JOACHIM-ERNST BERENDT
Das Jazzbuch
fortgeführt von Günther Huesmann
943 S, 29.90 Euro
Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005
Dieses Buch einen "Klassiker" zu heissen, ist das mindeste, was sich dazu sagen lässt, es handelt sich um die Jazzpublikation mit der weltweit höchsten Auflage, ca. 1.8 Mio Exemplare; derzeit werden Übersetzungen ins Chinesische und Koreanische vorbereitet.
Der Absatz im Ursprungsland oder in den USA, so kann man hören, hält sich freilich "in Grenzen", hierzulande bleibt es als ein Phänomen der fünfziger bis siebziger Jahre in Erinnerung. Kaum nachvollziehbar heute die Emphase, mit der einst Kritiker gegen das Werk anrannten, kein Treffen der UDJ (Union Deutscher Jazzmusiker), bei dem nicht irgendjemand - vorzugsweise Joe Viera - sich aufgerufen sah, die Berendt´sche Jazzdefinition als grundlegend falsch zu entlarven.
Aber, was stört´s den Mond, wenn der Hund ihn anbellt? Niemandem ist in all den Jahrzehnten gelungen, dem Mangel aus eigener Kraft abzuhelfen, mit einem Konkurrenzprodukt.
Das Jazzbuch wächst und wächst und wächst, von eingangs 230 Seiten bis nahe an die magische Grenze Eintausend - und dies obgleich der Ursprungsautor nicht nur im Jahre 2000 verstorben ist, sondern schon 1987, bei seinem Rückzug aus der SWR-Jazzredaktion, das Interesse am Gegenstand verloren hatte.
Seit langem nämlich schon ist kaum noch Berendt drin, wo Berendt draufsteht, mit jeder weiteren Überarbeitung schwindet der Anteil des Originals, und das nicht nur, weil nunmehr Musiker im Berendt stehen, die JEB gar nicht mehr gehört haben kann.
Glaubt man Günther Huesmann, der seine Rolle bei der Auflage 1981 noch als "Assistent" beschreibt, so war er bei der Auflage 1989 mehr als der "Überarbeiter", als den er sich im Vorwort ausgibt; ja im Gespräch mit Huesmann kann man den Eindruck gewinnen, dass JEB Ende der achtziger Jahre geradezu ruckartig von der Verantwortung sich trennen wollte, den Jazz im Grossen und Ganzen erklären zu müssen oder zu wollen.
Er war, wie erinnerlich, längst zu anderen Ufern aufgebrochen, zu "Nahda Brahma" (in der "Titanic"-Lesart: "Nahda Brahma - Carman Ghia").
Besonders an dieser ideologischen Wende lässt sich ablesen, dass Huesmann keineswegs der Bauchredner Berendt´s ist. Irgendwann 1988 begegneten sich nämlich die beiden in einem konfliktträchtigen Rollenset: Huesmann als Berichterstatter und Berendt als Objekt der Berichterstattung, anlässlich einer Berendt Esoterik-Vorstellung im Schauspielhaus Köln. Dass Berendt Huesmann trotz dessen Totalverriss in einer Kölner Tageszeitung daraufhin erneut die Autorenschaft für das Jazzbuch (Ausgabe 1989) antrug, rechnet Huesmann ihm als "menschliche Grösse" an.
Die neue, nunmehr siebte vollständig überarbeitete Auflage von 2005 ist die erste nach dem Tod von JEB. Dass übrigens Chinesen und Koraner irgendetwas von der einstigen Strahlkraft dieser Initialen mitbekommen haben könnten und deshalb Interesse an dem Buch zeigten, verneint Huesmann; Motiv sei vielmehr der Charakter des Buches, den Jazz von A bis Z vorzustellen, von den Anfängen im Ragtime bis zur Gegenwart, zu "Jazz im Zeitalter der Migration" beispielweise. Das in der Tat macht die Qualität dieses Buches aus, den Jazz als grosse Erzählung darzustellen und alles, was irgendwie dazugehört, in diesen grossen Strom zu integrieren. Den beliebten Register-Test "wer ist nicht drin - müsste aber drin sein?", der den Rough Guide Jazz oder Reclams Jazzführer schnell als faule Eier entlarvt, besteht das Jazzbuch glänzend. Auch entlegene Talente werden genannt, auch wenn sie nicht selten mehr als lediglich in einem Schwarm der Aufzählung ("beeinflusst von XXZ") mitschwimmen.
Die Grundannahme des Bandes, dass vieles mit vielem zusammenhängt, sorgt naturgemäss für Unschärfe an den Rändern, lässt sich aber - zumal bei einem Buch für Einsteiger -nur schwer entkräften.
Huesmann hat viel gehört, mehr als viele andere und genau so viel gelesen. Seine und Berendts Darstellungstechnik, im Gegensatz zu den Lexika Musiker in Kontexte einzubinden - über Ebenen wie die Stile, die Instrumente, die Elemente und die wegweisenden Musiker des Jazz - erweist sich im Grossen und Ganzen als fruchtbarer, als lehrreicher als die - zumeist auch weniger kompetente - Konkurrenz der lexikalischen Darstellungen. Dies gilt vor allem für die frühen Jazzstile jenseits der "Ekelgrenze 1940" (im Gegensatz etwa zur Neuen Musik Szene, die sich brennend für Bach interessiert, wollen viele Jazzhörer heute von Chicago und Swing und New Orelans wenig wissen und vice versa.)
Nicht zuletzt entrümpelt Huesmann Berendt in manchen Aspekten; dessen "Theorie", alle 10 Jahre ereigne sich ein neuer Jazzstil, wird deutlich ad acta gelegt.
Überall dort aber, wo der Jazz über sich hinaus zu weisen, wo das Ästhetische mit dem Gesellschaftlichen sich zu verbinden meint, wo also Jazz-Ideologie entsteht - da bleibt Huesmann Berendt erstaunlich auf den Fersen.
Berendt´s "Versuch über die Qualität Jazz" etwa erscheint erneut weitgehend unbearbeitet. Immer noch stehen dort Sätze wie, der Jazz sei auch "hundert Jahre nach seiner Entstehung...noch das, was er zur Zeit seiner Entstehung war: eine Musik des Protestes."
Zustimmend wird Max Roach zitiert, Jazz sei eine "democratic art form". Auch die Wiederspiegelungstheorie, es gebe einen "nachweisbaren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Arten, Formen und Stilen des Jazz und den Perioden und Zeitabschnitten, in denen sie geschaffen wurden" wird nicht abgelegt.
Das las man gern damals, das liest man gern heute, weil es dem kollektiven Selbstbild schmeichelt. Wer Jazz hört & spielt, kann kein ganz schlechter Mensch sein.
Und doch, die Brücke zwischen Ästhetik und Politik, immer wieder imaginiert, hat noch keiner belastungsfest gebaut, eher das Gegenteil: vor 30 Jahren hat Helmut M. Artus nachgewiesen, dass die Entwicklung zum FreeJazz rein musikimmanent sich erklären lässt.
erstellt: 21.04.06
© Michael Rüsenberg, 2006, alle Rechte vorbehalten