Ganz sicher kann man in dieser Praxis auch die Bewahrung ihrer Würde erkennen:
nämlich darin, dass die wenigen, die in den letzten drei Jahren Zugang zu ihr hatten, über das, was sie dort sahen, nichts an die Öffentlichkeit gelangen liessen.
Der körperliche und geistige Verfall der berühmtesten Jazzmusikerin der Schweiz, er vollzog sich zeitversetzt zu den abklingenden Ovationen zu ihrem Achtzigsten sowie ihres letzten Albums („Celebration“, mit Hamid Drake, 2021).
Er schlich dahin an einem nicht ganz zufälligen Ort, im Zürcher Altersheim Bürgerasyl Pfrundhaus, auch bekannt als nachmittäglicher Spielort des Taktlos-Festivals, an dessen Gründung sie 1984 beteiligt war. Geleitet wird das Heim von der Partnerin des Gründers des Labels, das sie im selben Jahr mit angeschoben hat: Intakt Records.
Dass das Label, das den größten Teil ihrer über 75 CDs/LPs verlegt, nun von „the great personality of European Jazz“ spricht, ist keineswegs übertrieben.
Es lassen sich genügend Plädoyers dafür finden. Anthony Braxton zum Beispiel, nur vier Jahre jünger, sagt gleichwohl:
„I remember this great master when we were young“.
Und er betont in eher abstrakten Worten ihren Weg, der in der Tat ein steiniger war. Man kann viel darüber nachlesen, insbesondere in der Biographie von Christian Broecking („Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik“, Berlin 2016).
1964 zum Beispiel, als die Blue Notes aus Südafrika (unter ihnen Louis Moholo, mit dem sie später in einem ihrer bevorzugten Formate, dem Piano-Drums-Duo, auftrat) der Zürcher Damenwelt verfielen. Da erlebte sie Szenen, die heute einen shitstorm nach dem anderen hervorriefen:
„They all wanted to get me into bed, everybody was in love with me, all the time“.
Allerdings verfügte sie selbst über sehr effektive Abwehrkräfte als „authentic Lesbian as I am“; eine Orientierung, die ihr als Zwölfjährige erstmals aufgefallen war.
In Schaffhausen, da kommt sie her. In diesem Alter spielt sie, die Tochter eines Gastwirtes, die Handharmonika. In einem Nebenraum des elterlichen „Landhofes“ hört sie regelmäßig eine Jazzband proben. Sie wechselt daraufhin zum Klavier-, aber auch Schlagzeugunterricht.
George Lewis, in vollem Überschwang, spricht sehr viel später von den „political implications of Schweizer´s drumming“, will damit aber lediglich mit ihrer Handhabung des seinerzeit „ultimativen maskulinen Instrumentes“ den herausragenden Status ihrer Emanzipation in der damals nun wirklich patriachalen Jazzwelt markieren.
Sie war, im besten Kriegel´schen Sinne, eine „Einzelanfertigung“: in ihren Rollen als Frau, als überwiegende Autodidaktin, als ausgebildete Sekretärin.
Die lange Zeit noch dieser Tätigkeit nachging, um auch wirtschaftlich nicht vollends den Irrungen & Wirrungen der Jazzszene ausgesetzt zu sein.
1960, mit neunzehn, gewinnt das „Fräulein Schweizer“ einen Preis beim Zürcher Amateur-Jazzfestival.
Ein Konzert von Cecil Taylor 1966 in Zürich ließ sie zunächst eine Zeitlang verstummen, bis sie - von diesem Eindruck erholt - dann ihrerseits zum Free Jazz konvertierte, dem man sie zutreffend zuordnet, ohne dass sie sich gänzlich von Formen der Tradition (Blues, swing) gelöst hätte; eine Referenz zu Monk hielt sie immer aufrecht.
Sie trat solo auf, in etlichen Duo-Formaten, es gab eine afro-amerikanische Seite bei ihr (mit Don Cherry, John Tchicai u.a.), eine nominell-feministische (Les Diaboliques z.B.), sowie einen reichen Austausch mit der europäischen Jazz-Avantgarde.
Sie wurde mit zahlreichen Preisen bedacht.
Die atmosphärisch würdigste Auszeichnung darunter, 2016 zu ihrem Fünfundsiebzigsten beim Jazzfestival in Schaffhausen, wo es schien, als werde sie von einer großen Abordnung aus der Bürgergesellschaft ihrer Heimatstadt geehrt. Ein Kabarettist (Michael Stauffer) hielt die Laudatio. Selten konnte man, wie dort, den Eindruck gewinnen: die Jazzszene hat (endlich) eine Form gefunden zu feiern.
Das sollte sie auch in Zukunft tun:
Irene Schweizers Leben liest sich wie ein Rollenmodell, das man freilich nicht kopieren kann. Das aber als offenes Sinnbild stehen mag für einen individuellen, starken Ausdruckswillen, against all odds - gegen alle Umstände.
Wenn es einen Albert Mangelsdorff Preis gibt - warum nicht demnächst auch einen Irene Schweizer Preis oder ein Irene Schweizer Stipendium?
Irene Schweizer, geboren am 2. Juni 1941 in Schaffhausen, verstarb am 16. Juli 2024 in Zürich. Sie wurde 83 Jahre alt.
Foto: Francesca Pfeffer/Intakt Rec. (Irene Schweizer)
erstellt: 17.07.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten
PS Interview mit dem Schlagzeuger des Irene Schweizer Trios 1963-67, Mani Neumeier, in der September-Ausgabe des Schweizer Jazzmagazins Jazz´n´More.
Irene Schweizer (Dankesrede zum 75., Kammgarnfabrik, Schaffhausen, 26.05.16)