BOB GLUCK Pat Metheny: Stories beyond Words

Bob Gluck

Pat Metheny: Stories Beyond Words
198 S. 26.99 € Paperback, 27.99 € eBook
University of Chicago Press. 2024
ISBN 978-0-226-83445-0

Nicht überall scheint die Einsicht verbreitet, Jazz in seiner Eigenschaft als Kunstmusik sei auch einer akademischen Behandlung wert.
Erstaunlicherweise bei UK Jazznews bringt ein Autor seine geschmacklichen Präferenzen (er sei in den 80ern steckengeblieben, und „je mehr Metheny seine bevorzugten orchestralen Effekte einzusetzen versucht, desto weniger ansprechend wird die Musik“) gegen dieses Buch in Stellung.
Zunächst mokiert er sich still über die Beobachtung eines Besuchers: „Oh, du liest ein Buch über Pat Metheny, das erklärt, wie seine Musik funktioniert.“ Und über dessen vorurteilsschwere Konklusion: „Also, wenn die Musik jemanden braucht, der erklärt, wie sie funktioniert, dann funktioniert sie offensichtlich nicht wirklich so, wie Musik funktionieren sollte“.
Nach einigen Pros & Cons schließt er seine Rezension mit dem trockenen Satz „Aber es stellt sich heraus, dass ich mit meinem Besucher vielleicht eher einer Meinung bin, als ich zunächst dachte.“
Nun denn; wenn man - nach Meister Enzensberger - ein Buch auch gegen die Absichten (s)eines Autors lesen kann, erscheint selbst eine solche Lesart als legitim. Auch wenn sie von der schrägen Prämisse ausgeht, eine Musik müsse offenbar auch ohne Erklärung „funktionieren“ (was immer das bedeuten mag).
Was man schon immer über die Musik von Pat Metheny wissen wollte - und nicht zu fragen wagte, bzw. keine Adresse dafür fand, hier findet man es. Ob man sie nach der Lektüre von „Stories Beyond Words“ mag oder nicht oder doch schon vorher, ob sie also für einen persönlich „funktioniert“, steht auf einem anderen Blatt.
cover gluck methenyBob Gluck, 69, hat offenkundig den 70. Geburtstag von Pat Metheny (12.08.24) zum Anlass für diese Publikation genommen, vorauf gingen  u.a. Bände zu „Herbie Hancock Mwandishi Band“ und „Miles Davis The Lost Quintet“. Der Professor emeritus an der Universität Albany/NY ist mit der Musik von Pat Metheny auch aus eigener Praxis als Keyboarder vertraut.
Im Gegensatz zu Mervyn Cooke (Nottingham), der sich 2017 auf „The ECM Years, 1975-1984“ beschränkte, nimmt er das gesamte Œuvre des Gitarristen unter die Lupe, von „Bright Size Life“, 1976, bis „Road to the Sun“, 2021.
Obwohl Gluck damit also den Fokus um Jahrzehnte weiter aufzieht, dampft er deren Wesenskern von Methenys Musik - wie Cooke - auf „Narration“ ein, auf ihren „erzählerischen“ Charakter, was schon der Titel andeutet: „Stories beyond Words - Geschichten jenseits aller Worte“.
Gluck hat auch Peter Kivy gelesen (die kritische Haltung der Musikphilosophie in dieser Frage ist ihm also nicht unbekannt), aber beim Ausschmücken des Narrativen geht ihm mitunter der Gaul durch.
„Obwohl (Musik) keine konkreten Ideen artikulieren kann“, spürt er doch beim Hören von „America undefined“ (aus „From this Place“, 2020) bange Fragen in sich aufsteigen: „Gehen wir kollektiv und gemeinsam voran? Ist der Weg, der vor uns liegt, absehbar?“
In dem 5/8-Takt des Stückes meint er „eine gewisse Spannung und Instabilität“ zu vernehmen.
Wenig später pfeifft er sich, selbstverständlich, zurück:
„Er (Pat Metheny) mag konkrete Vorstellungen von dem Wirrwarr haben, denen dieses Land immer wieder ausgesetzt ist. Er mag auch eine Vision davon haben, welche Charaktereigenschaften dieses Land befähigen, als ein Volk zu bestehen. Aber diese Ideen zu erzählen, ist nicht seine Aufgabe als Komponist. Seine Aufgabe ist es vielmehr, musikalische Ideen zu projizieren.“
Dass und wie ihm das gelingt, legt Gluck sehr en detail dar, mit eigenen Analysen, mit vielen Notenbeispielen, mit noch mehr Zitaten aus Gesprächen (allein mit Metheny deren acht) und vielen anderen Quellen.
Bob Gluck ist Pat Metheny-Fan, und er schreibt auch so. Das schadet seinem Projekt keineswegs. Sein „interpretierendes Hören“ dürfte auch diejenigen besänftigen, die durch die vielen Notenbeispiele eher abgeschreckt werden.
Er vermittelt anschaulich, wie diese Musik in ihrer oft leichten Zugänglichkeit von einer „komplexen“ Architektur getragen wird.
Eines ihrer Merkmale,die „Hybridisierung von Komposition und Improvisation“, hört er bei „As Falls Wichita, So Falls Wichita Falls“, 1981, einsetzen und sich bis zu „Road to the Sun“, 2021, durchziehen.
„Für Pat Metheny stellen Komposition und Improvisation jeweils eine breite Leinwand dar, auf der er sich mit einer ganzen Reihe von Merkmalen auseinandersetzt, darunter klangliche, melodische, dynamische, kontrastierende und zeitliche. Sein kompositorisches Schaffen ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung, die von dem Wunsch geprägt war, musikalische Formen zu erforschen, die ihm den Raum gaben, sich der Improvisation auf eine Weise zu nähern, die nicht mehr von den Konventionen in den Jazzformen seiner Jugendjahre bestimmt war.“
Komposition und Improvisation wachsen in seinem Falle auf dem gleichen Nährboden: Melodik, eine sehr spezifischen Melodik. Metheny datiert sein Interesse daran auf die früheste Kindheit („Ich habe zwei Jahre lang „Red Sails in the Sunset“ gesungen, bis alle mich umbringen wollten.“) Genauer:
„Für mich hat Klang und der Ausdruck durch Klang immer mit Melodie zu tun. Für mich erscheint die Melodie auf viele verschiedene Arten. Jedes Gespräch, jedes Erlebnis, wenn ich auf der Straße gehe, jedes Erlebnis, wenn ich ein Flugzeug abheben höre, Mülltonnen, die eine Treppe hinunterfallen - all das nehme ich als Melodie wahr. Das hat sich im Laufe der Zeit immer mehr zugespitzt. Man kann Melodie überall finden, wo man sie sucht.“
Eine Folge daraus: die motivische Improvisation, ein dominantes Metheny-Merkmal, entwickelt aus den frühen Vorbildern Ornette Coleman und Wes Mongomery. Letzteres Solo in „If You Could See Now” (1965) nennt er „the greatest guitar solo I have ever heard“.
Der normale Fan dürfte diese Beschreibung von Gluck für nachvollziehbarer halten:
„Metheny ersetzte Colemans flüchtige Herangehensweise an das musikalische Material - kurze Motive und kontinuierliche melodische Erfindungen - durch ein anderes Ziel: aus einer kleinen Sammlung von Motiven und Varianten ein einziges organisches Ganzes über einen langen Bogen aufzubauen. Methenys musikalisches Motto ´erzähle eine Geschichte´ spiegelt diesen Ansatz wieder“.
Bob Gluck verwendet ein ganzes Kapitel auf den Gitarrensound von Pat Metheny, wir erfahren en detail den Signalverlauf von dessen „modulated delay“, aber eigenartigerweise so gut wie gar nichts über sein ambitioniertestes Projekt, sein „robotic“ „Orchestrion Project“. (Das Album „Orchestrion“ fehlt in der Discographie).
Unter der vielen Literatur, die er zitiert, ist leider nicht Gary Marcus´ famoser Wissenschaftsreport „Guitar Zero“ (2012), darin der Hinweis, dass Pat Metheny ein je 6-8seitiges, musikalisches Tagebuch führt, in dem er festhält, was funktioniert hat und was nicht. Ein aufschussreicher Hinweis auf das Arbeitsethos eines Musikers, der über seine Stücke sagt, sie seien zu 100 Prozent „rückwärtskompatibel“, eine schöne Umschreibung für „Personalstil“.
Würde man „Pat Metheny: Stories Beyond Words“ zu den New Jazz Studies zählen können? Zu dem großen Zweig des Wissenserwerbs über Jazz, der mit „Constructing the Jazz Tradition“ (1991) von Scott DeVeaux beginnt und weniger eine Richtung als vielmehr ein Feld der Forschung bezeichnet?
Wahrscheinlich eher nicht, die Kanon-kritische Haltung dort würde eine solche Zuordnung kaum glaubhaft erscheinen lassen. Denn Gluck beschreibt und beglaubigt ja doch einen wesentlichen Teil des Jazz-Kanons.
Insofern haben wir hier im besten Sinne ein Produkt der Old Jazz Studies vor uns.
erstellt: 11.12.24
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