Herbie Hancock, Klavierfestival Ruhr, Philharmonie Essen

Wie klingt das, wenn jemand sich auf seinen Lorbeeren ausruht?
Es klingt wie bei Herbie Hancock in der Philharmonie Essen, beim Klavierfestival Ruhr.
Damit wir uns nicht missverstehen: die Jazzpolizei hat nicht die Absicht, von dem Pianisten in seinem 86. Lebensjahr zu erwarten, dass er „Actual Proof“ in der tight funkiness hinkriegt wie fast auf den Tag genau vor 50 Jahren im Nakano Sun Plaza zu Tokio.
Sie teilt den Wunsch des Publikums, dass es vielversprechend erscheint, einer solche Person der Jazzgeschichte noch einmal zu begegnen; unter der Bedingung seines Lebensalters. Bei Preisen bis zu 140 Euro ist das Haus denn auch bis unter die Decke ausverkauft.
Und es wirkt, als Hancock die Bühne betritt, als schreite er durch einen Lorbeerwald. Schon Halbsätze reichen für rauschenden Beifall. Wow, wieviele Stücke habe er doch in all den Jahrzehnten geschrieben … man möge bitte nicht erwarten, sie heute Abend in den Original-Arrangements zu hören … er würde sich sonst langweilen.
Schon vor dem ersten Ton ist sie da, diese spezifische Onkelhaftigkeit, das ausgesprochen bräsige Zelebrieren von Selbstverständlichkeiten. Das Publikum liegt ihm zu Füßen. Und Onkel Herbie weiß, wie er es dorthin kriegt. Die Ränge hinter seinem Rücken, in Essen „Chor“ genannt, toben vor Vergnügen, als er sie entdeckt und gesondert begrüßt.
Was für ein Unterschied zu Brad Mehldau an selber Stelle vor vier Monaten.
Mehldau trat in einer Haltung von Demut vor das Auditorium - und machte sich dann an die Arbeit.
Aber vor allem, was für ein Unterschied in der Hauptsache, in der Arbeit am Flügel!
Mehldau spielte, soweit erinnerlich (das Foto in JC stammt nicht von jenem Abend), einen Steinway.
Hancock Philharmonie Essen 2025   1Hancock hat man wieder einen Fazioli dahingestellt, seine Exklusivmarke. Besser also können die instrumentellen Möglichkeiten nicht sein.
Nach den ersten Tönen aber sind wir entsetzt: zu laut, zu flach, zuviel Höhen.
Nun befinden wir uns aber nicht irgendwo, wir befinden uns an einem Spielort des Klavierfestivals Ruhr, hier sind auch Martha Argerich und Igor Levitt zu Hause, hier ist ein solches Klangbild völlig unverständlich.
Vermutlich handelt es sich aber nicht um ein Problem der Festivallogistik, weniger auch um ein Problem des Hauses (zwar haben es Jazzschlagzeuger in der Philharmonie Essen schwer; Dave Weckl (bei Chick Corea) und Justin Faulkner (bei Branford Marsalis) haben es aber in den Griff gekriegt) - ziemlich sicher handelt es sich um ein Problem von Hancocks tontechnischer Entourage.
Vor Jahren klang es bei ihm, auf derselben Bühne, genauso nervig. Da hatte er einen Schlagzeuger (die Jazzpolizei hat seinen Namen wohlvergessen), der trommelte wie im Stadion. Jetzt hat er einen neuen: Jaylen Petinaud, 26, (nicht nur physiognomisch Dennis Chambers verwandt, er kann also spielen!). Und dieser junge Mann („die Zukunft des Jazz“ laut Hancock) bedient mit großer Freude zwei crash cymbals - die fast alles andere zudeppern.
Die fünfsaitige Baßgitarre von James Genus: meist ein Wummern, untenherum, Tonhöhen schwer zu identifizieren.
Die siebensaitige Gitarre von Lionel Loueke: im Ensembleklang oft unhörbar. Ansonsten erliegt der gebürtige Westafrikaner, der auch ganz anders kann, seinem Hang zu gimmicks. Die Singstimme anderthalb Oktaven nach unten … boauuuuh.
Nämliches gilt für Terence Blanchard: kein Ton, wirklich keiner, ohne Harmonizer, sprich: ohne Stimmdopplung oder sonstwie Verbreiterung. Und das bei einem Trompeter, der nun wirklich einen Ton hat und nicht lediglich einen Sound.
Als die Band dann „Footprints“, den berühmten Blues von Wayne Shorter, spielt, nein ausflätzt, wird ihr Problem überdeutlich - weil sie, wohl unfreiwillig, auf ein Modell verweist, wie man es anders machen konnte.
Wayne Shorter, eine gleichrangige Person der Jazzgeschichte, hat in einem vergleichbaren Alter eine wiederum jazz-historisch gewordene Methode gewählt, seine eigene Retrospektive auszustellen.
Die physischen Mühen waren dem Saxophonisten deutlich anzumerken. Die eigentliche Arbeit hat er an ein hellwaches, jüngeres Trio delegiert, unter einer absolut genre-immanenten Bedingung, nämlich des Improvisierens, des Jonglierens von und mit Bestandteilen aus (s)einem großen Werk.
Undenkbar auch, dass ein Wayne Shorter nach 90 Minuten auf die Uhr geschaut und - absoluter show stopper - obendrein noch zwei Bühnentechniker mit der - unbeantworteten - Frage beschäftigt hätte, ob er jetzt das Konzert beenden solle oder nicht.
Als ob irgendjemand beim Klavierfestival Ruhr in der Philharmonie Essen auf die Idee hätte kommen können, einem Herbie Hancock ein solches Limit zu setzen. Es war der peinlichste Moment der Zwei-Stunden-Show.

erstellt: 10.07.25
korrigiert: 10.07.25 die Fazioli-Passage. Dank an Felix Hauptmann.

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