Der deutsche Jazzdiskurs (wenn man denn von einem solchen sprechen mag) ist gezeichnet von einer gewissen sprachlichen und gedanklichen Nonchalance. Mitunter wünschte man, benachbarte Szenen, vielleicht die denkstärkere der Neuen Musik, mögen bitte davon keine Kenntnis erlangen.
Würde jene, sagen wir die Donaueschinger Musiktage, einen runden Geburtstag des Festivals eigen-publizistisch so gestalten wie das Jazzfest Berlin sein Sechzigjähriges in Form seines 116-seitigen Jubliläumsmagazines?
Immerhin zeigt der Genderwechsel im Südwesten eine ganz andere Dynamik als der in der Hauptstadt:
„Nach über 100 Jahren - Donaueschinger Musiktage 2023 in Frauenhand“ (ARD Mediathek-Titel).
Aber, hat man von Lydia Rilling seither Verlautbarungen gehört über den aufreibenden Genderaspekt ihrer Rolle wie jene von Nadin Deventer, die Kritik auf „das Patriachat“ zurückführt und noch im 7. Jahr ihrer Jazzfest-Leitung Binsen, die für jeden ihrer Vorgänger auch galten, zu besonderen Tugenden aufbrezelt?
„Als Kuratorin versuche ich, für die Welt zugänglich zu sein und dabei alle meine Sinne einzusetzen.“
Wer in der Riege von Joachim Ernst Berendt bis Richard Williams hätte das nicht auch praktiziert - aber doch nicht ausgesprochen?
„Ich interessiere mich für die Künstler*innen, ihre Kunst und die Musik, aber nicht für die Frage, was Jazz ausmacht und was nicht.“
Ja, das klingt hip, das klingt nach „Post Genre Diskurs“ (dem Frédéric Döhl jüngst eine schöne Abfuhr erteilt hat).
Ein Festivalchef wie George Gruntz, der längst-amtierende von allen (1972-1994), hat „Schienen“ gelegt im Programm, will heißen musikalische Schwerpunkte. Und er hat sie auch musikalisch begründet.
Dass ihn nicht interessiere, was Jazz ausmacht und was nicht, eine solche Aussage hätte er sich gewiß nicht zu eigen gemacht. „Für Künstler*innen“ hat er sich so interessiert, wie man ihnen näher nicht kommen konnte: er hat mit vielen gespielt.
„Was Jazz ausmacht und was nicht“ hat er sich selbst gleichfalls praktisch beantwortet, indem er den Jazzbegriff real klingend erweitert hat. Wer heute Belege sucht für „Jazz als universelle Kunstmusik“ (um noch einmal auf Döhl zu rekurrieren und damit zu einer Auffassung, die in Berlin ideologisch weniger vorherrscht), wird sie en masse bei Gruntz finden.
George Gruntz (1932-2013) ist, man kann es nicht anders sagen, der große Watschenmann in diesem Jubliläumsmagazin. Zwar wird ihm laut Überschrift ein „Vermächtnis für das Jazzfest Berlin“ zugeschrieben (er habe Hip Hop 1983 integriert und 1990 „das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung“ musikalisch gefeiert).
Ansonsten dominiert den entsprechenden Beitrag von Priscilla Layne, auch das kann man nicht anders bezeichnen, ein eklatantes mis-reading von Gruntz´ Autobiografie.
„Es wäre eine grobe Auslassung, wenn ich als Schwarze Germanistin nicht auf Gruntz’ Titelwahl einginge“.
Wohl wahr.
Abgesehen davon, dass erstaunlich viele Insider diese gar nicht kennen, waren und sind nicht wenige überrascht bis entsetzt, dass Gruntz mit der Titelwahl „Als weißer Neger geboren“ im Jahre 2002 einer Riesendummheit anheimfällt.
Noch heute ist man in seiner Entourage verwundert über die Titelei, weil sie so gar nicht seinem Habitus und seiner Denkwelt entspricht.
„George war durch und durch Kosmopolit“, entfährt es einem seiner Freunde aus Zürich, der bei vielen von dessen Begegnungen dabei war. Der Titel sei ihm vermutlich verlagsseitig nahegelegt worden.
Er passt auch gar nicht zu Gruntz´ eigenen Worten. Denn auf Seite 30 schreibt er:
„Ich bin kein Schwarzer, kein Neger aus dem Loop von Chicago oder aus dem Harlem New Yorks. Ich bin in einem Basler Außenquartier, in einem Gartenhäuschen mit sauberen Gardinen aufgewachsen. Bei allem ´Groove´ habe ich nie versucht, schwärzer zu spielen als die Schwarzen. Ich wollte immer so spielen und komponieren, wie ich fühle.“
Priscilla Layne nimmt davon keine Notiz.
Sie fährt erst mal ordentlich Schlitten mit ihm, indem sie „Als weißer N**** geboren“ auf den Essay „The White Negro“ (1957) von Norman Mailer zurückführt (von dem GG ausweislich seiner Biografie aber gar nichts weiß).
Über die Konsequenzen seiner Anmaßung dürft der gute George selbst im Jenseits noch erschrocken sein:
„Doch angesichts der Realitäten des Schwarzseins – in der man sich etwa mit Polizeigewalt, einem verfrühten Tod, Ausgrenzung und Kriminalisierung konfrontiert sieht – wäre ein Großteil der ´white allies´, also der Weißen, die sich auf diese Art mit Schwarzer Kultur identifizieren, wohl kaum bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.“
Hätte Frau Layne doch nur mal Zeitzeugen in Berlin gefragt, sie hätten ihr den fehlgeleiteten Furor erspart. Oder einfach nur mal GG genau lesen. „Er erinnert sich, wie Paul Gonsalves von der Bühne gebuht wurde, weil er den Klassiker ‚Take the A-Train‘ spielte.“
Das Berliner Publikum war in der Tat unverschämt 1973, aber nicht aus diesem Grund. GG erinnert sich auf Seite 94 auch an Paul Gonsalves: er „fiel, kaum war Take-the-A-Train gespielt, in sein legendäres Nickerchen auf der Bühne. Und es dauerte nicht lange, bis das protestierfreudige Berliner Publikum - das zwar in Scharen kam, aber eigentlich dagegen war - in Buh-Rufe und Pfiffe ausbrach“.
Gruntz wird genauer: Duke Ellington spielte „wirklich nicht gut“, weil übermüdet. „Nach zwei, drei Stücken konnte die Band nicht mehr spielen, und der Duke verließ die Bühne, wo er mir (…) erschöpft in die Arme fiel.“
George Wein, Festivalchef von Newport, „was nur wenige wissen, ein hervorragender Mainstream-Pianist“ sprang ein. „Und so endete ein Tag einigermaßen glimpflich, wie ich ihn in dreiundzwanzig Jahre Berlin gottseidank nicht allzu häufig erleben mußte.“
Als Gruntz 1994 sich verabschiedet, beklagt er im Programmheft den Wandel der Kulturpolitik und dass gerade die eigensinnigen KünstlerInnen keine Lobby hätten, die für sie eintritt.
Priscilla Layne findet darin noch einen Spalt, um den guten alten Theodor W. hineinzuzwängen (bloss, zu welchem Zweck?):
„Mit Worten, die ironischerweise Adornos einstige verächtliche Kritik am Jazz wiederhallen lassen, deutet Gruntz anscheinend an, dass gerade sich nicht den Marktmechanismen anpassenden Künstler*innen Gefahr laufen, dass ihnen das Geld fehlen wird, ihre Kunst fortzuführen.“
Der guten Ordnung wegen, man kann auch sagen: gender balanced, eine Anmerkung zu einem Gruntz-Nachfolger und Deventer-Vorgänger: John Corbett (2002), der kürzest-amtierende - und dies zurecht.
Corbett nun, von dem man jederzeit ein kundiges Wort zu Peter Brötzmann oder Ken Vandermark einholen kann, betritt in einem Beitrag ein von ihm bis dato unbekanntes Feld: „Die Entwicklung der visuellen Sprache des Jazzfest Berlin anhand der Plakate“.
Der Kurator aus Chicago hat die Chuzpe, das, was sich vom Titel her wie eine kunsthistorische Betrachtung ankündigt, lang & breit mit einem Lob auf George Wettling einzuleiten, desjenigen Grafikers, den er für „sein“ Festivalplakat beauftragen konnte. Eigenlob, auf gut Deutsch.
Seine Einteilung der „Plakatgeschichte des Jazzfest Berlin in vier Phasen“ mag zutreffend sein. Aber man ist weniger bereit, ihr nach diesem prekären Intro zu folgen. Und noch weniger, als er später dem „längsten“ Gestalter Günther Kieser (1930-2023), dem Klassiker der deutschen Jazz-Plakatkunst, durchaus etwas abgewinnen kann, jedoch urteilt:
„Politisch betrachtet sind einige von Kiesers Entwürfen – konkret die von 1978, 1984, 1986, 1989 und 1994 – schlecht gealtert, werden die Musiker*innen doch auf eine Weise repräsentiert, die mal dezenter, mal direkter Bezug auf Minstrel-Shows und die Praxis des Blackfacing nimmt.“
Das ist genau die „Rückspiegel“-Geschichtsbetrachtung, die seriöse Historiker den Amateuren vorwerfen.
Zwei Beiträge künden das Jazzfest Research Lab an.
Der eine Beitrag („Das Jazzfest Berlin im Hörsaal: Eine akademische Erkundung“) besteht nur aus Absichten, er bietet nicht eine akademische Erkenntnis.
Jazzhistorikern (ja, die gibt es) wird zudem die weitere Ankündigung grausen, dass es Bettina Bohle und Matthias Pasdzierny mit ihren Studenten beliebte, „mit dem Jazzfest-Berlin-Archiv zu spielen“; sie hätten es „durchgeschüttelt und geschaut, was einer*m so entgegenfällt und was man daraus über Musik- und Jazzgeschichtsschreibung, Jazz- und Festivalforschung lernen kann.“
Dr. Ritter, übernehmen Sie!
erstellt: 30.10.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten
PS (02.11.24)
Am 01.11.24 beschweren sich zwei Töchter von Günther Kieser in einer mail an die Leiterin des Jazzfest Berlin über den Beitrag von John Corbett:
„Wir sind bestürzt, dass angesichts der zahlreichen, außergewöhnlichen Kieser-Plakate, die dem Jazzfest Berlin jahrzehntelang ein einzigartiges visuelles Erscheinungsbild gegeben haben, nun in Ihrem Jubiläumsmagazin in solch herablassender und verunglimpfender Art und Weise über unseren Vater geschrieben werden konnte.“
Sie erwarten eine „Stellungnahme, eine Entschuldigung sowie eine korrigierende Veröffentlichung“.
Und sie empfehlen „diesem Herrn (…) bevor er noch weitere unzulängliche Veröffentlichungen in diesem Kontext vornimmt“, ein Werk (Günther Kieser und Stefan Soltek. Kieser, Plakate. exchange. Mainz, 1995), das derzeit bei Antiquaren zwischen 44,26 € und 110 € rangiert.
Ausweislich eines Essays des australischen Jazzforschers Andrew Hurley, der demnächst im „Routlege Companion to Diasporic Jazz Studies“ veröffentlicht werden wird, wurde damals bereits ein Rassismus-Verdacht gegen Kieser-Poster, insbesondere das von 1994, zumindest thematisiert.
Hurley zitiert des weiteren (aus Michael Rauhut. Ein Klang - Zwei Welten. Blues im geteilten Deutschland, 1945-1990. Bielefeld, 2016), wonach Oscar Peterson Ende der 60er Jahre Anstoß genommen habe an den seiner Meinung nach veralteten, museumsartigen Motiven auf Kiesers Blues-Plakaten, „im Widerspruch zu der modernen, zeitgenössischen Kultiviertheit - und afroamerikanischen Subjektivität -, die sein eigenes Trio vermittele.“
stay tuned.