BRANFORD MARSALIS Belonging *********

01. Spiral Dance (Jarrett), 02. Blossom, 03. ‘Long As You Know You’re Living Yours, 04. Belonging, 05. The Windup, 06. Solstice

Branford Marsalis - ss (4), ts, Joey Calderazzo - p, Eric Revis - b, Justin Faulkner - dr

rec. 25. - 29.03.24

Universal Music/Blue Note Records CD 00602475486596

Gut, dass Branford Marsalis im Jubiläumshype um Köln Concert 50 und den Film „Köln 75“ an ein anderes Ereignis mit demselben Zählwert, also aus etwa dem gleichen Zeitfenster, erinnert:
an „Belonging 50“ (Produktion im April 1974, Veröffentlichung im Oktober 1974).
Es mag dies wenig mit der Jazzhistorie der Mittsiebziger Vertrauten (wie dem als Filmkritiker geschätzten Bert Rebhandl von der FAS) ein dezenter Hinweis sein, dass Keith Jarrett zum Köln Concert nicht wie Phoenix aus der Asche emporgestiegen war, sondern mit seinen Solo-Alben - aber eben auch mit „Belonging“ - deutliche Vor-Echos gesendet hatte.
Man muss, um den Rang dieses Albums zu begreifen, nicht in allem dem Urteil des Jarrett-Biografen Ian Carr (1991) folgen:
„The album ´belonging´ ranks with the very greatest quartet recordings in jazz because everything about it is superlative: the compositions, the free-flowing interplay, the level of inspiration and the brilliantly focused improvising of all four musicians“.
Es reicht vielleicht schon die Stimme von Stephen Davis in der New York Times (28.09.75):
„the music burns with a fire somehow absent in most of the pianist´s records with his American band“.
Eben. Es dürfte zu den raren Momenten - jedenfalls des größten Teiles - der Jazzgeschichte zählen, dass ein amerikanischer Jazz-Star zur Frischzellenzufuhr eines eigenen Formates europäische Jazzmusiker heranzieht; damals die Skandinavier Jan Garbarek, ss, ts, Palle Danielsson, b, sowie Jon Christensen, dr.
Und hier trifft sich die Wertung des NYT-Kritikers mit der des sensiblen Künstlers, der sein „europäisches“ Quartett als „relief from the american quartet“ (als „Entlastung“ oder „Befreiung“) bezeichnete.
COVER Branford Marsalis Belonging„Belonging“ kennzeichnet freilich nicht das erste Mal, dass Branford Marsalis ein ganzes Album quasi wie einen Standard behandelt, vulgo: neu interpretiert.
So ist er 2003 schon mit „Coltrane´s A Love Supreme“ verfahren. Und selbst „Belonging“ hatte auf seinem Album „The Secret between the Shadow and the Soul“, 2018, bereits ein Vorecho, nämlich in Form des Hits aus der „Belonging“-Produktion von 1974: dem un-Jarrett´schen Stück überhaupt, dem aus dem Hoedown entlehnten vamp-Sprinter „The Windup“.
Das war lediglich das Finale jenes Albums, ein einzelner track aus „Belonging“.
Eric Revis schlug vor, demnächst das komplette Referenzalbum anzupacken; dem Vernehmen nach kam die Pandemie dazwischen.
Dass „Belonging“ vom Branford Marsalis Quartet nun im Jubliläums-Zeitfenster landet, ist Zufall.
Bezogen auf das Titelstück räumt der Bandleader ein, „I clearly played things that Jan played on the record." Allerdings, „at no point did we plan to consciously pay tribute. I’m always listening to the whole record, not just the saxophone solos, and the most impressive thing about ´Belonging´ for me is how it all fits together.”
Daraus spricht erneut die vor allem durch Ian Carr etablierte Rezeption, das Album in seiner gesamten Architektur zu würdigen, in seiner Dichte von memorablen Melodien, in seiner Ausgewogenheit aus Balladen und Aufwallungen, mit zwei bestens eingespielten Quartetten als tragende „Säulen“.
Oder, voller Andacht, wie es Hank Shteamer jüngst in der NYT intoniert:
„Es ist ein Album der emotionalen Extreme, das ekstatische Ausgelassenheit und andächtige Sehnsucht umfasst.“

Es ist vor allem ein Album, das in seltener Dichte den Komponisten Keith Jarrett zeigt. Geradezu im Triumph über das, was er selbst so beschrieben hat: „People underestimate how hard it is to write melody“.
Gleichwohl, dem Marsalis-Quartett gelingen wohl die expressiveren Momente. Das liegt auch daran, dass es zweimal die Tür zum FreeJazz aufstößt (in „The Windup“ und „Solstice“), was es in Konzerten mitunter vermeidet.
Eine mögliche Erklärung dafür finden wir in der Aussage von Branford: “The biggest benefit we have is 50 years of information that Keith’s band didn’t have, and our ability to process that shared experience.“ Gemeint ist also nicht der bereits über 25 Jahre sich speisende Erfahrungsschatz seines Quartetts in dieser Besetzung, sondern der gesamte Referenzrahmen der letzten 50 Jahre.
Paradebeispiel dafür ist der mächtig groovende Gospel-Funk von „‘Long As You Know You’re Living Yours“*. Auf die Frage von Justin Faulkner, wie er den drum-part anlegen solle, habe er, Branford Marsalis, mit „lediglich zwei Worten“ geantwortet: James Gadson. Der legendäre Funk-Drummer, heute 85, hatte eine seiner prominentesten Rollen auf Donald Fagens „The Nightfly“, 1982. Gleichwohl, bei der anderen stilistischen Referenz der Neuinterpretation war Gadson nicht mit von der Partie: „we bring it more in the spirit of Donny Hathaway Live“. Das war 1972.

Die Marsalis-Men nehmen sich auch mehr Zeit als Jarrett mit seiner europäischen Entourage vor 50 Jahren. Lediglich „Solstice“ und „Blossom“ sind ungefähr gleich lang. Das Titelstück, die rubato-Ballade „Belonging“, ist dreimal länger - und keine Sekunde zu lang.
In der anderen Ballade, „Blossom“, schwelgt Marsalis Mahler-artig wie auf seinem Album „Eternal“, 2003. Sein Ton ist dunkler, „erdiger“, das Garbarek´sche „Näseln“ ist ihm fremd.
Nirgends aber bricht er a la Django Bates aus („arranging the hell out of something“), nirgends also bürstet er vollkommen gegen den Strich. Er hält sich an die Form. Selbst da, wo er ausbricht, kann man dies als logische Ergänzungen hören.
Konkret, da wo Jan Garbarek in der Mitte von „The Windup“ zu einer Saxophon-Solo-Kadenz ansetzt, a capella, bricht Marsalis für eine gute Minute mit der Band in eine FreeJazz-Passage aus, um dann - wie 1974 - in einem fast swing loszujagen.
Die letzten beiden Minuten verbringt das Marsalis-Quartett in einer Lieblingsdisziplin von JC: drum-solo gegen ein 1-Takt-riff aus dem Thema von „The Windup“. Der dynamische Abschluss eines eindrucksvollen Albums.

PS: wir sind gespannt, ob und wie sich die Anhänger der „Jazz-Diaspora-Theorie“  zur diesem Remake-Album verhalten. Ob nach dem Vorbild „Football´s coming home“ in ihren Ohren Branford Marsalis nun ein Stück Jazz heimbringt, das - zwar unter Beteiligung eines Amerikaners, des im fraglichen Zeitraum für einen Afro-Amerikaner gehaltenen Keith Jarrett - ganz offenkundig in der Diaspora, nämlich in Norwegen, entstanden ist.

PPS: Rick Beato analysiert "Spiral Dance"!!!

*1980 wurde die Groove-Figur von Steely Dan plagiiert. Nach rechtlichen Auseinandersetzungen mussten Becker & Fagen Keith Jarrett als Co-Komponisten eintragen: Gaucho (Becker/Fagen/Jarrett) – 5:32
erstellt: 26.03.25
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