KONRAD HEILAND, Hrsg.
Kontrollierter Kontrollverlust

Jazz und Psychoanalyse
Giessen 2016, Psychosozial Verlag
340 Seiten, 32,90 Euro
ISBN 978-3-8379-2530-2

Dieses Buch kommt nicht aus dem zentralen deutschen Jazz-Diskurs.
Den Herausgeber sowie die meisten seiner Autoren/innen hat man nicht auf den einschlägigen Foren gesehen, nicht beim Jazzforum in Darmstadt beispielsweise, von internationalen Konferenzen zu schweigen.
Das muss kein Nachteil sein. Daniel Martin Feige und die Philosophen aus seinem Umkreis waren dort auch nicht präsent, und doch wurden sie, insbesondere Feige, in der deutschen Jazzszene rezipiert, ja sie haben die hiesige Jazzdebatte anschlussfähig gemacht an den internationalen Diskurs.
„Jazz und Psychoanalyse“ hat es demgegenüber schwerer; wer kennt schon jemanden, der dieses Thema drauf hat?  Die Zeiten, wo ein Freud-Zitat Distinktionsgewinn garantieren konnte und Wilhelm Reich´s „Funktion des Orgasmus“ auf den Nachttischen lag, liegen Jahrzehnte zurück.
Hingegen erscheint das Feld „Musiktherapie“ als aktuell; der Herausgeber Konrad Heiland, 61, geht ihr als „ärztlicher Therapeut“ und „klinischer Musiktherapeut“ beruflich nach (und über Joachim-Ernst Berendt greift er darauf in einem eigenen Kapitel zurück.)
Auch der Haupttitel Kontrollierter Kontrollverlust scheint gut gewählt und sozusagen „genre-übergreifend“ anschlussfähig, immerhin verwendet ihn auch einer der führenden deutschen - empirischen - Musikpsychologen, Reinhard Kopiez (Hannover), der mit Heiland in vielem sicher über Kreuz liegt. Und mit diesem Motto lässt sich auch eines der Hauptergebnisse der neurologischen Improvisationsforschung überschreiben, wonach im präfrontalen Kortex des improvisierenden Musikers Bereiche „abgeschaltet“ sind, die für Kontrolle der Gedanken stehen (Limb & Braun, 2008).
Um es vorwegzunehmen: weder den Haupt- noch den Untertitel kriegen Heiland & Autoren in einer Weise in den Griff, die man auch nur annähernd als plausibel oder nachvollziehbar bezeichnen möchte, von überzeugend oder gar einnehmend für die Psychoanalyse ganz zu schweigen.
Sie bleibt nach wie vor - um es freundlich zu wenden - eine Gedankeninsel, die man widerspruchsfrei nur betreten mag, wenn man vorher Präzisionsinstrumente wie genaue Begriffsbestimmungen und historische Sachkenntnis an Bord zurück gelassen hat.
Das geht schon los mit Beschreibungen des Genres oder Tatsachen, die weit vor jeder weiter führenden Interpretation Gemeingut sein sollten.
Für den Herausgeber z.B. „erzeugt der geniale Schlagzeuger Tony Williams in Tateinheit mit dem Gitarristen John McLaughlin einen ungeheuren Drive, bevor die Trompete von Miles Davis dem aggressiven Rock-Sound eine feine Krone aufsetzt“ (S. 16).
Über die unsichere Formulierung - übrigens ein Kontinuum der Texte des Herausgebers - mag man lächeln, der gesetzte Zeitpunkt ist falsch: zu Zeiten des gemeinten Albums „Jack Johnson“, 1970, hatte Tony Williams mit Miles nichts mehr zu tun.
Rashied Ali gibt Heiland als einen „arabische(n) Avantgarde-Schlagzeuger“ aus (S. 163) - der Coltrane-Begleiter hieß bürgerlich Robert Patterson, lebte und starb in Philadelphia.
Joachim Ernst Berendt, noch so eine Heiland-Schote, sei „im engeren Sinne kein Kritiker gewesen, eher ein Autodidakt und Dilettant…“ (S. 161). Und dann schiebt er auf derselben Seite noch diesen verbalen Wackeldackel ins Bild: „…aber auf jeden Fall wäre er als öffentliche Figur ohne die Jazz-Musiker und ihre Schöpfungen nicht in Erscheinung getreten. Dabei hat er durchaus seine Meriten davongetragen und etliche Lasten auf seine Schultern geladen“.
Den Gipfel der Gedankenschluderei aber erklimmt er auf Seite 206:
"Jarrett spielt nicht nur Klavier, sondern er hört sich dabei gleichzeitig selber zu."
Moment, wir sind hier nicht in der Realsatire, sondern beim Psychosozial Verlag.
Ja, hat´s denn dort  keinen Lektor, der wenigstens solche logischen und sprach-stilistischen Schnitzer ausgebügelt hätte, z.B. die Rede „von der Versklavung (des Menschen) durch die Natur“? (S. 165).

Joachim Ernst Berendt & Musiktherapie

Apropos JEB, Heiland erkennt in ihm keinen geringeren als einen „Säulenheiligen der Musiktherapie“ (S. 167). Ein Anruf beim europäischen Musiktherapiekongreß, der zum Veröffentlichungszeitpunkt des Buches in Wien stattfindet, ergibt eine klare Null-Meldung:
„Berendt wurde nicht zur Begründung für MT herangezogen“, was nicht ausschließe, dass „es ein paar MT gibt, die diesen esoterischen Bezug zu Berendt wollen“.
Wie steht es aber nun um den Kern des gesamten Unternehmens, wie steht es um Jazz & Psychoanalyse?
Dass beide etwa zum gleichen Zeitpunkt entstanden sind (die Psychoanalyse laut Wikipedia „um 1890“), wird nicht mal ein so penibler Forscher des Afroamerikanischen wie Maximilian Hendler („in den Jahren vor und nach 1900“ die Entstehung des Jazz) in Frage stellen.
Aber was folgt daraus?
Zwei Phänomene, ungefähr zum gleichen Zeitpunkt aufgetreten, verbindet allein dadurch nichts. Auch der Spannbeton entstammt diesem historischen Zeitfenster, und wohl noch niemand hat Verbindungslinien zum Jazz gesucht. Es müssen Ähnlichkeiten gefunden werden, Analogien, Parallelen, Phänomene, die Verwandtschaften zum Ausdruck bringen.
Was die Psychoanalyse betrifft, so kommt die Suche von Heiland & Co. gerade noch rechtzeitig, denn „nach über 100 Jahren scheinen Psychoanalyse und Jazz ihre Blütezeit hinter sich zu haben“ (S. 45).
cover heilandDie „Parallelen“ zwischen Psychoanalyse und Jazz sieht der Herausgeber so: „In der Aufforderung des Analytikers an den Patienten, alles zu erzählen, was ihm gerade so durch den Kopf geht, steckt so etwas wie eine Ermunterung zur Improvisation über die Themen des eigenen Lebens“ (S. 19).
Nun gut, hier müsste nun wirklich ein gedankliches Seziermesser angesetzt und en detail überprüft werden, ob dieser Prozeß im Rahmen einer Erkrankung substanziell etwas mit dem gleichbenannten Vortrag eines Jazzmusikers zu tun hat.
Und diesen nicht - Grundfehler fast aller Autoren - auf ein Element (das noch nicht einmal jazz-eigen ist) reduzieren: die Improvisation.
(Im Grunde müsste der Band heissen „Jazzimprovisation und Psychoanalyse“.)
Stattdessen aber geht Heiland der Gaul durch:
„Jazz und Psychoanalyse formulieren ein Plädoyer für die Offenheit, die Unabgeschlossenheit, die Weitung des Raumes, die Geduld und die Ausdauer, die unendlichen Variationen, die Lösung von Fixierungen, das Infragestellen als Grundhaltung, den fortwährenden demokratischen Prozess, die Leichtigkeit im Schweren, die Lust am Detail, die Auseinandersetzung mit sich und der Welt, die Skepsis gegenüber allzu schnellen, voreiligen Lösung.“
Der Gaul, der ihn hier von jeder Präzision abhält, heißt Aneinanderreihung von willkürlichen Analogien. Er säuft praktisch ab geblendet von Oberflächenreizen, ohne je genauer unter die Wasseroberfläche zu schauen.
Und doch hat er an dieser Stelle den größten glitzernden Klunker noch gar nicht ausgepackt: die sagenhafte „Freiheit“, die dem Jazz irjenswie innewohnen soll.

Notation als Gefängnis...

Nirgendwo sonst tönt die Freiheits-Fanfare lauter als auf den 340 Seiten dieses Bandes:
„Für Flow und Groove ist Notation das Gefängnis, aus dem der Jazzmusiker auszubrechen ersehnt. Eine Jazznummer, die vollends auskomponiert ist, verliert nicht nur ihren Freiheitscharakter, sondern wird auch nicht mehr als Jazz wahrgenommen (sie gilt dann höchstens als moderne Klassik oder freizügiger Pop)“, Hannes König in seinen „Überlegungen zur affektiven Wirkung von Jazzmusik“ auf Seite 136.
Bevor man sich vollends wegwirft vor Lachen, sollte man schon nicht übersehen, dass der Flow, also der Kernbereich des „kontrollierten Kontrollverlustes“, diesem psychoanalytischen Kunsttheoretiker aus Österreich durchaus bekannt ist. Aber er kann wenig damit anfangen, so wenig wie die Bremer Psychoanalytikerin Antje Niebuhr, der laut Herausgeber die Aufgabe übertragen ist, nach den Bedingungen zu fragen, „unter denen ein erwünschter Kontrollverlust möglich wird“. Hier wird, mit anderen Worten, die zentrale Begründung des Unternehmens in Aussicht gestellt.
Frau Niebuhr zitiert zwar einen der besten deutschen Jazztheoretiker, Peter Niklas Wilson, kurz danach aber einen John Eyles von „All About Jazz“ mit einem Satz, der Wilson in seinem Grab zum Rotieren brächte:
„Free Improvisation is playing without memory.“
Einem solchen Unfug hat der Wiener Jazzkomponist Franz Koglmann den schönen Schmäh entgegensetzt, wer etwas aus dem Ärmel schüttele, der müsse es auch vorher hineingebracht haben. Oder im Volksmund „von nix kommt nix“.
Zwar ist auch Frau Niebuhr „die technische Versiertheit des Musikers auf seinem jeweiligen Instrument“ nicht entgangen, gleichwohl beschreibt sie den „Now-Moment“ wie das Zentrum einer Magical Mystery Tour.
Und, wie anschlussfähig an die überbordende angloamerikanische Literatur sind folgende Wortgirlanden?
„Die Gleichzeitigkeit von nachlassender Kontrolle und Durchlässigkeit in Richtung auf Primärprozesshaftes, Archaisches mit dem parallelen Aufrechterhalten von Ich-Fertigkeiten und hoher Konzentration, und damit den Qualitäten des Sekundärprozesshaften, erschafft ein psychisches Ambiente, in dem Vergangenheit und Zukunft zusammenschmelzen und den schöpferischen Akt ermöglichen“ (S. 101).
Tja, wo dergestalt Vergangenheit und Zukunft zusammenschmelzen - und nur dort! - „befreit improvisierte Musik als emanzipatorische künstlerische Erfahrung von tradierten und klischierten Wiederholungen“ (S. 104). Wir Nicht-Gesalbten wissen aus diversen Gegenwarten von ganz anderen Hörerfahrungen zu berichten: dass nämlich ein Großteil improvisierter Musik just aus jenen „klischierten Wiederholungen“ besteht.

Vom Gelingen einer Improvisation

Nicht alle Beiträge sind dermaßen unberührt von Sachkunde, z.B. der von Daniel Martin Feige nicht. Und man wundert sich, wie er in diese Kollektion geraten ist.
Feige gibt sich nicht lange mit Psychoanalyse ab, mit Verweis auf zwei Autoren (Zizek und Zupancic; letztere nicht identisch mit dem vormaligen Getränkelieferanten des Moers Festivals) zeigt er, dass er mit „psychoanalytischer Theoriebildung“ vertraut ist.
Er steigt ein mit Sätzen, die den Rezensenten mehrfache ins Nicken bringen, und die quer stehen zu anderen „Erkenntnissen“ dieses Bandes, beispielsweise die Feststellung, „dass Improvisation eine Fähigkeit ist, die durch Übung erworben wird“, der Improvisator also nicht - wie Niebuhr mit Eyles meint - „ohne Gedächtnis“ vor sein Publikum tritt.
Der steile Anstieg zum allseits einleuchtenden Schluss von Feiges Essay („Jazz als Artikulation und Exemplifikation von Unverfügbarkeit“), nämlich:
„Jazzimprovisationen etablieren autonome Formen ästhetischen Gelingens, die eine andere Art der Rationalität zeitigen als die Rationalität einer auf ökonomische Effizienzsteigerung und Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft“ -
ist gepflastert von allerlei Spitzfindigkeiten. Sie mögen inside philosophy stimmig sein, die jazz community aber rätselt und fragt: „where is the beef?“
Sprich, wie kann ich Feiges Überlegungen zum Gelingen einer Improvisation in die Alltagspraxis einsickern lassen; beispielsweise nach einem Konzert, wenn mir von fünf Hörern fünf verschiedene Bewertungen des Gelingens eines Konzertes um die Ohren fliegen, das wir gerade gemeinsam besucht haben.
Die retroaktive Zeitlichkeit, die Feige immer wieder betont hat ja was, nämlich dass sich in einer Improvisation „der Sinn des Anfangs immer erst vom Ende her (zeigt)“. Seine Hypothese gewänne aber an Kontur, wenn sie zwei andere Einsichten mit an Bord nähme: nämlich dass wir sowieso nur von Moment zu Moment hören und die große Architektur gar nicht erfassen (Jerold Levinson) sowie David Huron mit seinem „Sweet Anticipation“, nämlich die geradezu überbordende Bedeutung der unmittelbaren Zukunft für jegliches Handeln, insbesondere in der Musik.

Ein Orchestermusiker muss die Partitur nicht kennen

Was sagt ein Praktiker dazu?
Konrad Heiland gibt zum Schluss einem solchen das Wort, einem der besten deutschen Jazz-Improvisatoren, der mit seinem Trio DRA die metrische Modulation auf die Spitze treibt: Christopher Dell.
Dell gilt in unserer kleinen Welt als Improvisations-Theoretiker, also druckt Heiland ein Kapitel aus Dells Buch „ReplayCity - Improvisation als urbane Praxis“ ab.
Es steht unter dem starken Motto „Improvisation kann definiert werden als konstruktiver Umgang mit Unordnung in der Gemeinschaft“. Von Psychoanalyse ist hier gar keine Rede, mehr von Architektur. Wenn auch mit anderem Vokabular kommt hier manches zum Vorschein, was schon bei Feige eine Rolle spielt, beispielsweise das permanente Lernen in der Improvisation, die Wahl des richtigen Zeitpunktes (Dell spricht alt-griechisch von kairos).
Im Gegensatz zu Feiges ist Dells Stil aber der des Behauptens und weniger des Begründen geschweige denn Belegens; er ist sprunghaft, und manche Zwischenstationen werfen die Frage auf, ob wir im richtigen Boot pardon: Haus sitzen.
„Der Orchestermusiker folgt einem Plan und führt diesen so gut wie möglich aus. Dazu muss er aber nicht die Partitur kennen, denn der Dirigent lenkt den Prozess.“
Das Pendant zu diesem Yin ist dieser Yang:
„Der Jazzmusiker kann gar nicht spielen, wenn er nicht die Partitur, das harmonische Gerüst und die Möglichkeiten kennt, die darin stecken.“
Waitaminute, er meint letzteres natürlich nicht so oder nicht ganz so, wie er das da hingeworfen hat. Aber er befördert doch den Wunsch, Christopher Dell im Zweifelsfall lieber an seinem Instrument zu hören als zu lesen.

 

erstellt: 26.07.16/ergänzt: 02.08.2016
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