BILL MILKOWSKI
Ode to a Tenor Titan

The Life and Times of Michael Brecker

374 Seiten, ca 29 Euro
Backbeat Books, 2021

Im Mai 1999 begibt sich Michael Brecker in ein Studio in Zerkall, in der Eifel.
Die Exotik (für manche vielleicht auch die Komik) der Ortsbeschreibung verflüchtigt sich, wenn man hinzufügt, dass es sich um den Arbeitsplatz des renommierten Toningenieurs Walter Quintus (1949-2017) handelt.
Brecker erscheint eine halbe Stunde vor Aufnahmebeginn, spielt sich warm; auf dem Pult liegen die Noten für zwei Stücke des Albums „Inside Out“ von Rolf Kühn (1929-2022).
Dessen jüngerer Bruder Joachim hatte bereits 18 Jahre zuvor mit ihm gearbeitet („Nightline New York“), mit Rolf ist es ein Erstkontakt.
Brecker spielt flüssig durch, was er ihm aufgeschrieben; Kühn erlebt ihn als „exzellenten Vom-Blatt-Leser“.
„Bis auf eine einzige Stelle, da ist er nach dem ersten, zweiten, dritten Durchspielen irgendwie gestolpert. Ich habe selten einen Menschen erlebt, der so reagiert wie er. ´Stupid me´! Sonst ein freundlicher, ausgeglichener Mensch, wurde er dermaßen wütend, dass ich sage: ´Michael, ich weiß, dass es geht!´. Das hat er 10 Minuten noch geübt, nur die Stelle, lamgsam, bam-bam-bam-bam-bam. Und dann hat er´s drauf gehabt - wahrscheinlich für immer“.
Die Produktion taucht bei Bill Milkowski nicht auf. Es wäre beckmesserisch, den Autor dafür zu kritisieren.
Michael Brecker wirkt damals an zwei von neun Titeln mit; (das Album „Inside Out“ nimmt im Rahmen einer solchen Karriere allenfalls den Rang einer Fußnote ein. Dass Bruder Joachim Kühns „Nightline New York“ gleichfalls fehlt, fällt - weil mit US-Personal produziert - schon eher ins Gewicht).)
Rolf Kühn wird hier zitiert, weil er - ohne es zu kennen - mit wenigen Sätzen den Inhalt des Vorwort dieses Buches wiedergibt.
Wie etliche Stimmen dort beschreibt auch er die prägenden Eigenschafen eines Künstlers, der dank seiner Kompetenz wie kein zweiter überschüttet wird mit Lob und Anerkennung. Zu aller Verblüffung aber ist er notorisch unzufrieden mit dem, was sie feiern, er ist selbst-kritisch bis zu Selbstzweifeln.
Dabei keineswegs eigenbrödlerisch oder gar elitär, sondern freundlich, höflich, humorvoll (bis hin zu aberwitzigen Frotzeleien), vor allem: kollegial und hilfsbereit. 1982 gibt er mit seinem Beispiel Anlass für etliche Kollegen, endlich von den Drogen loszukommen.

From Philly to the Big Apple

Bill Milkowski, geb. 1954, zählt zum Kreis jener aus der US-amerikanischen Musikwelt, die man in mehreren Rollen findet. Er hat produziert (u.a. „All Sides now“ von Pat Martino), ihm auch bei seiner Autobiografie geholfen; man hat seine liner notes zahlreicher Alben gelesen; in der Hauptsache gehört(e) er zum Autorenstamm von „down beat“, „Guitar Player“, „Jazz Times“ u.a.
In den Bücherregalen liegen Biographien von Jaco Pastorius, Keith Richards u.a., nun also von Michael Brecker (1949-2007).
Milkowskis Perspektive entspricht dem, was der Titel proklamiert: eine Ode, ein Loblied, auf einen „Titanen“ des Tenorsaxophons.
Nur selten verfällt er in ein Pathos wie zum Auftakt des dritten Kapitels („Zwei bedeutsame Ereignisse ereigneten sich im Jahr 1969: Der Mensch landete auf dem Mond, und Michael Brecker landete in Manhattan“.)
Seine Biographie folgt der Chronologie eines Lebens, zusammengefügt aus vielen eigenen Interviews und Pressezitaten.
Sie setzt ein 1949 in dem bildungsbürgerlichen Elternhaus in Philadelphia, in dem Michael wie auch sein vier Jahre älterer Bruder Randy aufwachsen.
1966 in ihrer Heimatstadt ein Schlüsselerlebnis: die Brüder besuchen ein Konzert von John Coltrane - die Inititialzündung einer lebenslangen Inspiration. Auf Milkowskis Webseite hört man Michael im Originalton:
„If there was no Coltrane, there was no me“
(Darauf wird noch zurückzukommen sein).
Die Brüder Brecker hätten Coltrane gerne auch noch ein weiteres Mal live gehört - aber „militante schwarze Besucher forderten sie wortwörtlich auf, das Konzert zu verlassen“.
(Diese Aussage im Buch stammt von Ravi, dem Sohn John Coltranes).
Im Herbst 1967 folgt Michael dem älteren Bruder - lange Zeit ein Vorbild - und schreibt sich an der Indiana University ein: anders als jener in Medizin, nicht in Musik, obwohl er de facto nichts anders macht als mit den Musik-Kommilitonen zu spielen.
Am 21. Januar 1969 dann die „Wiedervereinigung“ der beiden Brüder in New York, genauer: auf westlichen Seite des Hudson, im berühmten Studio von Rudy van Gelder in Englewood Cliffs/New Jersey, wo Randy Brecker sein erstes eigene Album aufnimmt, „Score“.
Michael landet, um im Bild zu bleiben, ähnlich sanft in Manhattan wie Neil Armstrong wenig später im Mare Tranquillitatis. Randy führt ihn ein in die Szene, er hat sich längst einen Namen gemacht, u.a. mit Blood, Sweat & Tears.
Was dann geschieht, nämlich die Umsetzung der Coltrane-Inspiration in stundenlangen Improvisationsschlachten in den Lofts von Soho und Chelsea, gehört zu den spannendsten Passagen des Buches. Musikpsychologen dürften diese Seiten im Hinblick auf die 10.000 Stunden-Faustregel geradezu ergötzen.
10.000 Stunden des Probens und Übens, so besagt sie, sind Voraussetzung für den Experten-Status. Alle großen und viele der weniger großen Namen haben sie absolviert; im Falle Michael Brecker muss man die Zahl mit einem unbekannten Faktor multiplizieren.
Those were the days: Leben war Üben (für manche dazu auch saufen, für die meisten kiffen & koksen; nicht selten hörten die Dealer mit zu).
Eine schöne Anekdote aus dem an solchen Momenten nicht armen Buch handelt handelt vom Bassisten Will Lee, seit langem ein Inbegriff der Studioelite von New York City. Als die Brecker Brüder ihn 1970 für die Band Dreams rekrutieren, haben sie ein Landei vor sich, das die Hochhäuser in lower Manhattan nicht auseinanderhalten kann.
Lee kommt zunächst im Loft von Michael unter, und als er eines Abends, angeschickert, nicht heimfindet, orientiert er sich an den Saxophon-Klängen, die aus einer Etage schreien: da kann er sich niederlegen.

"one of the best of the best"

cover ode to a titanDen magnetischen Pol, an dem sich insbesondere die Saxophonisten in den Lofts ausrichten, benennt im Buch der damals beteiligte Schlagzeuger Lenny White:
„All diese Jungs waren davon überzeugt: Trane ist ihr Gott. Jeder junge Saxophonist hat ihn nachgespielt. Aber unter all diesen Burschen klingt für mich Michael noch am wenigsten nach Trane. Für meinen Geschmack waren seine Einflüsse viel eher Stanley Turrentine und Joe Henderson als John Coltrane“.
Michael Brecker selbst räumt nicht nur ein, sondern stellt immer wieder heraus (z.B. in den liner notes von „Two Blocks from the Edge“, 1998), dass diese drei - plus Sonny Rollins und Wayne Shorter - für ihn von Einfluß waren; Stanley Turrentine vielleicht nur am Rande.
Aber dass er Henderson & Coltrane weiterentwickelt hat, zu einem unbestritten eigenen und wiederum viel kopierten Stil, das bestätigt später auch Ravi, der Sohn von John Coltrane. Mehr noch, er hält Michael Brecker für „einen der Besten unter den Besten“.
Man ahnt bei der Lektüre die ganze Zeit - vor allem, wenn man jüngste Versuche vor Augen hat, den Jazz rein afro-amerikanisch zu erklären -, dass hier eine heikle Konstellation vorliegt: ein weißer Saxophonist, der mit großer Wirkung eine von vielen für „schwarz“ gehaltene Ästhetik weiterentwickelt.
Einen ersten Wink in dieser Richtung gibt Steve Khan in Erinnerung an ein Konzert der Brecker Brothers im Februar 1976. Die Band, der er damals angehört, spielt im Vorprogramm von Rahsaan Roland Kirk.
„Er wusste offenbar mit unserer Musik nicht anzufangen. Es war zwar nicht seine Art von Jazz, aber er hätte doch heraushören müssen, dass der Tenorsaxophonist in unserer Band schon etwas sehr Spezielles war“.
Kirk macht auf der Bühne dann „negative, leicht rassistisch geladene Bemerkungen über uns“, wie Randy Brecker präzisiert. Bobby Brecker, der Vater, ist so aufgebracht, dass er Roland Kirk hernach zur Rede stellen will. Randy kann ihn zurückhalten.
Die große, öffentliche Kontroverse in dieser Sache ereignet sich wesentlich später.
Und da Milkowski chronologisch erzählt, kommt er erst 1992 darauf zu sprechen: auf die Kontroverse, die Joe Henderson in einem Interview mit dem Magazin „down beat“ auslöst.
Der damalige „down beat“-Autor ahnt das Minenfeld und anonymisiert Hendersons Vorwurf: „ein populärer Saxophonist“, habe seine licks - also seine typischen Muster - gestohlen.
Alle wissen, wer gemeint ist. Und der gemeinte Michael Brecker ist tief getroffen. Das geht so weit, dass er sich den Vorwurf zu eigen macht, dass er seine Soli bewußt „ent-hendersonisert“ und in Interviews verstärkt darauf hinweist, wieviel er Joe Henderson verdanke.
Damit ist die Sache für den Chronisten Bill Milkowski aus der Welt. Hier hätte ich mir eine Debatte über eine der grundlegenden Fragen der Jazz, ja der Musik-Ästhetik gewünscht: kann es einen solchen Diebstahl überhaupt geben? Wie weit reicht das „Eigentum“ an individuellen Tonschöpfungen?

Man under the Influence

Die internationale Fachdebatte ist inzwischen weiter, als es in einer solchen Biographie berücksichtigt werden kann. Wir fragen einen der renommierten Forscher auf diesem Sektor, Klaus Frieler, der die Datenbanken „Weimar Jazz Database“, „Dig that lick“ und „Parker Omnibook“ unter dem Aspekt „wer hat Michael Brecker beeinflusst?“ durchsucht:

„Die größten Einflüsse (unter den Saxophonisten) hatten Parker, Coltrane, Konitz und in der Tat Henderson, und dann noch etwas Dexter Gordon, Hank Mobley, Cannonball Adderley und Gerry Mulligan“.
Wie man sieht: das Feld ist überraschend vielfältiger als in der Jazzpublizistik diskutiert. Und noch leidet es unter einer Verzerrung: Parkers Einfluß stellt sich auch deshalb als so groß heraus, „weil wir mehr Daten von ihm haben“, vulgo von ihm sind die meisten Soli digital analysierbar.
Und, Frieler macht noch eine weitere Differenzierung, die die alltägliche Jazzdebatte übersteigt: „Es geht hier nur um (gemeinsame) Patterns, nicht um andere Dinge wie Sound oder Stil“.

„He sounded good" (as a drummer)

Wünschenswert auch, der Autor hätte Nebenrollen nicht so ausgeschmückt.
Bei Don Grolnick (1947-1996) mag das noch angehen; der Tod des Pianisten, Produzenten und überhaupt Musikkenners war ein tiefer Einschitt auch in Breckers Leben. Aber was suchen Details über den notgeilen und alkoholsüchtigen Joey Calderazzo in einer Michael Brecker-Biographie? Es sollte reichen, ihn als talentierten Pianisten zu beschreiben.
Ansonsten, auch wer mit Leben & Wirken dieses Saxophon-„Titanen“ vertraut zu sein meint, dessen Bild wird mit einer Fülle von Details angereichert. Erstaunlich die enorme Beliebtheit dieses Stilisten in Feldern jenseits des Jazz. Paul Simon beispielsweise zahlt ihm ein Fantasie-Honorar, er will ihn unbedingt auf seiner fast zweijährigen Welttournee dabei haben.
(Brecker kann damit ein Haus für die Familie bezahlen und vertieft dank zweier Mitmusiker aus Kamerun auf dieser Tour sein Interesse an afrikanischer Musik.)
Am verblüffendsten wahrscheinlich für viele, weil discographisch nicht dokumentiert: die Qualitäten von Michael Brecker als Schlagzeuger. In Tokio soll er 1980 beim letzten Konzert einer Steps-Tournee tatsächlich Steve Gadd in der zweiten Konzerthälfte ersetzt haben. In den Worten des Steps-Chefs Mike Mainieri: „And, man, he sounded good“.
Noch präzsier - und frappierender - Peter Erskine:
„ Ich habe mehr über den Stil von Elvin Jones gelernt, indem ich Michael beim Schlagzeugspielen zusah. Er zeigte mir ein bestimmtes Elvin-Ding, das wirklich schnell war, und ich hatte keine Ahnung, wie Elvin das hinkriegt“.
Michael Brecker ist im Alter von 57 Jahre verstorben.
Die letzten beiden Jahre seines Lebens waren ein Qual. Und doch hat er ihnen noch ein Album abgerungen, „Pilgrimage“, sein neuntes unter eigenem Namen.
Die entsprechenden Zeilen gehören zu den bewegenden in der Biographie von Bill Milkowski:
„Michael starb am Samstag, den 13. Januar 2007, in einem Krankenhaus in Manhattan, umgeben von Familie und Freunden. Die Todesursache war Leukämie, das Ergebnis seines fast zweieinhalbjährigen Kampfes mit dem myelodysplastischen Syndrom  (MDS). Nachdem Michael seinen letzten Atemzug getan hatte, klatschten die Anwesenden; eine letzte Runde Applaus für den liebenden Ehemann, hingebungsvollen und selbstlosen Vater, mitfühlenden Freund und geliebten und verehrten Tenor-Titanen“.

erstellt: 12.01.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

PS: Eine interessante Rezension, im Hinblick auf die (schwache) Resonanz Breckers in den US-Medien von Ted Gioia.