotische Bedeutung für Mika Kaurismäki. Als Spät-Teen hat er sich auf einem selbstgebastelten drumset an „Spectrum“ (1973) abgearbeitet, sehr zum Mißfallen seiner Schwester - „sie hat Billy Cobham später geheiratet“.
Und dann „Sonic Mirror“ (2008), die Doku über Cobham. Der Ausschnitt hier ist besonders klug gewählt, er zeigt ihn inmitten von Streetkids, trommelnd und tanzend, in Bahia.
Und er zeigt - dass der Jazzmaster in diesem Moment erkennbar nicht weiß, wo die Glocken hängen, sprich: die Einsätze der collegas links und rechts bringen sein Rhythmusempfinden aus dem Takt.
Sie schiessen regelrechte Salven ab. Urplötzlich.

Mika schaut Cobham in Bahia   1In eineinhalb Stunden in der Festival-eigenen Villa am Greisbachsee entsteht ein unterhaltsames, informatives Kondensat aus dem umfangreichen Werk eines bedeutenden Künstlers.
Es beschreibt seine Vergangenheit. Seine Pläne für die unmittelbare Zukunft in der unmittelbarer Umgebung bleiben, notabene, wenig konturiert. Es hängt viel von anderen Handelnden ab, die sich mit voller Absicht dem Ungewissen, der Improvisation, überlassen werden.
Man verlässt die Villa in dem Glauben, dass Mika in seiner freundlichen Unerschrockenheit deren Treiben in den Griff kriegen wird.

erstellt: 03.06.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

 

Palle Danielsson, 1946-2024

Palle DanielssonMan könnte, in einer ersten Annäherung, ihn für den Ron Carter des europäischen Jazz halten.
In diesem Bild wäre sein Miles Davis Keith Jarrett.
Fünf Jahre, von 1974 bis 1979, war er in dessen europäischem Quartett, mit Jan Garbarek u.a.
Das Bild soll die enorme Vielfalt seiner Einsätze zum Ausdruck bringen.
Sie betreffen den europäischen Norden (Bobo Stenson, Lennart Aberg, Jan Gabarek, Karin Krog, Edward Vesala), die Mitte (Christof Lauer, Albert Mangelsdorff, in den 1990er Jahren John Taylor), den Süden (Enrico Rava, Rita Marcotulli, Michel Petrucciani).
Aber schon hinsichtlich seines Tones gerät das Bild ins Wanken: seiner war doch ein eher „poetischer“, ein „singender“, wie die FAZ meint, auf jeden Fall raumgreifender.
Und was die transatlantischen Engagements betrifft, stellt er die US-Referenz vollends in den Schatten.
1965, noch als Student an der Königlichen Musikakademie in Stockholm, ruft ihn Bill Evans in seine Band. Es folgen Charles Lloyd, Lee Konitz, Peter Erskine, Steve Kuhn, Marilyn Crispell und andere.
In einem allerdings ähneln sie sich doch: obwohl beide eigene Bands haben/hatten, ist/war ihre Hauptrolle doch die eines Sideman. Was großen Ruhm nicht ausschließt.
Paul „Palle“ Danielsson, geboren am 16. Oktober 1946 in Stockholm, verstarb am 18. Mai 2024 in Aker Styckebruk, südwestlich von Stockholm. Er wurde 77 Jahre alt.

 

Foto: Richard Kaby, Wikimedia
erstellt: 21.05.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

David Sanborn, 1945-2024

Pardon, dass dieser Nachruf mit einer Andekdote beginnt.
Zunächst aber zur Schreibbegleitung einen track aufgelegt: aus der Vielzahl an Möglichkeiten ein Stück aus „Songs from the Night before“, 1996, nicht mal eines seiner bedeutenden Alben.
Der track „D.S.P.“, ein ungemein groovender slow Shuffle, in dem der Altsaxophonist ganz auf lament, auf Wehklagen gestimmt ist, gedämpft, nicht als shouter.
„D.S.P.“ enthält sound-gimmicks des Tages (er war immer auch Kind seiner Zeit), Plattenrauschen, kurze Einwürfe von Orchestersamples. Das Stück startet mit Orgelfauchen, dann ein snare drum-Vorschlag und zwischendrin immer mal wieder fill ins, in der Ausblende schließlich zwei Triolen auf der snare, wie sie in dieser trockenen Eindringlichkeit überhaupt nur einer schlagen kann: Steve Jordan.

Steve Jordan bei David Sanborn, das bringt in Fahrt; als nächstes aufgelegt ihre funky Fassung von Ornette Colemans „Ramblin´“, aus „upfront“, 1992.
Die Anekdote. Sie spielt beim „Saxophondoktor“ Peter Neff (1937-2014) in Köln, in seiner Ladenwerkstatt unweit Groß St. Martin. Der Inhaber, urgemütlich, beliebt, ist gleichwohl genervt und deutet gegenüber einem Besucher auf die schalldichte Kabine in seinem Laden: „da übt jemand Sanborn-licks ohne Ende!“
Neff und der berichtende Besucher, seinerseits ein nicht unbekannter Saxophonist, schauen schließlich nach - es ist der Urheber, der, physiognomisch zunächst unerkannt, seine eigenen Muster an einem neuen Instrument übt.
david sanbornLicks like Sanborn, näselnd im Ton, häufig mit starker Blues-Inflektion, fast immer perfekt durchphrasiert, in Verwandtschft zu Hank Crawford (1934-2009), eine akustische Ikone:
"the most influential saxophonist on pop, R&B, and crossover players of the past 20 years“, wie ihn 2011 sein späterer Biograph Scott Yanow charakterisiert. Ein dieser Tage häufig bemühtes Zitat, in dem der Smooth Jazz fehlt (dem er mitunter auch verfallen ist), aber auch der „richtige“ Jazz.
Möglicherweise ist all dies aber auch in crossover player versteckt, denn mehr crossover dürfte nicht mal Michael Brecker (1949-2007) sich bewegt haben. In den frühen 70ern standen beide side by side bei den Brecker Brothers. Wobei Sanborn nach eigenem Bekunden nur einmal den Fehler beging, nach Brecker ans Solistenmikrophon zu treten, die Bühne sei danach „wie napalmisiert“ gewesen.
(Für Pianisten lautet der gleiche Positionseffekt, eher fiktiv, „nach Keith Jarrett spielen).
Er war ein Woodstock-Veteran (mit der Butterfield Blues Band am 18.08.1969), fast zu schweigen vom Monterey Pop Festival 1967 (ebenfalls mit Butterfield).
Seine kaum zu zählende recording list umfasst die Rolling Stones, Elton John, James Brown, Steely Dan, Gil Evans, Django Bates (jawoll, eine Fassung von „Life on Mars“ (David Bowie) auf „You live and learn…(apparently)“, 2003), nicht zu vergessen Ian Hunter in dem hypnotischen „All American Alien Boy“, 1976, mit Jaco Pastorius.
Sanborn ist für Mediziner insofern interessant, als die Empfehlung, ein Blasinstrument zu lernen, Teil einer Polio-Therapie war (Stärkung der Brustmuskulatur).
Noch interessanter dürfte er für die Verirrten der Kulturellen Aneignung sein:
Gebürtig in Florida ist er in St. Louis aufgewachsen, und zwar unter lauter - wie man heute weiß - namhaften POCs, wie sie heute zu sagen pflegen.
Er war mit Lester Bowie und dessen Ehefrau Fontella Bass privat. Er soll kurzzeitig das dritte Alt in einer Band mit Julius Hemphill und Oliver Lake gespielt haben. Sein größter Freund und Konversionspartner war Phillip Wilson (1941-1992). Mit dem schwarzen Drummer Wilson war der weiße Saxophonist Sanborn eine Zeitlang in der weißen Butterfield Blues Band.
Sein erstes eigenes Album erscheint 1975 „Takin´off“. Im Gegensatz zu dem gleichnamigen von Herbie Hancock, 1962, kann man jenem und auch den Nachfolgern in den 70er und 89ern kaum genre-prägende Wirkungen attestieren. Der New Yorker Funk-Adel, den er jeweils um sich scharen konnte, stellt hier sein doch sehr aseptisches Handwerk aus.
Sanborn war ein Instrumental-Stilist, kein Konzeptionalist.
Ein Wende stellte sich ein, als Marcus Miller als Produzent 1992 („upfront“) und 1994 („hearsay“) die Funk-Zügel straff zieht. Seine eindrücklichsten Grooves finden sich hier. Die Version von Ornette Colemans „Ramblin´“ ist ein spätes Echo auf die listening sessions in der Wohnung von Lester Bowie, Jahrzehnte zuvor in St. Louis.
Obwohl 2018 Prostatakrebs bei ihm diagnostiziert wurde, soll er bis zuletzt „his normal schedule of concerts“ beibehalten haben, u.a. für ein Konzert auf dem Festival von Till Brönner in Kampen auf Sylt. Der ikonische Charakter seines Altsaxophons erschien zunehmend als ein historischer.
David William Sanborn, geboren am 30. Juli 1945 in Tampa/FL, aufgewachsen in Kirkwood/MS, starb am 12. Mai 2024 in Tarrytown/NY an Prostatakrebs. Er wurde 78 Jahre alt

erstellt: 13.05.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Mika goes to Monheim - The Prequel II

Eine Triennale ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.
Anstatt ihrer nominellen Verpflichtung nachzukommen und nach einem lauten Auftreten in der Folge zwei Jahre lang zu schweigen (wie die MusikTriennale Köln, 1994, fff.) folgt sie, je nach Ort, einer jeweils anderen Auslegung der Zahl „drei“.
Bei der Ruhrtriennale/Festival der Künste versteht man darunter eine alle drei Jahre wechselnde Intendanz - bei jährlichem Spielbetrieb.
Die Monheim Triennale kennt bei ebenfalls jährlichem Spielbetrieb seit 2020 nur den Gündungsintendanten Reiner Michalke, ad lib. Und dazu ein gegenüber Michalkes Stadtgarten-Jahrzehnten erweitertes System von derzeit fünf KuratorInnen (wir kommen darauf zurück).
Die Monheim Triennale folgt - falsches Bild, aber nicht ganz falsch - einem Dreistufen-Modell. Im Juli 2024 läuft die Triennale II, und zwar The Prequel, der programmatisch eng verknüpfte Vorgriff auf die Hauptsache in 2025 (mutmaßlich wieder auf einem fest-vertäuten Rheinschiff, weil die Kulturraffinerie K714 dann noch nicht fertig sein wird.)
Auftakt zur Triennale II war im vergangenen Jahr The Sound, eine Klangkunstausgabe des Festivals (u.a. mit Robert Wilson), und aller Voraussicht nach wird die Triennale III in 2026 u.a. wiederum mit einer aus dieser Welt markanten Künstlerpersönlichkeit starten.
Das Tableau der 16 Künstler für The Prequel steht sein einigen Monaten fest. Inzwischen ist quasi ein 17. dazugekommen: Mika Kaurismäki, 68, der ältere der beiden berühmten Filmemacher aus Finnland. Er wird The Prequel II dokumentarisch begleiten.
Triennale II Goebbels   1Der andere Star unter den 16 auf der der Bühne (das Festival wirbt so mit beiden) ist der Ruhrtriennale-Chef der Jahre 2012-2014: Heiner Goebbels.
Ihm war zwei Wochen zuvor eine eigene Pressekonferenz im Stile einer Matinee gewidmet. Am selben Ort: in der Villa am Greisbachsee, inzwischen Büro der Triennale-Administration sowie Refugium für MT-Künstler.
Der renovierte Bungalow aus den 50ern ist auch mit einem Konzertflügel bestückt. Er kam weidlich zum Einsatz in dem Gesprächskonzert mit Thomas Venker, einem der Kuratoren; mehrfach um z.B. die frühen Jahre des inzwischen 71 Jahre alten Künstlers zu illustrieren:
Goebbels´ frühe Jahre in einer Kleinstadt in der Pfalz, Anfang und Mitte der 60er, wo dem jüngsten unter drei Brüdern das Hören der aktuellen Popmusik (Beatles!) auf wöchentlich einen Tag rationiert war. Im Radio.
Das häusliche Klavier - nicht etwa der Cassettenrecorder wie bei den Gleichaltrigen - wurde ihm dabei zum „Medium der Aufzeichnung“. Er geht zum Flügel und schlägt die Eingangstakte von „Lady Madonna“ an.
Und eben dort spielt er den langsamen Satz aus Bachs Italienischem Konzert, zum ersten Mal nach 58 Jahren, als er es in Landau öffentlich vortrug.
Die Wahl des Klaviers damals war keineswegs frei, sie ergab sich aus der Vervollständigung eines klassischen Trios, in dem Violine und Cello bereits durch die älteren Brüder besetzt waren.
„Lebensverändernd“ dann der Besuch der Donaueschinger Musiktage, 1971 der Auftritt von Don Cherry samt Entourage; 1972 John das Mahavishnu Orchestra in München. Zwischendrin die Klaviersonate von Alban Berg, eine der Sonaten von Scarlatti, er spielt sie an im Haus am Griesbachsee.
Heiner Goebbels ist nicht der große Improvisator, vielmehr ist „Improvisation der wichtige Weg, wie ich zu meinen Arbeiten komme“. Er gehört lange schon zu den Gebenedeiten, die lange vor der Niederschrift einer Komposition mit einem ganzen Orchester Unfertiges proben und diskutieren (!) können. Goebbels ist, nach eigener Auskunft, unbedingt ein Teamarbeiter.
Das dürfte ihn insbesondere an Monheim reizen. Als Ausblick auf seine Präsenz bei The Prequel II ruft er vom iPad die betörende Stimme eines armenischen Opernsängers ab und rankt improvisatorisch Akkorde drumherum.
Ob er das auch im Juli 2024 aufführen wird? Kann sein. Es könnte aber auch sein, dass er - sagen wir - dem Wunsch der schottischen Bagpipe-Spielerin Brìghde Chaimbeul entspricht und mit ihr im Duo oder in welcher Formation auch immer auftritt.
Bei The Prequel II können die 16 untereinander wählen, wen sie wollen; sie können miteinander reden, sie können proben - müssen aber nicht. Der gar nicht so klammheimliche Wunsche des Intendanten Michalke wäre erfüllt, wenn KünsterInnen ohne jede Vorbereitung auf die Bühne gingen.

Triennale II PK   1Trienale PK: Reiner Michalke, Shannon Barnett, OB Daniel Zimmermann, Rainbow Robert, Achim Tang (community artist)

Er trau ihnen alles zu. Und wenn´s mal klamm werden und kein Lüftchen sich regen sollte, kann immer noch Shahzad Ismaily intervenieren. Er ist die Inkarnation der wildcard des Festivals, der absolute Darling aller bisherigen Triennale-Durchgänge. Derjenige, der durch seine Präsenz die Performer zu Entscheidungen zwingt - auch wenn er dabei nicht die Rampensau geben muss.
Das Vertrauten in die Qualitäten der 16 Eingeladenden ist wirklich grenzenlos. Sie sind handverlesen aus einer in die Tausende gehenden Auswahl, vom Intendanten samt fünf KuratorInnen. Zwei von ihnen, zwei langjährig Erfahrene, Weitgereiste waren auf der Pressekonferenz per Video zugeschaltet: Jessica Hallock, NYC sowie Rainbow Robert aus Vancouver (die, für sie, nachts um Drei von der Atlantikküste her einen Toast auf diese auch für sie einmalige Veranstaltung ausbrachte).
Die fünf plus Michalke sieben diskursiv solange, bis 16 übrigbleiben. Jede KuratorIn stimmt auch bei den Vorschlägen der anderen mit, kann aber mindestens eine oder zwei „wildcards“ unwidersprochen durchbringen. Die letzte Entscheidung darüber liegt beim Intendanten Michalke („das ist kein demokratischer Prozeß“).
Ja, es hat Ablehnungen gegeben, kollektiv und auch seitens der Intendanz, darunter auch eine - wir würden gerne sagen - gehypte Künstlerperson (wir formulieren hier ausdrücklich geschlechtsneutral).
Diese 16 signiture artists sind nicht nur zur Prequel 2024 in Monheim, sondern auch in der Hauptsache 2025 - dann mit ihren eigenen Ensembles. Wobei auch solche, die sich 2024 ergeben haben werden - nicht ausgeschlossen sind.

erstellt: 20.04.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Deutscher Jazzpreis 2024

Der Deutsche Jazzpreis, 2024 zum vierten Mal verliehen und erstmals  in Köln, hatte ein Vorecho. Es kam aus Bremen eine Woche zuvor, von der jazzahead, der vorherigen Station.
Es war eine gute Nachricht:
Alexander von Schlippenbach erhält den Deutschen Jazzpreis 2024 für sein „Lebenswerk“.
Der Pianist hat gerade sein 87. Lebensjahr begonnen. Ihn zu ehren, ist ebenso berechtigt wie völlig unumstritten. Nur mit Hilfe seiner Ehefrau, der Pianistin Aki Takase, konnte er das Podium in Köln erklimmen. Das Publikum im E-Werk dankte ihm als einzigem unter den Ausgezeichneten mit standing ovations, ein bewegender Moment am Schluss eines langen Abends.

Jazzpreis 2024 SchlippenbachCniclasweber
„Meine Musik“, betonte er (und traf damit die exakteste terminologische Festlegung des Abends), „ist der Free Jazz“. Zwar werde weltweit mehr FreeJazz gespielt als je zuvor, aber „wir sind immer noch Underground - wenn auch sich etablierender, wenn nicht etablierter Underground; Fördergelder, Stipendien, das ist sehr schön“.
Der frühere Jazzrevolutionär musste selbst schmunzeln dabei, einzelne Lacher unterstützten ihn. Vielleicht stammten sie von den Durchblickern, die die Vergeblichkeit des „noch schöneren“ Wunsches des Preisträgers ahnten, "in naher Zukunft in unserem Medium, dem Rundfunk“ wieder mehr vertreten zu sein (mit Blick auf die Pläne der ARD ab Herbst 2024 eine unerfüllbare Utopie).
Es ging ein wenig unter in der Rührung des Augenblickes, dass Schlippenbach zugleich auch in einer weiteren Kategorie preisgekrönt wurde, in „Tasteninstrumente“.
Man mochte hier eine der kaum nachvollziehbaren Entscheidungen der Jury erkennen, die schon unter den Nominierten in dieser Kategorie heutige Neuerer wie Philip Zoubek oder Felix Hauptmann offenkundig überhört hat. Welche mit dem Geld für eine Nominierung (4.000 Euro), erst recht mit dem Preisgeld von 12.000 Euro sicher etwas hätten anfangen können.
Es waren, zugegeben, 2024 deutlich weniger fragwürdige Ehrungen als im vergangenen Jahr, wir erinnern z.B. an die leistungslose Auszeichnung an „Queer Cheer“.
Es waren aber auch deutlich weniger Kategorien; mehr WürdenträgerInnen als früher konnte man teilen, allen voran Petter Eldh unter "Saiteninstrumente".
Ohnehin senkte sich der Zeitgeist diesmal auf andere Felder. Der Begriff „afro-diasporisch“ wurde sogleich im Chi-Chi der Moderationen nivelliert, nicht besser erging es Großwerten wie „Demokratie“ und „Freiheit“.
Ergiebigste Quelle hier erneut die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, in einer Videobotschaft („Liebe Musikerinnen und Musiker, liebe Demokratinnen und Demokraten. Jazz bedeutet für viele Musiker:innen und Zuhörer:innen pure Freiheit“.)
Möglicherweise zeigte sich hier bereits ein Lerneffekt aus der Roth-Rezeption bei der Berlinale, wobei die Filmbranche ohnehin ganz anders mit der Ministerin umspringt als unsere kleine Welt. Ihre Vorstellung von einem „Raum für das respektvolle, für das zivilisierte Austragen von Kontroversen auch im Rahmen solcher Veranstaltungen“, (sie meint die Jazzpreis-Verleihung), war im Kölner E-Werk mit keinem Sinnesorgan zu erkennen.
Zu der von Claudia Roth suggerierten und auch in dieser Zeremonie durchgängig gepflegten Auffassung, Demokratie zeige sich in modellhafter Form, wenn unterschiedliche MusikerInnen auf der Bühne stehen, hat ihr Kollege aus gemeinsamen Zeiten im Präsidium des Deutschen Bundestages das Nötige gesagt.
Die Frage, ob er das Bild nachvollziehen könne, „ein Jazz-Trio sei Demokratie im Kleinen“, verneint Norbert Lammert.
„Demokratie ist ein Verfahren zur Herbeiführung von Entscheidungen. Am Ende zeichnet sich eine demokratische Entscheidung immer dadurch aus, dass unter unterschiedlich vorhandenen Positionen die Mehrheit sich durchsetzt. Ich weiß nicht, ob man das für den Jazz ernsthaft reklamieren kann“ (in: Anke Steinbeck. Auf der Suche nach dem Ungehörten. Köln, 2019).

Liste der PreisträgerInnen

Foto: Niclas Weber
erstellt: 19.04.24

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Casey Benjamin, 1978-2024

Casey Benjamin Nice 2012Für einen Jazz Poll wäre er wohl nicht in Frage gekommen. Dafür bewegte er sich zu sehr im off, im benachbarten Rhythm & Blues.
Keine Überraschung, dass er seine - aus Jazzperspektive - überzeugendsten Eindrücke in der Schnittmenge aus beiden hinterlassen hat, z.B. bei Stefon Harris („Evolution“, 2003). Oder, noch viel eindrücklicher, bei Robert Glasper.
Mit dessen Quartett Experiment war er auf Tour, auf dem Album „ArtScience“ (2016) gelangt sein spezifisches Talent zur vollen Reife.
Zuvorderst war das sein Umgang mit dem Vocoder. Er pflegte mit geradezu lasziver Hingabe den elektronisch modulierten Klang seiner Stimme, auf der Bühne unterstrichen mit einem großen Umhänge-Keyboard.
Das gelang ihm weit besser als seinem Vorgänger in dieser Disziplin, Herbie Hancock.
Unerreicht, wie er auf „ArtScience“ das süß-saure Melisma von Hancocks wohl größter Ballade („Tell me a Bedtime Story“) zelebriert - und es in einem Sopransax-Solo fortführt.
Das konnte er auch. Wenn nötig, war er mit einem druckvollen Altsaxophonsound zur Stelle, eindrücklicher als Terrace Martin, ein weiterer Hancock-Bewunderer.
„Er war der Inbegriff dessen, was es bedeutet, einzigartig und einmalig zu sein“, wird Robert Glasper vom Rolling Stone zitiert.
„Zu 99 Prozent meiner Karriere wurde ich gebucht, um ich selbst zu sein“, sagt Benjamin selbst 2018 in einem Interview.
Geboren wurde er in Brooklyn, die Eltern waren Immigranten aus Granada und Panama.
Den Texaner Glasper lernte an der New School in NYC kennen, ab Ende dere 90er Jahre spielten sie gelegentlich zusammen, ab 2004 im Experiment.
„Ohne ihn gibt es kein Robert Glasper Experiment. Die Welt hat einen Giganten verloren, und ich einen Bruder" (Glasper).
Casey Benjamin, geboren am 10. Oktober 1978, verstarb am 30. März 2024 (nach anderen Quellen am 31.03.24) nach einer Operation in Maryland. Er wurde 45 Jahre alt.

Foto: Dacoucou, Wikipedia
erstellt: 03.04.24

©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Jim Beard, 1960-2024

Jim BeardDass die Nachrufe auf ihn nun überschrieben sind mit „keyboardist for Steely Dan dies aged 63“ (Guardian) kommt nicht von ungefähr.
Seit 2008 stand er in deren, in Donald Fagens, Diensten, zuletzt im Januar dieses Jahres in Phoenix/AZ.
Ab Mitte der 80er bis in die 2000er Jahre gehörte er zur Grundausstattung des amerikanischen Jazzrock, angefangen bei Wayne Shorter („Phantom Navigator“), John McLaughlin und dem wieder erstarkten Mahavishnu Orchestra, Michael Brecker, John Scofield, Pat Metheny, Peter Erskine, mehrfach Mike Stern - you name them!
Ende der 80er legt er die ersten Tastenspuren für ein Talent, das die Eindrücklichkeit seiner frühen Jahre nie mehr erreicht hat: Vince Mendoza.
Kein Zufall, dass jener eine seiner besten Kompositionen, „Crossing Troll Bridge“, mit dem hypnotischen vamp-Thema (aus dem Album „Song of the Sun“, 1990) 2008 noch einmal mit dem Metropole Orchestra aufgeblasen hat.
2008, in der Rückschau kommt dem Jahr eine besondere Bedeutung zu, denn da bringt er unter „Pulse and Cadence“ und ausgewechselten Stücketiteln das famose „The Complete Rhyming Dictionary“ von 1992 neu heraus, die beste Handreichung für den Steely Dan-Kollegen und alten buddy aus gemeinsamen Zeiten an der Indiana University, den Gitarristen Jon Herington.
Dort hatte er Jazz bei David Baker und klassisches Piano bei John Ogdon studiert.
Die Konzentration von einem an etlichen Instrumenten interessierten Jugendlichen auf das Piano war zuvor in privaten Stunden bei George Shearing erfolgt.
Ein Mitschüler, der dem Meister gleichfalls über die Schulter schauen durfte, war … Fred Hersch.
Ab 1985 dann New York City; die folgenden zwei Jahrzehnte bringt  Peter Erskine in einem X-Nachruf so auf den Punkt:
„Jim war der Klebstoff und eine große Stütze bei so vielen Projekten.“
Er war ein keyboarder, ein Klangmaler, mit Flöten-haften Beimischungen, nicht unbeeinflusst hier & da von Zawinul, mit durchaus eigener Agenda, weniger ein Pianist.
Sanchez BeardIn den letzten Jahren hat er viel für TV & Film komponiert.
Der Kontakt zum Jazzrock riss nicht ab.
„Was für ein unvorhergesehener Verlust. Er war so eine sanfte Seele und ein wahnsinnig talentierter Künstler“.
Mit diesen Worten begleitet Antonio Sanchez einen Post auf X, mit einem Foto aus der Studiosession des kommenden Mike Stern-Albums, 2023, das ER produziert hat.

James Arthur „Jim“ Beard, geboren am 26. August 1960 in Ridley Park/PA, verstarb am 2. März 2024 in einem Krankenhaus in NYC
an einer nicht näher benannten, plötzlichen Erkrankung.
Er wurde 63 Jahre alt.

 

erstellt: 07.03.24
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Stabwechsel in Darmstadt

Heute beginnt ihr Arbeitsvertrag, am Montag, 4.3.24, wird sie ihren Arbeitsplatz in Bessungen beziehen:
Bettina Bohle ist die neue Leiterin des Jazzinstitutes Darmstadt.
Knauer im InstitutSie folgt auf Wolfram Knauer, 65, der Ende Januar in den Ruhestand verabschiedet wurde. Er hat das Institut sagenhafte 33 Jahre geführt.
Nicht mehr nur im barocken Kavaliershaus, sondern lange schon auch in angemieteten Räumen, beherbergt es eine der größten öffentlichen Jazzsammlungen Europas:
„80.000 Tonträger, mit Fachliteratur, Fotografien (50.000 Abzüge), 3.000 Plakate, 1100 Zeitschriftentitel mit mehr als 80.000 Einzelheften“, wie die FAZ vorrechnet, darunter die Sammlungen der SWR-Jazzredakteure Berendt und Wunderlich.
Die Bessunger Str. 88d in 64285 Darmstadt ist aber nicht nur ein Container für Archivalien, sie gibt einem lebenden Organismus Dach, mit Konzerten im - der visuellen Anmutung zum Trotz - gut klingenden Gewölbekeller, einer wechselnden Künstlerresidenz, einer Gesprächsreihe sowie dem zweijährlichen Jazzforum (an anderen locations der Stadt).
Wie überhaupt Knauer das Institut weit über die Wissenschaftsstadt Darmstadt auch international bestens vernetzt hat.
In den von ihm organisierten Jazzforen konnte man der ersten Garde anglo-amerikanischer JazzforscherInnen zuhören (John Gennari, Tony Whyton, Krin Gabbard, Scott DeVeaux, Sherrie Tucker).
Er selbst, der 1989 in Kiel über das Modern Jazz Quartet promoviert wurde, hatte als erster Nichtamerikaner 2018 eine Gastprofessur an der Columbia University in NYC; er gehört zum Beratergremium einer Jazzreihe bei Oxford University Press, an der Universität Mainz unterrichtet er Jazzgeschichte.
Neben Künstlerbiografien (Armstrong, Ellington, Parker) hat er eine Geschichte des deutschen Jazz gestemmt („Play yourself Man“) und - er beabsichtigt, als nächstes noch ein paar Pfund draufzulegen.
33 Jahre, eine komplette demografische Generation, vulgo: mehrere JazzmusikerInnen-Generationen - das dürfte auch bei extrem verschärftem Fachkräftemangel seiner Nachfolgerin nicht vergönnt sein.
Bettina Bohle Direktorin Jazzinstitut by Lena Ganssmann 02 scaled e1708684203190 1200x0Bettina Bohle ist von Jahrgang 1981, sie hat Musikwissenschaft, griechische Philologie und Philosophie studiert, war Lehrbeauftragte für Musikwissenschaft an der Uni Hildesheim und und zuletzt involviert in den langjährigen Anlauf um eine House Of Jazz in Berlin.
In Darmstadt kann sie sich einen Beirat für das Institut vorstellen, sie will „auf die anderen Kunstsparten schauen, auf die Theaterszene zum Beispiel“, wie sie dem Darmstädter Echo verrät.
Und ja, auch sie hat Binsen im Gepäck, wie sie heute zum Morgengruß vieler JazzaktivistInnen gehören:
„Jazz und improvisierte Musik dürfen sich nicht von aktuellen gesellschaftlichen Themen abkapseln wie Diversität, Nachhaltigkeit und Rechtsruck.“
Ob sie die bis dato intellektuell in Bodennähe torkelnde Debatte auf Flughöhe bringen kann? Abwarten.
Eine erste Kostprobe jedenfalls, in dem vor drei Tagen erschienenen Band 18 der „Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung“, lässt Lesefreude aufkommen. Wohltuend, dass da endlich jemand ihren (Ludwig) Wittgenstein kennt und das Thema „Genre & Jazz“ in einer „sprachpragmatischen Annäherung an eine hitzige Diskussion“ cool auszuleuchten vermag.
Wo doch wenige Seiten zuvor ein essentialistischer Eiferer ausruft, wir befänden uns „in einem post-Genre Moment“ und seinen Hoffnungen ein „Ich fühle mich wohler damit…“ voranschickt.
Zu wünschen wäre auch, dass sie eine Handreichung ihres Vorgängers beibehielte oder (wie zu hören) vielleicht in anderer Form fortführte: die JazzNews, einen mitunter wöchentlichen newsletter, der sehr neutral auf Artikel zum Jazz verweist, mitunter bis hin zu amerikanische Provinzzeitungen.
Wie gesagt, Wolfram Knauer. Der hat im Ruhestand nicht weniger vor, als den Berendt zu geben, ja wirklich:
eine Geschichte des Jazz zu schreiben.
Hoffen wir, dass er nicht in einer Sisyphos-Arbeit verharrt.

Fotos: Lena Ganssmann (Bohle), Stephanie Castillo (Knauer)
erstellt: 01.03.24
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Gratismut im Ländle


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 Ob die Stuttgart Jazz Open „in der Champion League der europäischen Jazzfestivals bleibt“, wie es der Lokalstolz einer Lokalzeitung befiehlt, das wird man außerhalb des Postleitzahlbereiches „7“ vermutlich weniger emphatisch unterstützen.
Und sich doch eher wundern, dass ein Festival, das zu seinem 30. Geburtstag mit Herbert Grönemeyer, Lenny Kravitz, Sam Smith und Sting protzt, überhaupt noch den Minderheiten-Gattungsnamen im Titel führt.
Doch, es gibt auch Jazz, und es hat auch Jazz gegeben in Stuttgart, z.B. bei der Premiere 1994 Ornette Coleman, Pat Metheny und auch John Scofield. Dee Dee Bridgeewater und Dianne Reeves waren je ein halbes Dutzend mal dort.
Und es ist ja auch nichts einzuwenden gegen ein Festival, das hinter den großen Pop-Acts Jazz so mitführt. 40.000 von 50.000 Tickets für den Juli 2024 sind bereits jetzt verkauft. Das sind Dimensionen, die keine einem strengeren Jazzbegriff verpflichtete Veranstaltung je erreichen könnte.
Ob Stuttgart Jazz Open jedoch Mut für sich beanspruchen darf, abgeleitet aus den vorgeblichen Standard-Jazztugenden wie „Freiheit, Mut und Toleranz“, das darf jetzt klar verneint werden.
Vielleicht aus Übermut hat die Festivalleitung sich zu einer Aktion hinreißen lassen, die nichts anderes offenbart als Gratismut, gespeist aus einer großen Portion Naivität.
Die Frage nach dem Erfolg der Aktion, wieviele der Gemeinten ihre Tickets zurückgegeben hätten, bleibt - selbstverständlich - unbeantwortet. Dafür wogt in den (a)sozialen Medien ein noch mal naiveres Pro & Contra, von dem ein Großteil wieder gelöscht werden musste.
Wer sich derart auf Glatteis begibt, der muss dann auch noch Hohn ertragen: ein Vertreter der entsprechenden Landtagsfraktion belustigt sich laut Stuttgarter Zeitung über die Vorstellung,
„dass AfD-Anhänger freiwillig einem feisten Bekenntnis-Gröler wie Herbert Grönemeyer lauschen werden“.
„In der Champion League der europäischen Jazzfestivals“ wird eine so wenig durchdachte Aktion hoffentlich eine einmalige Episode bleiben.

*PS (30.01.) Jazz Open antwortet per email: "Uns ist nicht bekannt, dass bisher jemand sein Ticket zurückgegeben hätte."
Und: "´Champions League der Jazz-Festivals´ – da sind wir selbst erschrocken. Würden wir nie behaupten. Was wir – ernsthaft – behaupten ist: Wir gehören zu den europäischen Top-3-Festivals für Jazz and Beyond."
Last not least: "Bin ein bisschen durch Ihre Website gesurft. Hab mich köstlich amüsiert. Schön, dass es sowas gibt" (Rainer Schloz, Pressesprecher Stuttgart Jazz Open).

erstellt: 26.01.24
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Tony Oxley, 1938-2023

Tony OxleyLondon, Nähe Holland Park, ein Club, The Albion, eigentlich die Lounge einer großen privaten Villa, September 1970: das Howard Riley Trio spielt Stücke aus seinem neuen Album „The Day will come“.
Schlagzeuger im Studio, wenige Monate zuvor, war der damals in London omnipräsente Alan Jackson. An diesem Abend übernimmt den Job ein anderer. Bevor er Platz nimmt, kündet schon der drum set von einer anderen Gangart. Jacksons set war spartanisch, hier aber stand ein deutlich erweiterter: über den Hängetoms eine Art Brücke wie aus einem (Erwachsenen) Märklin-Baukasten, daran geklemmt Utensilien, die der Instrumentenfachhandel überwiegend nicht in seinem Sortiment führt. Die Anmutung geht eher in Richtung Schrottplatz.
So anders der Aufbau, so anders der Klang, so alternativ die Strukturen. Der Drummer sitzt erhöht, er verstreut seine Energien über den ganzen set, ohne merklichen Aufwand. Der mimische und gestische Aufwand mancher Kollegen („bin bei der Arbeit!“) ist ihm völlig fremd.
Viele Jahre später wird er dem Journalisten Bert Noglik seine Spielhaltung in einem Satz diktieren, die ihn schon an diesem Abend leitmotivisch führt:
“I consider myself more a percussionist, in contrast to a jazz drummer who keeps time“.
Im Gegensatz zu manchen seiner Zunft konnte er letzteres aber auch. Der beste Beleg dazu war damals ein gutes Jahr alt: das im Januar 1969 entstandene „Extrapolation“-Album, das Debüt eines jungen Gitarristen namens John McLaughlin, darin die genaues Timespiel erforderlichen 11/8 von „Arjen´s Bag“ oder die 9/8 von „Binky´s Beam“.
Im Prinzip fuhr er schon seit ein paar Jahren zweigleisig: seit 1966, als er aus dem heimischen Sheffield nach London gekommen war. In Sheffield hatte er im legendären Joseph Holbroke Trio frei improvisiert (mit Gavin Bryars, b, und Derek Bailey, g). In London setzte er diese Praxis fort, u.a. mit Evan Parker - und wurde zugleich housedrummer im Ronnie Scott´s Club.
In dieser Funktion begleitete er, und zwar nicht nolens volens, durchreisende US-Stars wie Stan Getz, Sonny Rollins, Joe Henderson, in den frühen 70ern auch Bill Evans.
Diese streckenweise Parallelität, Modern Jazz hier, FreeJazz dort, dürfte einmalig sein unter den Gründern der europäischen Jazz-Avantgarde, allenfalls bei Manfred Schoof dürfte sich verwandte Spuren gezeigt haben.
Und nur Han Bennink (mit dem ihn drum-ästhetisch wenig verbindet) dürfte mit einer ähnlichen Erzählung aufwarten können, was es heißt, von Europa aus mit dem Schiff in die Staaten zu fahren, um dort die Legenden des Jazz an der Quelle zu studieren.
In seinem Falle war es die Queen Mary, wo er in der Tanzkapelle on board Dienst tat.
Zuvor hatte er, Ende der 50er Jahre, in der Britischen Armee, im 3rd Batallion of the Scottish Regiment, auf andere Weise das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden: dort lernte er neben military drumming auch Musiktheorie.
Die war ihm in der Beschäftigung mit der Klassischen Europäischen Avantgarde nützlich, sicher auch in seinen Kompositionen, wohl weniger bei 12 Alben an der Seite von Cecil Taylor.
Damit wäre die nächste, die wohl größte Volte seines Lebens beschrieben. Nach Amerika übersiedeln, auf Wunsch von Bill Evans, das wollte er nicht - mit Cecil Taylor spielte er 20 Jahre lang hüben & drüben,  in Neuburg am Inn ebenso wie im Village Vanguard in New York City, und viel dokumentiert in Berlin.
cover oxleyIn den letzten Jahren reiste er aus Viersen an, er lebte dort, seit 2000 mit einer Deutschen verheiratet, auf Anraten des Bassisten Ali Haurand (1943-2018), der ihm nicht unbedingt kongenialer Partner, aber für ihn erfolgreicher Organisator war.
Oxley betätigte sich auch in der abstrakten Malerei, er erweiterte seinen spezifischen drumset zuletzt auch mit elektro-akustischen Mitteln.
Ein Produkt, bei dem beide Tätigkeiten zusammenfließen, dürfte das wenige Wochen vor seinem Tod veröffentlichte Album „the new world“ sein, zusammen mit dem Perkussionisten Stefan Holker.
2011 veröffentlichte der WDR-Jazzredakteur Ulrich Kurth (1953-2021), quasi nach Zuruf ("hey Uli, why don´t you write my biography?"), selbige über ihn: "The 4th quarter of a triad".
Tony Oxley, geboren am 15. Juni 1938, in Sheffield, West Riding of Yorkshire, ist am 26. Dezember 2023 in Viersen am Niederrhein verstorben. Er wurde 85 Jahre alt.

 

Foto: Andy Newcombe (Wikimedia), 2006
erstellt: 27.12.23
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