Hear and Now. Gedanken zur Improvisierten Musik
235 Seiten, gebunden; Wolke Verlag, Hofheim, 1999
Für die Zeitschrift "Lettre International", Ausgabe Frühjahr 1994, hat Peter Niklas Wilson einen Aufsatz verfasst:
Improvisation. 16 Stichworte zu einer flüchtigen Kunst
Ich habe mir damals die drei Seiten kopiert und an die Pinnwand geheftet; in der Hoffnung, der Autor möge die Chance haben, seine Gedanken einmal ausführlicher darzulegen - so gelungen erschienen mir seine Appetithappen damals. In der Zwischenzeit konnte man hier und da weitere Anmerkungen des Autors zu dieser nicht nur flüchtigen, sondern auch schwierigen Kunst lesen - deren größte Schwierigkeit möglicherweise darin besteht, eine Sprache zu finden, mit der sich überhaupt in einen Gedankenaustausch über sie treten läßt.
Jetzt also hat Wilson seine bisher verstreut publizierten Gedanken gesammelt, ergänzt und erweitert zu einem Werk, das im deutschsprachigen Raum sicher ohne Beispiel ist. Selten habe ich einen Autor gelesen, bei dem Sachkenntnis und sprachliches Ausdrucksvermögen eine so kongeniale Verbindung eingehen wie bei Peter Niklas Wilson. Endlich bietet Lektüre Boden unter den Füssen, und zwar in einem Genre, das eben ob der scheinbaren Formlosigkeit seiner Produkte allen Beteiligten guten Willens große Anstrengungen abverlangt. Diese erschöpfen sich häufig in Sprach-Verrenkungen, die eher in den Sektor "moderne Poesie" gehören, von der Sache her aber selten mehr bieten als eine Tüte heisser Luft.
Wilson´s "Hear and Now" legt dagegen einen geradezu furiosen Start hin. Die damaligen "16 Stichworte zu einer flüchtigen Kunst" sind ja doch schon fast vergessen, und ich war erstaunt, in wieviele Facetten Wilson die schlichte Tatsache zu zerlegen weiss, dass halt ein, zwei oder mehr Musiker eine Bühne betreten und wirklich aus dem Moment heraus spielen.
Warum bloß - so dachte ich vor lauter Lesevergnügen -, warum bloß ist der Autor so bescheiden, auf den Untertitel "Gedanken zur Improvisierten Musik" sich zu beschränken anstatt sich zu gönnen: "Zu einer Theorie der Improvisierten Musik". Wo er doch - ab Seite 27 - just dazu ansetzt?
Das Kapitel 2 ab Seite 27 ist überschrieben:
Vom Nutzen des Pfeifenrauchens für die Musik.Vilém Flusser und die Geste der Improvsation
Peter Niklas Wilson macht hier ein Kapitel aus dem letzten Buch des 1991 verstorbenen französischen Philosophen Flusser nutzbar für den Versuch, das Warum des Freien Improvisierens zu ergründen. Es würde den Rahmen dieser Buchrezension sprengen, im einzelnen die äussert subtilen Denkschritte nachzuzeichnen, mit denen Wilson von Villém Flusser über den englischen Perkussionisten und Improvisations-Theoretiker Eddie Prévost schließlich zu folgendem Satz sich aufschwingt:
Improvisatoren improvisieren in der Regel nicht, um etwas "mitzuteilen“, um etwas "auszudrücken“ oder eine "Botschaft“ zu vermitteln: sie leben den "rituellen Gestus“ eines absichtslosen Im-Jetzt-Sein vor.
Wow, das sitzt.
Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, daß dieser Satz im Kontext des Buches selbstverständlich weitaus weniger respektheischend wirkt als hier, in der Zitatform.Gleichwohl, auf Seite 31 hatte ich den Eindruck, dass die Seligsprechung der Improvisierten Musik unmittelbar bevorsteht. Wenig später freilich rückt Wilson von Flusser ab und räumt Grenzen ein, daß z.B. die dialogische Komponente - also das Miteinanderspielen der Musiker - durch das Flusser´sche Modell nicht erklärt werden kann.
Peter Niklas Wilson also hat vor uns und mit uns eine Denk-Pirouette gedreht. Das ist besser, als hätte er sie unterlassen; er probiert etwas aus, ja von mir aus: er improvisiert mit Gedanken, mit Erklärungen. Er führt uns weiter.
Im fokussierten Jetzt der künstlerischen Geste erkennen, wer man ist, wie man ist und diese Eigen-Art absichtslos nach außen projizieren: Kein Zweifel, daß damit Entscheidendes über das Wesen freier Improvisation gesagt ist.
Das ist ein weiteres Zitat aus dem m.E. zentralen Kapitel dieses Bandes. In der Welt des Prinzipiellen, in der Wilson mit solchen Sätzen sich bewegt, machen sie Sinn. Aber, so rein und klar sie auch sein mögen - sie rufen auch Widerspruch hervor, oder anders gesagt: sie machen deutlich, was in Wilsons "Gedanken zur Improvisierten Musik" wenig beachtet wird. Das ist der ökonomische Faktor.
Seine Eigen-Art absichtslos nach außen projizieren..
...gut und schön. Aber wieviel von der Absichtslosigkeit bleibt noch erhalten, wenn der Improvisierende Musiker zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort vor ein Publikum tritt oder einen Tonträger produziert? Zu seinem eigenen Broterwerb?
Eng damit verbunden ein anderer Aspekt, der mir gerade in den letzten Monaten auffällt und - ich gebe zu: hat man diesen Gedanken einmal gefasst, dann lässt er einen wie ein Virus nicht mehr los: Also, gelegentlich habe ich den Eindruck, daß das, was Improvisierende Musiker auf der Bühne so treiben, ihnen selbst einen Heidenspaß macht - den Zuhörer aber außen vor lässt
Wilsons "Gedanken zur Improvisierten Musik" sind demgegenüber in erster Linie aus der Perspektive der Musiker heraus geschrieben - Gespräche mit ihnen nehmen im übrigen die Hälfte des Buches ein. Gut also, daß der Autor so bescheiden ist, seine Arbeit als "Gedanken zur Improvisierten Musik" zu klassifizieren -und als solche, mit der genannten Einschränkung, zögere ich nicht, sie als "Standardwerk" zu empfehlen. Allein schon der Versprachlichung von Musik hat er einen großen Dienst erwiesen.
© Michael Rüsenberg, 1999, Alle Rechte vorbehalten