Philip Watson

Bill Frisell, Beautiful Dreamer

The Guitarist who changed the Sound of American Music

560 Seiten, ca 28 Euro
Faber + Faber, London

Sechs Jahre Arbeit hat Philip Watson aus Cork (Irland) in diese Biografie investiert, darunter fünf längere, mitunter mehrtägige Gespräche mit dem Protagonisten, sowie etliche mit Zeitgenossen, konzentriert u.a. auf elf „counterpoints“. Gemeint sind damit gemeinsame Debatten über bestimmte seiner Alben, u.a. mit Paul Simon, dem verstorbenen Produzenten Hal Willner oder den Mitgliedern von The Bad Plus.
Und wäre nicht die Pandemie dazwischen gekommen, wäre die Biografie wohl pünktlich zum 70. Geburtstag von Bill Frisell erschienen (18. März 2021). Dafür tat der Porträtierte dem Autor den Gefallen, zur Buchpremerie in London zu erscheinen und Ende April auch ein Konzert in Bray, unweit Dublin, zu geben.
In Irland, beim Kilkenny Arts Festival 2014, nahm die Idee zu dieser Biografie ihren Anfang. Und der Zuporträtierende sagte zunächst einmal „no“.
Was sollte schon berichtenswert an ihm sein? "Ich meine, es hat keine Kämpfe gegeben oder so. Und alles, was ich getan habe, war, die letzten 35 Jahre mit derselben Frau verheiratet zu sein."
Grünes Licht gab er nach weiteren Debatten sowie der Zusicherung, das Buch käme unabhängig von einer kreativen oder finanziellen Beteiligung seinerseits zustande.
Was hätte er auch zu befürchten gehabt?
Er ist doch der Mann des „one-in-a-million-sound“, wie Peter Erskine meint, eine in einer endlosen Kette von positiven Stimmen. Oder, in den Worten von Hal Willner:
"Er ist wahrscheinlich der einzige Mensch, bei dem (John) Zorn noch nie ausgerastet ist, und Zorn rastet bei jedem aus. Sogar Musiker, mit denen er gespielt hat und die er seit Jahren kennt. Wie kann man auf Bill wütend sein? Wer zum Teufel kommt nicht mit Bill Frisell aus?"
Zumindest temporär nicht: Manfred Eicher, ECM. Im Januar 1979 (Frisell lebt vorübergehend in Spa/Belgien), lädt Eberhard Weber ihn, nach guten gemeinsamen Erfahrungen in der Band von Michael Gibbs, ins Studio ein, zu den Aufnahmen seines Albums „Fluid Rustle“.
Eicher, so gibt Weber hier zu Protokoll, gefiel rein gar nichts an dieser Aufnahme, und aus Frisells Perspektive klingt es ähnlich:
„Ich glaube nicht, dass ich die Platte ruiniert habe, wahrscheinlich habe ich was halbwegs Dienliches gespielt, aber es war sicherlich nichts, was die Welt verändert hat - und Manfred Eicher war nicht im Geringsten beeindruckt von mir. Ich erinnere mich, wie er aus dem Regieraum kam und zu mir sagte: ´Könntest du einfach mal an John Abercrombie denken?´ Er versuchte, mich dazu zu bringen, stärker zu spielen. Und ich war sehr zaghaft. Im Grunde bin ich danach mit eingezogenem Schwanz weggegangen.“
Ein Wink Eichers mit einer Gitarristen-Empfehlung (diesmal Ralph Towner) wiederholt sich im August 1982, bei der Produktion von Frisells Solo-Debüt „In Line“. Dass der Bassist Arild Andersen ihn dort auf der Hälfte der tracks begleitet, verdankt sich einem spontanen Kompromiss von Produzent und Künstler.
Gleichwohl, gänzlich verloren ging Bill Frisell dem Müncher Label selbst dann nicht, als er es mit eigenen Projekten 1988 verließ. Unter anderer Regie kehrte er immer wieder zurück, verstärkt in den späten 2010er Jahren.
cover Watson Frisell 1

Philip Watson zeichnet en detail das Leben von Bill Frisell nach.
Seine künstlerische Entwicklung wird eng mit seiner sozialen und mit persönlichen Erlebnissen verkoppelt.
Breiten Raum nimmt dabei seine doppeldeutige Rolle als Träumer ein.
„Dream“ ist ein Begriff, den er in den Titeln mancher seiner Stücke variiert, ein Trio ist so benannt, so sehen ihn die Kollegen. Und sie meinen es gut damit.
Die andere Seite des Träumers, die schicksalhafte, die eher negative - sie beschreibt einen Menschen, der unsicher erscheint, unbeholfen, verletztlich.
So nimmt die Umwelt ihn wahr - und das entspricht auch seiner Innensicht. Er enthüllt sie bis an den Rand der Selbstdestruktion.
Watson breitet umfänglich eine Art Kompensationsthese aus (wir haben einen führenden Musikpsychologen gefragt: wissenschaftlich ist das Gebiet noch unbeackert).
Demnach bleiben Frisells offenkundige Mängel in der sprachlichen Kommunikation (an einer Stelle gibt er eine Frisell-Antwort ungefiltert im O-Ton wieder) in der Musik völlig aus.
Während er sprachlich-gedanklich wie ein Verwandter von Martin Walser mäandert („eine Sache immer auch von ihrem Gegenteil her denken“), blüht er in der Musik auf:
„Die Kraft der Musik und die Anziehungskraft, die von ihr ausgeht, sind so stark, dass sie alle anderen Gedanken aufwiegen, die ich darüber habe, ob es mir peinlich ist, vor Leuten zu stehen oder so. (…) Ich habe mehr Angst im normalen Alltag“.


"Einer der hartnäckigsten Menschen"

Inzwischen ist er 71. Philip Watson verschweigt nicht, ja stellt geradezu heraus die Misserfolgserlebnise, die Demütigungen der frühen Jahre. Anders als viele seiner Kollegen traut er sich erst spät, sein Nebeninstrument zur Hauptsache zu machen; nachdem er es auf Klarinette und Tenorsaxophon schon zu Abschlüssen gebracht hat, ist es ausgerechnet Gary Burton, der ihn überzeugt, sich allein auf die Gitarre zu konzentrieren.
Der Vibraphonist Burton, bekannt als großer Gitarristen-Kenner, er steht wie kein zweiter für die Kaderschmiede des Jazz, die Berklee School of Music in Boston.
Im Gegensatz zu vielen Kollegen - beispielsweise Pat Metheny, John Scofield, John Abercrombie - schafft Bill Frisell Berklee erst im zweiten Anlauf.
Prägender sind für ihn acht private Lehrstunden bei Jim Hall. Und er ist schon 25, als er diesen Einfluss abschütteln kann:

"Plötzlich war ich ... der angesagte Gitarrist. Das ist das erste Mal, dass ich mich daran erinnere, dass mir jemand sagte, dass er noch nie so einen Gitarrensound gehört hatte.“
Das war 1976, noch in Boston. Viele Erfolge, aber auch manche Demütigung liegen da noch vor ihm. Wie hält er das durch?
Die Violinistin Jenny Scheinman, mit der er seit 1998 arbeitet, zieht den „Dreamer“-Vorhang beiseite:
"Ich glaube, Bill wird oft als weicher Mensch missverstanden, als nur freundlich und sanft und großzügig und gut. Er ist auch jähzornig, leicht zu verletzen, tratscht gerne, ist an Konfrontationen interessiert, ist ein leidenschaftlicher Feminist und sehr, sehr hart. Ich habe ihn noch nie etwas oder jemanden aufgeben sehen. Ich glaube, er ist einer der stärksten Menschen, die ich kenne.“
Der Schlagzeuger Paul Motian (1931-2011) charakterisiert ihn in diesem Zusammenhang als „einen der hartnäckigsten Menschen, die mir je begegnet sind“.
Ein Ausweis dieser Eigenschaft zeigt sich in 28 Alben und zahllosen Konzerten, die Frisell über 30 Jahre lang mit Motian verbinden, anfänglich unter großem Unverständnis der Kollegenschaft. Sie konnte nicht nachvollziehen, dass der Träumer dafür einen lukrativen Job bei Jan Garbarek sausen lässt.

Jazz-guitar up and after Bill Frisell

„Bill is like nothing else – there’s jazz guitar up until Bill Frisell, and then there’s [jazz guitar] after Bill Frisell“, so zitiert Watson Dave King, den Schlagzeuger von The Bad Plus (2017).
Das klingt neben Watsons Untertitel „The guitarist who changed the sound of American music“ wie eine weitere verbale Schleife, analog zu den raffinierten delays, die u.a. den Sound dieses Musikers ausmachen.
Dieses Gerät, das Frisell 1983 entdeckt (ein Electro Harmonix 16-Second Digital Delay) und für sein Spiel als „größeren Moment“ bezeichnet, bleibt nicht unerwähnt.
Denn Philip Watson ist ein glänzender Rechercheur, ein guter Erzähler, aber nicht in gleichem Maße auch ein überzeugender Erklärer.
Was den Stil von Bill Frisell denn nun wirklich ausmacht, worin er sich von anderen, nicht minder Einflussreichen unterscheidet - in der einen oder anderen Quelle klingt es an; beispielsweise in einem Beitrag von Marc Ribot für das BOMB Magazine 2002:
„Es erfordert eine enorme Berechnung, um die pianistischen Harmonien, die Bill verwendet, auf ein sechssaitiges Instrument zu übertragen. Und jeder Gitarrist, der Frisell jemals gehört hat, fragt sich, wie er es schafft, dass seine Gitarre Töne erzeugt, die beim Aushalten in der Lautstärke anschwellen, wie bei einem Geiger oder Hornisten, anstatt stetig zu verklingen, wie die Töne auf allen anderen Gitarren“.
Auch die elf counterpoints, in denen - eigentlich eine schöne Geste - der Autor mit Frisellisten von Paul Simon bis Gavin Bryars einzelne Alben diskutiert, erweisen sich weniger als Kontrapunkte, sondern als Ergänzungen, in denen die Gesprächspartner mehr mit Begeisterung als mit Analyse glänzen (was insbesondere im Falle Ethan Iverson auffällt).
Aber, Philip Watson hat eine Biografie verfasst, keine Monografie. Man erfährt (fast) alles, was man schon immer über Bill Frisell wissen wollte. 560 Seiten wollen erst mal verdaut werden.
Ein ausführlicher Index (in der Printversion) erleichtert das (in der e-Pub-Version ist er unbrauchbar).
Leider aber fehlt eine Discografie, wenigstens doch eine Auswahldisco von Frisells eigenen Alben wäre hilfreich gewesen.

erstellt: 02.05.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten