Anke Steinbeck (Hg)
Auf der Suche nach dem Ungehörten
Improvisation und Interpretation
in der musikalischen Praxis der Gegenwart
216 Seiten, 24.80 Euro
Verlag Dohr, Köln, 2019
ISBN: 978-3-86846–1428–0
Anke Steinbeck, 40, um es einmal in der Sprache des Boulevard auszudrücken, also laut & deutlich, ist eine Klassikerin, die unter die Jazzer gefallen ist.
Ein solcher Vorgang ereignet sich oft. Wie oft, weiß niemand zu sagen, denn er findet im Privaten statt, und lediglich die Verwandten, Nachbarn, Freunde nehmen ihn zur Kenntnis.
Anke Steinbeck aber ist dem Jazz auf besondere, auf berufliche Weise verbunden; als Projektleiterin und Dramaturgin des Jazzfest Bonn.
Das bedeutet, sie zeichnet - außer für das eigentliche Programm - für alles drumherum verantwortlich. Und das ist sehr viel.
Das umfasst eine aufwändige PR, die immer auch ein ambitioniertes Programmheft hervorbringt; dazu gehören inzwischen auch zwei Bücher, die die Verbindung der Autorin zum Festival nicht unerwähnt lassen, ja zum Thema machen.
Anke Steinbeck vollzieht den Prozess ihrer ästhetischen Konversion also nicht im Stillen, sie macht ihn öffentlich, und dieser zweite Band ist - um im Bild zu bleiben - ihr lautestes Zeugnis.
Mehr noch, Frau Steinbeck hat eine Mission. Sie will zwischen den beiden Welten vermitteln, Verwandtschaften herausstellen, Schnittmengen ausweiten. Improvisation reicht dazu nicht mehr, sie verfolgt nun das Ziel, „den ästhetischen Interdependenzen zwischen Interpretation und Improvisation in der zeitgenössischen Aufführungskultur nachzuspüren.“
In diesem Band firmiert sie als Herausgeberin. Das ist eine starke Untertreibung, denn in dieser Eigenschaft wird sie lediglich für drei Essays tätig. Tatsächlich hat sie zwei Aufsätze verfasst und mehr als ein Dutzend Interviews geführt.
Der Reigen der Partner ist betörend, von Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert bis Michael Wollny, von Anne-Sophie Mutter bis Angelica Niescier.
Diese enorme Spannweite, man ahnt es, birgt ein Problem: sie beschreibt ein Gelände, das zu begehen - abgesehen von etlichen klugen Nebenbemerkungen - schwierig ist, weil ein jeder seine Parzelle anders bestellt. Mit anderen Worten: weil eine jede unter Improvisation etwas anderes versteht und keine Ausrichtung an der ursprünglichen Wortbedeutung stattfindet, im Sinne einer „unvorhersehbaren Handlung“.
Dabei wird nach „Improvisation“ in den Interviews explizit gar nicht gefragt. Die Eingangsfrage lautet stets „Was ist Jazz für Dich/Sie/Euch?“
Es ist ein Einstieg, der häufig Persönliches, mitunter auch Anekdotisches hervorruft, eher selten eine so sachliche Auskunft wie die von Daniela Sammler vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenchaften in Leipzig:
„Jazz ist für mich ein Synonym zur Improvisation, zum kreativen Umgang mit Rhythmus und Harmonien. Jazz umfasst für mich das Generative, das selbst Produzieren und das selbst verändern Wollen von vorgegebenen Dingen.“
Man sollte aber auch die „anekdotische Evidenz“ (wie sie in Wissenschaftskreisen heißt) nicht verachten, die aus manchen Antworten spricht, insbesondere von Gesprächs-
partnern nicht aus dem Jazzlager.
So berichtet z.B. der Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort, von den Proben Neuer Musik in seinem Haus, wo der „Komponist daneben steht, zuhört und sagt: ´Nein, ihr spielt die Musik falsch.´ So etwas gibt es im Jazz in dieser Form nicht.“
Die Antworten der im engeren Sinne Jazz-Ausführenden (Andreas Schaerer, Michael Wollny, Franco Ambrosetti, Angelika Niescier, Sebastian Studnitzky) fallen demgegenüber - zumindest auf die Eingangsfrage - eher unspezifisch aus; vielleicht weil die Künstler sosehr im eigenen Tun versinken, dass sie sich kaum noch einen Begriff dieser Praxis machen.
Improvising is Living (?)
Sehr viel mehr Platz zur Beantwortung der Eingangsfrage, nämlich einen eigenen Essay, erhält der Pianist und Jazzdozent Sebastian Sternal. Unter dem Signum „Wie funktioniert (Jazz-)Improvisation?“ führt er brav die Elemente auf, derer sich Jazzmusiker bedienen und wie sie das tun.
Er verklammert seinen Aufsatz mit einem Motto von Chick Corea aus einem seiner YouTube-Lehrvideos: „Improvising is Living“.
Das klingt toll - ist aber eine Nullaussage. Denn auch Komposition ist Leben. Und Interpretation.
Dä! Was haben wir nun?
Wir haben einen Denkfehler, denn umgekehrt wird´s sinnvoll: „Living is Improvising“!
Improvisation ist ein Prinzip des Lebens und viel älter als jede „musikalische“ Improvisation.
(Chick Corea beschreibt es in dem besagten Video auch richtig, etikettiert es aber falsch; man hat den Eindruck, er spricht offenbar spontan vor einem misstrauischen Publikum.)
Eine andere Merkwürdigkeit bei Sternal ergibt sich aus seiner Antwort auf die selbst-gestellte Frage:
„Kann ein komplett improvisiertes Stück Jazz sein, wenn es sich in keiner Weise auf die Jazztradition bezieht?“
Seine Antwort:
„Improvisation ist für mich ein so wesentlicher Bestandteil der ´Jazz-Herangehensweise´, dass der Bezug zur Jazzhistorie allein schon durch die Tatsache, dass improvisiert wird, gegeben ist. Ein frei improvisiertes Musikstück, das im klanglichen Ergebnis Neuer Musik ähnlich ist, kann so für mich auch Jazz sein.“
Bei allem Respekt vor dem exzellenten Jazzpianisten Sternal - mit einer solchen Auffassung dürfte der Professor für Jazzpiano an der Musikhochschule Mainz bei Kollegen aus den anderen Disziplinen auf Widerspruch stoßen.
Auch bei Daniel Martin Feige, der ihm mit einem Essay in diesem Band folgt, fände ein solcher Gedanke keinen Platz.
Der Stuttgarter Philosoph, inbesondere hervorgetreten 2014 durch seinen Band „Philosophie des Jazz“, gibt hier eine Kurzfassung seiner wesentlichen Thesen daraus.
Er referiert wiederum den Unterschied zwischen Standards und Werken (der klassischen Tradition), der sich z.B. darin zeigt, dass Jazzmusiker/innen weniger „über“ einen Standard improvisieren, „als dass sie ihn in und durch das Spielen jeweils neu erfinden, weil an ihm prinzipiell nichts sakrosankt ist.“
Vertraut auch sein Gedanke der retroaktiven Zeitlichkeit der Jazzimprovisation: „Der Anfang einer Jazzimprovisation liegt die Improvisierenden nämlich - anders als man denken könnte - auf nichts fest.“
Sinn & Erfolg einer Improvisation zeigten sich erst im nachhinein, vom Ende her.
Zu kurz kommt in diesem Beitrag der zweite Teil seines Titelversprechens:
Die Logik der Improvisation. Einige Bemerkungen zur Gestaltung der Rhythmik im Jazz“.
Ein schöner Gedanke von ... Adorno
Der Kölner Musikwissenschaftler Julian Caskel liefert, auf ähnlich hohem Niveau, quasi den Komplementärbeitrag zu Feige. In „Die Notwendigkeit der Interpretation und die (Un-)Möglichkeit der Improvisation“ widmet er sich dem zweiten Großthema aus dem Buchtitel und führt mit luziden Überlegungen ein in die empirische Interpretationsforschung.
Jazzheads, die bei dieser Richtungsanzeige abwinken, begehen möglicherweise einen großen Fehler. Caskel räumt nämlich gründlich auf mit den naiven Vorstellungen, die man im Jazzlager über das opposite camp hegt, nämlich dass man dort ja nur abspule, was in den Noten steht.
„Ein und derselbe Notentext kann (…) Lösungen hervorbringen, die sich um mehr als das Dreifache in ihrer Zeitausdehnung unterscheiden.“
Er macht uns z.B. auch vertraut mit einem weitsichtigen Gedanken von Adorno, dass jede musikalische Reproduktion eine „Kopie eines nicht-vorhandenen Originals“ ist.
Da der Notentext aber „unterdeterminiert“ sei, erzeuge er notwendigerweise „Interpretation“, die wiederum je nach Ausführenden unterschiedlich ausfalle. Ob die dabei entstehende „Überschüssigkeit“ des Ausdrucks aber schon „Spuren einer Improvisation“ trägt, wie Caskel annimmt, verrät einen allzu leichtfertigen Umgang mit dem Begriff Improvisation.
Hier liegt eine Crux nicht nur dieses Bandes, man findet sie auch in vielen anderen Projekten, die das Phänomen Improvisation rein aus der Musik betrachten. Sie verstehen spontane Variantenbildung schon als Improvisation und kappen damit den Kontakt zu der Ursprungsbedeutung des Begriffes aus dem Lateinischen, nämlich als Handeln im Unvorhergesehenen.
Obwohl es das Philosophische gelegentlich streift, dies ist kein Philosophiebuch, sondern eine eher lockere Matrialsammlung, eine Umfrage häufig in Interviewform unter Musikfachleuten.
Mit am erfrischendsten und für jazzheads äußerst ernüchternd ist der letzte Beitrag,
ein Gespräch mit einer Person, die aus dem Assoziationsspektrum „Improvisation“ & „Interpretation“ weit herauszufallen scheint - eine völlig falsche Einschätzung von Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages von 2005 bis 20117.
Er liebäugelte offenbar mit einer Musikerlaufbahn, deshalb sind ihm auch heute noch verschiedene Modi des Improvisierens vertraut:
„Bei Reden improvisiere ich naturgemäß häufiger als am Klavier oder an der Orgel.“
Eine kalte Dusche für alle Metaphernschmiede in unserer kleinen Welt dürfte Lammert´s Antwort auf die Frage sein:
„Können Sie das Bild nachvollziehen, ein Jazz-Trio sei Demokratie im Kleinen?“
Norbert Lammert:
„Nein, das kann ich nicht nachvollziehen. Demokratie ist ein Verfahren zur Herbeiführung von Entscheidungen.
Am Ende zeichnet sich eine demokratische Entscheidung immer dadurch aus, dass unter unterschiedlich vorhandenen Positionen die Mehrheit sich durchsetzt.
Ich weiß nicht, ob man das für den Jazz ernsthaft reklamieren kann.“
Ein schöner, ein realistischer Gedanke zur Improvisation.
erstellt: 13.09.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten