Der Jazzreporter der „Zeit“, Ulrich Stock, ist in Urlaub.
Hinter seinem Rücken schreibt die Redaktion die Jazzgeschichte um. Erneut.
Vor ein paar Jahren tauchte aus einer solchen Umwertung die Pianistin Johanna Summer hervor.
Jetzt, in der Ausgabe 27/2023, betätigt sich Navid Kermani als Jazzhistoriker.
Der Schriftsteller wird geschätzt, auch als politischer Kommentator; in seiner Wahlheimat Köln wird er verehrt. Steht sein Name auf den Plakaten, füllen sich Kirchen und Theatersäle im Nu.
In den letzten Monaten ist Kermani für die „Zeit“ viel in Ostafrika unterwegs.
Auf einer Autofahrt durch Amhara im Norden Äthiopiens hört er „Amhara Classics“.
Er braucht ein paar Minuten, bis er in der Compilation Teile einer Platte von Mulatu Astatke erkennt, „die ich zu Hause in Köln so oft auflegte“:
„New York - Addis - London. The Story of Ethio Jazz 1965-1975.“
Ein solcher time-lag der Rezeption ist völlig vormal. Was haben wir alles nicht sogleich wiedererkannt…
Als Kermani zwei Tage später in Addis Abeba Astatke trifft und ihm seinen kleinen faux pas beichtet, ruft dieser aus:
„Jazz ist afrikanisch! - Du kanntest wohl meine Verwandten nicht.“
Kermani ist als Reporter unterwegs. Da hört man erst mal zu, bevor man widerspricht. Oder in die Archive abtaucht, und sei es auch online.
Zumal, Mulatu Astatke, 79, nun wirklich kein unbeschriebenes Blatt ist. Er war der erste afrikanische Student am Berklee College of Music in Boston. Er hat in New York Latin Jazz aufgesogen und das (Jazz)Vibraphon in seine Heimat importiert, er ist in Moers aufgetreten und hat 1971 mit Duke Ellington gespielt.
Wenn Jazz afrikanisch sei, fragt Kermani, seien es dann auch aktuell die Musiker aus Astatkes Band?
Nein, erfährt er; die meisten kämen aus Europa und Amerika; Technik, Bildung und Talent machten einen Unterschied - aber nicht die Hautfarbe; „der Jazz lasse sich nicht aufteilen in weiß und schwarz“.
Das wäre im aktuell sich aufschaukelnden Jazzdiskurs schon mal eine bemerkenswerte Position, zumal von einem Schwarzafrikaner.
Bevor Astatke so richtig auf Betriebstemperatur kommt („Wer war zuerst da, die Deraschi oder Charlie Parker?“), gibt Kermani dessen jazzhistorischen Entwurf in indirekter Rede wieder:
„Wenn Charlie Parker oder John Coltrane improvisieren - was passiere da? Sie kombinierten die zwölf Töne des Westens mit afrikanischen Tonleitern, etwa aus der traditionellen Musik der Deraschi, eines Volkes aus dem Süden Äthiopiens.“
Voila! Das ist mal eine Ansage!
Abgesehen davon, dass sich unsereins fragt, wie sich denn wohl diese Skalen verknüpfen und warum dies bislang ungehört blieb, ist ja in unserer kleinen Welt kaum jemand so gut erforscht wie John Coltrane und Charlie Parker.
Und wenn einer über letzteren etwas weiß, dann Thomas Owens. Eine Suche nach „ethiopian“ und „deraschi“ in seiner berühmten Dissertation über Parker (1974) bricht freilich schon nach den ersten Buchstaben ab.
Aber, da ist ja noch Hendler, der östereichische Musikethnologe Maximilian Hendler. Wir lesen gerade seine jüngste Veröffentlichung „Prehistory of Jazz“ (Rezension demnächst hier).
Das Buch enthält mehrere Trigger-Warnungen, und es wird - soviel lässt sich jetzt schon sagen - die gängigen Auffassungen zur afro-amerikanischen Musik ordentlich durchschütteln.
Was sagt Hendler zu unserem Thema?
„Deraschi“ taucht auch bei ihm nicht auf. Das wäre auch ein Wunder. Denn wenn jemand die Musik zahlloser Ethnien kennt, afrikanischer, asiastischer, europäischer, dann der Hendler aus Graz. Das Alt-Europäische spielt in seiner Jazz-Historie eine bedeutende Rolle.
Wohl findet man „Ethiopia“ bei ihm, aber nicht im Sinne Astatkes, entsprechende Bezüge „have nothing to do with the emergence of jazz“.
Wie könnte es auch anders sein?
Die wohl kräftigste Sprengwirkung von Hendler entfaltet sich mit dieser Aussage:
„If there is anything ´African´ at all in African American music - it´s in the blues, despite its English name.“
Stay tuned!
erstellt: 27.06.23
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