CHRISTIAN BROECKING
Respekt!

144 Seiten; 13 €, Verbrecher Verlag, Berlin, 2004
(vergriffen)

Mit diesem Band greift der Autor sein "Der Marsalis Faktor" (Oreos, 1995) wieder auf, das Thema bleibt jenen "Gesprächen über afroamerikanische Kultur in den neunziger Jahre" eng verwandt. Einzig der Schwerpunkt ist verlagert: Wynton Marsalis und seine ideologischen Helfershelfer, Albert Murray und Stanley Crouch, sind nun an den Rand, in den Vordergrund ist eine ältere Frage gerückt, nämlich...
"...inwieweit der politische afroamerikanische Jazz der Sechziger Jahre Spuren hinterlassen hat, inwiefern er gescheitert ist. Die
politische Intention und Rezeption ihrer Musik hatten in den USA zur Folge, dass afroamerikanische Musiker an der Rand der Gesellschaft und Existenz gedrängt wurden."

Derartige Sätze, mit ihrer Häufung des Adjektivs "politisch", versprechen die beliebte
Erzählung in Form einer Leidensgeschichte, die unsere kleine Gemeinde immer wieder in ihren guten Absichten bestätigt.
Verwandt, um nicht zu sagen identisch, ist auch die Form der Darstellung. Broecking wählt erneut das
Interview. Das mindert den Aufwand für Selektion und Recherche, wie sie ein Essay erforderte. Man breitet seine Stoffsammlung aus und hat zugleich den Veröffentlichungsrahmen gezogen. Der Leser erlebt Aussagen nicht als Zitate, sondern in ihrem Kontext; er kann nachvollziehen was und wie gefragt wurde; er ist aufgefordert, die Quintessenz der Texte selbst zu ziehen.

Wenn wir an eine etablierte Form, etwa an die SPIEGEL-Gespräche denken, mögen uns Beispiele einfallen, wo die vielen Nachteile dieser Methode, ihr mangelnder Reflexionsgrad zum Beispiel, durch das Spiel von Argument und Gegen-Argument ausgeglichen werden. Das freilich setzt den Interviewer als Dialogpartner oder gar Opponent voraus - starke Rollen, die Christian Broecking nicht einzunehmen gedenkt. Mitunter kann ich das aus eigener Praxis nachvollziehen; wer zu einer Audienz bei Sonny Rollins vorgedrungen ist, der wird nicht mit kessen Fragen einen Rausschmiss riskieren, sodern das seltene Manna lieber wortkarg einsammeln.

Wie Broecking freilich mehrfach groteske Äußerungen von Max Roach entgegennehmen kann ("Die musikalische Kreativität Europas ist ´imperialistisch´, während Jazz ´demokratisch´ ist." oder dessen Plädoyer für die Rassentrennung) ohne aufzumucken, oder wenigstens ein "Max, please" einzu-
werfen, bleibt mir ein Rätsel.
Hier offenbart sich in falscher Mission, was dem Band zum Titel wurde ("Respekt!"). Hoffentlich gelangen manche dieser Passagen den analytischen Bluthunden der Neuen Musik nicht zur Kenntnis; ihnen, die mühsam unsere Heroen in den Lexika akzeptiert haben, offenbaren sich einige aus diesem Kreis hier als geistige
Gartenzwerge.

Gleich der erste Interview-Partner, Sonny Rollins, gibt den Simpel. Für (seine) Gagenforderung von 70.000 Dollar pro Konzert "...kann man mich doch nicht verantwortlich machen".
In einem Satz spielen die
Rhythmen die "Hauptrolle...in unserer Musik" - im nächsten Satz bezeichnet er als das wichtigste Element des Jazz "die spontane Kreation von sounds".
Der Mann, der einst die "
Freedom Suite" (1958) erfand, beugt sich heute der realistischen Einsicht, dass Kompositionstitel gar nichts bewegen:
"Was ich jetzt vielmehr versuche, ist, mit meiner Musik eine Message zu formulieren, ohne die Dinge konkret beim Namen zu nennen".
Diese Absicht freilich ist von Kleinmut gespeist: "Wenn man das nämlich tut, wird man von den Medien zu schnell kategorisiert und dafür kritisiert"

Ja, die Medien, die Kritiker. Selbst ein so besonnener Charakter wie Sam Rivers klagt, sie seien immer "bestrebt (...), die Künstler zu kontrollieren. Sie wollen sagen, was wir zu tun haben. Leute wie wir wollen ihr Leben selbst bestimmen, und diese Haltung führt unweigerlich zu Konflikten mit der Kritikergilde."
Es muss eine Lust sein, dieser mächtigen Zunft anzugehören. An solchen Stellen gerät man mitunter ins Grübeln, ob die Musiker das wirklich so meinen ... oder ob sie anders übersetzt ganz anders klängen? Hat Sam Rivers "to controll" gebraucht oder nicht?

Es ist das geringere Problem mit diesem Band. Viel deutlicher schlägt zu Buche, dass er seine Suchrichtung, seinen Gegenstand lediglich einem "Irjenswie" überlässt. Sicher, in der Werbung und im Vorwort finden wir dazu markige Worte: "In diesem Buch steht der afroamerikanische Jazz als ein Widerstandscode der schwarzen Community im Zentrum. Immer wieder wird gefragt, welche gesellschaftsverändernde Relevanz die Musiker ihrer Musik zuschreiben".
Die entscheidende Frage bleibt ungestellt: wo Belege für diese Proklamation zu finden wären.

Der Autor Broecking firmiert zudem als "Soziologe und Jazzpublizist", da muten solche Sätze an wie mit Leuchtmunition geschossen. Bloss, ein jeder, der den kleinen Statistikschein überstanden oder die Nase in ein richtiges Soziologiebuch hat stecken dürfen, wird solche Wortgebinde erneut abschmecken - sie klingen als ob; sie künden ausschliesslich vom Flachwasser der diskursarmen deutschen Jazzgemeinde und keineswegs von einer Erörterung, die den Anspruch einlösen könnte, "soziologisch" zu sein.
Statt
Fakten und Strukturen stehen hier Fragen. Fragen, die noch dazu eine Richtung insinuieren, die einzig und allein die Auffassung des Autors wiedergibt - die meisten Interviewten verstehen sie gar nicht oder schlagen sie ihm aus der Hand.

Selten zuvor dürfte das Diktum von Hans Magnus Enzensberger, man könne ein Buch auch gegen die Intentionen des Autors lesen, soviel Futter gefunden haben wir hier Christian Broecking´s "Respekt!". Es ist - ganz im Widerspruch zu seiner Anmutung - eine Fundgrube für alle jene, die immer schon ahnten oder wussten, dass die politischen Interpretationen der afro-amerikanischen Jazzkultur masslos überzogen, ja eine europäische Erfindung waren.

Man lese nur die Interviewpartner Steve Coleman ("Das ist ja das Problem, dass es die schwarze Kultur in Amerika, von der in Deutschland gern geredet wird, gar nicht gibt") oder Ornette Coleman ("...das ist das Problem, das hinter der Wahrnehmung von Black People steckt: nach aussen sind sie nur im Stück zu haben. Das ist die Fehlkonstruktion“).
Der reine
Eurozentrismus!, um mit Meister Enzensberger zu sprechen.

Und selbiger führt Broecking auch die Zunge, als er die berühmte Parole von Ornette Coleman ("Let´s play the music and not the background", klar zu verstehen als Absage an die funktionale Harmonik) in folgende Frage giesst: "Entgegen Ihrer Sechziger-Devise, nicht mehr den Background zu spielen, hat Black Music doch vor allem das Entertainment-Syndrom behalten. Da ist das Visuelle vom Akustischen sicher nicht zu trennen. Also frage ich nach Ihren Erfahrungen, sich der Negerrolle zu entziehen."

Ja, was soll Ornette Coleman denn damit anfangen? Der pseudo-soziologischen Frage stellt er eine Antwort entgegen, die auch vor dem strengen Urteil des Wissenschaftstheoretikers Karl Popper Bestand hätte, nämlich die Alltagserfahrung als Quelle der Erkenntnis: "Nur weil man in der gleichen kulturellen Sphäre aufgewachsen ist, heisst das überhaupt nicht, dass man über den gleichen Erfahrungshorizont verfügt."
Coleman an anderer Stelle: "Sie fragen, ob das Spannungsfeld Armut und Rassismus, in dem ich aufwuchs, meine Musik beeinfluss hat? Nein, ich denke nicht."

Ornette Coleman, wohlgemerkt, das ist in diesem Band für die Gegner der Wiederspielungs-Ästhetik nur die Nachspeise zu Bill Dixon. Was der ein paar Seiten zuvor erzählt, zieht allen deutschen Jazz-"Revolutionären" den Boden unter den Füssen weg, insbesondere Manfed Miller mit seiner legendären Fehldeutung der "October Revolution in Jazz".

Trompeter Dixon war Initiator jener Konzertreihe in New York, Oktober 1964. Hier protokolliert er, dass der Titel der Reihe keineswegs von den beteiligten Musikern ersonnen wurde, sondern von dem befreundeten Regisseur Peter Sabino. "Wir brauchten eine headline für unsere Werbung in der Village Voice, und er sagte: ´Wir haben Oktober, und was ihr da macht, könnte man als eine Art von Revolution gegen den zeitgenössischen Mainstream bezeichnen, warum also nicht einfach Oktoberrevolution?"

Herrschaften, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: die schöne Oktoberrevolution in Jazz war nichts weiter als ein ästhetischer Protest von "new thing" gegen "bebop".
Noch einmal Bill Dixon: "Ich denke jedoch, dass Politik für diese Gruppe zu der Zeit keine grosse Rolle spielte. Es war eher eine eigennützige Organisationsform für das künstlerische Überleben."
Und: "In Amerika war das politische Bewusstsein der Free Jazz-Musiker
nicht besonders geschärft." und und und..."Damals", zitiert Broecking im Vorspanntext Bill Dixon indirekt, "wurden Erfahrungskontexte angeschoben, die heute gültiger seien denn je."

Was Dixon nicht wissen kann, Broecking aber wissen könnte: in Köln hat sich jener Konflikt wiederholt, mit ganz ähnlichen ästhetisch-logistischen Kollisionen, 22 Jahre nach der Oktoberrevolution: Initiative Kölner Jazzhaus e.V. versus Jazzboard e.V.
Bloss dass 1986 - ganz unpolitisch - von "Jazzkrieg" die Rede war. Und dass der Kampf um eine
Immobilie geführt wurde, die heute noch jederman zugänglich ist: der Stadtgarten Köln.

PS: am 11.02.21 geringfügig überarbeitet nach der Nachricht vom Tode Christian Broeckings (1957-2021)
© Michael Rüsenberg, 2004, Alle Rechte vorbehalten