Deutscher Jazzpreis 2024

Der Deutsche Jazzpreis, 2024 zum vierten Mal verliehen und erstmals  in Köln, hatte ein Vorecho. Es kam aus Bremen eine Woche zuvor, von der jazzahead, der vorherigen Station.
Es war eine gute Nachricht:
Alexander von Schlippenbach erhält den Deutschen Jazzpreis 2024 für sein „Lebenswerk“.
Der Pianist hat gerade sein 87. Lebensjahr begonnen. Ihn zu ehren, ist ebenso berechtigt wie völlig unumstritten. Nur mit Hilfe seiner Ehefrau, der Pianistin Aki Takase, konnte er das Podium in Köln erklimmen. Das Publikum im E-Werk dankte ihm als einzigem unter den Ausgezeichneten mit standing ovations, ein bewegender Moment am Schluss eines langen Abends.

Jazzpreis 2024 SchlippenbachCniclasweber
„Meine Musik“, betonte er (und traf damit die exakteste terminologische Festlegung des Abends), „ist der Free Jazz“. Zwar werde weltweit mehr FreeJazz gespielt als je zuvor, aber „wir sind immer noch Underground - wenn auch sich etablierender, wenn nicht etablierter Underground; Fördergelder, Stipendien, das ist sehr schön“.
Der frühere Jazzrevolutionär musste selbst schmunzeln dabei, einzelne Lacher unterstützten ihn. Vielleicht stammten sie von den Durchblickern, die die Vergeblichkeit des „noch schöneren“ Wunsches des Preisträgers ahnten, "in naher Zukunft in unserem Medium, dem Rundfunk“ wieder mehr vertreten zu sein (mit Blick auf die Pläne der ARD ab Herbst 2024 eine unerfüllbare Utopie).
Es ging ein wenig unter in der Rührung des Augenblickes, dass Schlippenbach zugleich auch in einer weiteren Kategorie preisgekrönt wurde, in „Tasteninstrumente“.
Man mochte hier eine der kaum nachvollziehbaren Entscheidungen der Jury erkennen, die schon unter den Nominierten in dieser Kategorie heutige Neuerer wie Philip Zoubek oder Felix Hauptmann offenkundig überhört hat. Welche mit dem Geld für eine Nominierung (4.000 Euro), erst recht mit dem Preisgeld von 12.000 Euro sicher etwas hätten anfangen können.
Es waren, zugegeben, 2024 deutlich weniger fragwürdige Ehrungen als im vergangenen Jahr, wir erinnern z.B. an die leistungslose Auszeichnung an „Queer Cheer“.
Es waren aber auch deutlich weniger Kategorien; mehr WürdenträgerInnen als früher konnte man teilen, allen voran Petter Eldh unter "Saiteninstrumente".
Ohnehin senkte sich der Zeitgeist diesmal auf andere Felder. Der Begriff „afro-diasporisch“ wurde sogleich im Chi-Chi der Moderationen nivelliert, nicht besser erging es Großwerten wie „Demokratie“ und „Freiheit“.
Ergiebigste Quelle hier erneut die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, in einer Videobotschaft („Liebe Musikerinnen und Musiker, liebe Demokratinnen und Demokraten. Jazz bedeutet für viele Musiker:innen und Zuhörer:innen pure Freiheit“.)
Möglicherweise zeigte sich hier bereits ein Lerneffekt aus der Roth-Rezeption bei der Berlinale, wobei die Filmbranche ohnehin ganz anders mit der Ministerin umspringt als unsere kleine Welt. Ihre Vorstellung von einem „Raum für das respektvolle, für das zivilisierte Austragen von Kontroversen auch im Rahmen solcher Veranstaltungen“, (sie meint die Jazzpreis-Verleihung), war im Kölner E-Werk mit keinem Sinnesorgan zu erkennen.
Zu der von Claudia Roth suggerierten und auch in dieser Zeremonie durchgängig gepflegten Auffassung, Demokratie zeige sich in modellhafter Form, wenn unterschiedliche MusikerInnen auf der Bühne stehen, hat ihr Kollege aus gemeinsamen Zeiten im Präsidium des Deutschen Bundestages das Nötige gesagt.
Die Frage, ob er das Bild nachvollziehen könne, „ein Jazz-Trio sei Demokratie im Kleinen“, verneint Norbert Lammert.
„Demokratie ist ein Verfahren zur Herbeiführung von Entscheidungen. Am Ende zeichnet sich eine demokratische Entscheidung immer dadurch aus, dass unter unterschiedlich vorhandenen Positionen die Mehrheit sich durchsetzt. Ich weiß nicht, ob man das für den Jazz ernsthaft reklamieren kann“ (in: Anke Steinbeck. Auf der Suche nach dem Ungehörten. Köln, 2019).

Liste der PreisträgerInnen

Foto: Niclas Weber
erstellt: 19.04.24

©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Casey Benjamin, 1978-2024

Casey Benjamin Nice 2012Für einen Jazz Poll wäre er wohl nicht in Frage gekommen. Dafür bewegte er sich zu sehr im off, im benachbarten Rhythm & Blues.
Keine Überraschung, dass er seine - aus Jazzperspektive - überzeugendsten Eindrücke in der Schnittmenge aus beiden hinterlassen hat, z.B. bei Stefon Harris („Evolution“, 2003). Oder, noch viel eindrücklicher, bei Robert Glasper.
Mit dessen Quartett Experiment war er auf Tour, auf dem Album „ArtScience“ (2016) gelangt sein spezifisches Talent zur vollen Reife.
Zuvorderst war das sein Umgang mit dem Vocoder. Er pflegte mit geradezu lasziver Hingabe den elektronisch modulierten Klang seiner Stimme, auf der Bühne unterstrichen mit einem großen Umhänge-Keyboard.
Das gelang ihm weit besser als seinem Vorgänger in dieser Disziplin, Herbie Hancock.
Unerreicht, wie er auf „ArtScience“ das süß-saure Melisma von Hancocks wohl größter Ballade („Tell me a Bedtime Story“) zelebriert - und es in einem Sopransax-Solo fortführt.
Das konnte er auch. Wenn nötig, war er mit einem druckvollen Altsaxophonsound zur Stelle, eindrücklicher als Terrace Martin, ein weiterer Hancock-Bewunderer.
„Er war der Inbegriff dessen, was es bedeutet, einzigartig und einmalig zu sein“, wird Robert Glasper vom Rolling Stone zitiert.
„Zu 99 Prozent meiner Karriere wurde ich gebucht, um ich selbst zu sein“, sagt Benjamin selbst 2018 in einem Interview.
Geboren wurde er in Brooklyn, die Eltern waren Immigranten aus Granada und Panama.
Den Texaner Glasper lernte an der New School in NYC kennen, ab Ende dere 90er Jahre spielten sie gelegentlich zusammen, ab 2004 im Experiment.
„Ohne ihn gibt es kein Robert Glasper Experiment. Die Welt hat einen Giganten verloren, und ich einen Bruder" (Glasper).
Casey Benjamin, geboren am 10. Oktober 1978, verstarb am 30. März 2024 (nach anderen Quellen am 31.03.24) nach einer Operation in Maryland. Er wurde 45 Jahre alt.

Foto: Dacoucou, Wikipedia
erstellt: 03.04.24

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Jim Beard, 1960-2024

Jim BeardDass die Nachrufe auf ihn nun überschrieben sind mit „keyboardist for Steely Dan dies aged 63“ (Guardian) kommt nicht von ungefähr.
Seit 2008 stand er in deren, in Donald Fagens, Diensten, zuletzt im Januar dieses Jahres in Phoenix/AZ.
Ab Mitte der 80er bis in die 2000er Jahre gehörte er zur Grundausstattung des amerikanischen Jazzrock, angefangen bei Wayne Shorter („Phantom Navigator“), John McLaughlin und dem wieder erstarkten Mahavishnu Orchestra, Michael Brecker, John Scofield, Pat Metheny, Peter Erskine, mehrfach Mike Stern - you name them!
Ende der 80er legt er die ersten Tastenspuren für ein Talent, das die Eindrücklichkeit seiner frühen Jahre nie mehr erreicht hat: Vince Mendoza.
Kein Zufall, dass jener eine seiner besten Kompositionen, „Crossing Troll Bridge“, mit dem hypnotischen vamp-Thema (aus dem Album „Song of the Sun“, 1990) 2008 noch einmal mit dem Metropole Orchestra aufgeblasen hat.
2008, in der Rückschau kommt dem Jahr eine besondere Bedeutung zu, denn da bringt er unter „Pulse and Cadence“ und ausgewechselten Stücketiteln das famose „The Complete Rhyming Dictionary“ von 1992 neu heraus, die beste Handreichung für den Steely Dan-Kollegen und alten buddy aus gemeinsamen Zeiten an der Indiana University, den Gitarristen Jon Herington.
Dort hatte er Jazz bei David Baker und klassisches Piano bei John Ogdon studiert.
Die Konzentration von einem an etlichen Instrumenten interessierten Jugendlichen auf das Piano war zuvor in privaten Stunden bei George Shearing erfolgt.
Ein Mitschüler, der dem Meister gleichfalls über die Schulter schauen durfte, war … Fred Hersch.
Ab 1985 dann New York City; die folgenden zwei Jahrzehnte bringt  Peter Erskine in einem X-Nachruf so auf den Punkt:
„Jim war der Klebstoff und eine große Stütze bei so vielen Projekten.“
Er war ein keyboarder, ein Klangmaler, mit Flöten-haften Beimischungen, nicht unbeeinflusst hier & da von Zawinul, mit durchaus eigener Agenda, weniger ein Pianist.
Sanchez BeardIn den letzten Jahren hat er viel für TV & Film komponiert.
Der Kontakt zum Jazzrock riss nicht ab.
„Was für ein unvorhergesehener Verlust. Er war so eine sanfte Seele und ein wahnsinnig talentierter Künstler“.
Mit diesen Worten begleitet Antonio Sanchez einen Post auf X, mit einem Foto aus der Studiosession des kommenden Mike Stern-Albums, 2023, das ER produziert hat.

James Arthur „Jim“ Beard, geboren am 26. August 1960 in Ridley Park/PA, verstarb am 2. März 2024 in einem Krankenhaus in NYC
an einer nicht näher benannten, plötzlichen Erkrankung.
Er wurde 63 Jahre alt.

 

erstellt: 07.03.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

 

Stabwechsel in Darmstadt

Heute beginnt ihr Arbeitsvertrag, am Montag, 4.3.24, wird sie ihren Arbeitsplatz in Bessungen beziehen:
Bettina Bohle ist die neue Leiterin des Jazzinstitutes Darmstadt.
Knauer im InstitutSie folgt auf Wolfram Knauer, 65, der Ende Januar in den Ruhestand verabschiedet wurde. Er hat das Institut sagenhafte 33 Jahre geführt.
Nicht mehr nur im barocken Kavaliershaus, sondern lange schon auch in angemieteten Räumen, beherbergt es eine der größten öffentlichen Jazzsammlungen Europas:
„80.000 Tonträger, mit Fachliteratur, Fotografien (50.000 Abzüge), 3.000 Plakate, 1100 Zeitschriftentitel mit mehr als 80.000 Einzelheften“, wie die FAZ vorrechnet, darunter die Sammlungen der SWR-Jazzredakteure Berendt und Wunderlich.
Die Bessunger Str. 88d in 64285 Darmstadt ist aber nicht nur ein Container für Archivalien, sie gibt einem lebenden Organismus Dach, mit Konzerten im - der visuellen Anmutung zum Trotz - gut klingenden Gewölbekeller, einer wechselnden Künstlerresidenz, einer Gesprächsreihe sowie dem zweijährlichen Jazzforum (an anderen locations der Stadt).
Wie überhaupt Knauer das Institut weit über die Wissenschaftsstadt Darmstadt auch international bestens vernetzt hat.
In den von ihm organisierten Jazzforen konnte man der ersten Garde anglo-amerikanischer JazzforscherInnen zuhören (John Gennari, Tony Whyton, Krin Gabbard, Scott DeVeaux, Sherrie Tucker).
Er selbst, der 1989 in Kiel über das Modern Jazz Quartet promoviert wurde, hatte als erster Nichtamerikaner 2018 eine Gastprofessur an der Columbia University in NYC; er gehört zum Beratergremium einer Jazzreihe bei Oxford University Press, an der Universität Mainz unterrichtet er Jazzgeschichte.
Neben Künstlerbiografien (Armstrong, Ellington, Parker) hat er eine Geschichte des deutschen Jazz gestemmt („Play yourself Man“) und - er beabsichtigt, als nächstes noch ein paar Pfund draufzulegen.
33 Jahre, eine komplette demografische Generation, vulgo: mehrere JazzmusikerInnen-Generationen - das dürfte auch bei extrem verschärftem Fachkräftemangel seiner Nachfolgerin nicht vergönnt sein.
Bettina Bohle Direktorin Jazzinstitut by Lena Ganssmann 02 scaled e1708684203190 1200x0Bettina Bohle ist von Jahrgang 1981, sie hat Musikwissenschaft, griechische Philologie und Philosophie studiert, war Lehrbeauftragte für Musikwissenschaft an der Uni Hildesheim und und zuletzt involviert in den langjährigen Anlauf um eine House Of Jazz in Berlin.
In Darmstadt kann sie sich einen Beirat für das Institut vorstellen, sie will „auf die anderen Kunstsparten schauen, auf die Theaterszene zum Beispiel“, wie sie dem Darmstädter Echo verrät.
Und ja, auch sie hat Binsen im Gepäck, wie sie heute zum Morgengruß vieler JazzaktivistInnen gehören:
„Jazz und improvisierte Musik dürfen sich nicht von aktuellen gesellschaftlichen Themen abkapseln wie Diversität, Nachhaltigkeit und Rechtsruck.“
Ob sie die bis dato intellektuell in Bodennähe torkelnde Debatte auf Flughöhe bringen kann? Abwarten.
Eine erste Kostprobe jedenfalls, in dem vor drei Tagen erschienenen Band 18 der „Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung“, lässt Lesefreude aufkommen. Wohltuend, dass da endlich jemand ihren (Ludwig) Wittgenstein kennt und das Thema „Genre & Jazz“ in einer „sprachpragmatischen Annäherung an eine hitzige Diskussion“ cool auszuleuchten vermag.
Wo doch wenige Seiten zuvor ein essentialistischer Eiferer ausruft, wir befänden uns „in einem post-Genre Moment“ und seinen Hoffnungen ein „Ich fühle mich wohler damit…“ voranschickt.
Zu wünschen wäre auch, dass sie eine Handreichung ihres Vorgängers beibehielte oder (wie zu hören) vielleicht in anderer Form fortführte: die JazzNews, einen mitunter wöchentlichen newsletter, der sehr neutral auf Artikel zum Jazz verweist, mitunter bis hin zu amerikanische Provinzzeitungen.
Wie gesagt, Wolfram Knauer. Der hat im Ruhestand nicht weniger vor, als den Berendt zu geben, ja wirklich:
eine Geschichte des Jazz zu schreiben.
Hoffen wir, dass er nicht in einer Sisyphos-Arbeit verharrt.

Fotos: Lena Ganssmann (Bohle), Stephanie Castillo (Knauer)
erstellt: 01.03.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Gratismut im Ländle


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 Ob die Stuttgart Jazz Open „in der Champion League der europäischen Jazzfestivals bleibt“, wie es der Lokalstolz einer Lokalzeitung befiehlt, das wird man außerhalb des Postleitzahlbereiches „7“ vermutlich weniger emphatisch unterstützen.
Und sich doch eher wundern, dass ein Festival, das zu seinem 30. Geburtstag mit Herbert Grönemeyer, Lenny Kravitz, Sam Smith und Sting protzt, überhaupt noch den Minderheiten-Gattungsnamen im Titel führt.
Doch, es gibt auch Jazz, und es hat auch Jazz gegeben in Stuttgart, z.B. bei der Premiere 1994 Ornette Coleman, Pat Metheny und auch John Scofield. Dee Dee Bridgeewater und Dianne Reeves waren je ein halbes Dutzend mal dort.
Und es ist ja auch nichts einzuwenden gegen ein Festival, das hinter den großen Pop-Acts Jazz so mitführt. 40.000 von 50.000 Tickets für den Juli 2024 sind bereits jetzt verkauft. Das sind Dimensionen, die keine einem strengeren Jazzbegriff verpflichtete Veranstaltung je erreichen könnte.
Ob Stuttgart Jazz Open jedoch Mut für sich beanspruchen darf, abgeleitet aus den vorgeblichen Standard-Jazztugenden wie „Freiheit, Mut und Toleranz“, das darf jetzt klar verneint werden.
Vielleicht aus Übermut hat die Festivalleitung sich zu einer Aktion hinreißen lassen, die nichts anderes offenbart als Gratismut, gespeist aus einer großen Portion Naivität.
Die Frage nach dem Erfolg der Aktion, wieviele der Gemeinten ihre Tickets zurückgegeben hätten, bleibt - selbstverständlich - unbeantwortet. Dafür wogt in den (a)sozialen Medien ein noch mal naiveres Pro & Contra, von dem ein Großteil wieder gelöscht werden musste.
Wer sich derart auf Glatteis begibt, der muss dann auch noch Hohn ertragen: ein Vertreter der entsprechenden Landtagsfraktion belustigt sich laut Stuttgarter Zeitung über die Vorstellung,
„dass AfD-Anhänger freiwillig einem feisten Bekenntnis-Gröler wie Herbert Grönemeyer lauschen werden“.
„In der Champion League der europäischen Jazzfestivals“ wird eine so wenig durchdachte Aktion hoffentlich eine einmalige Episode bleiben.

*PS (30.01.) Jazz Open antwortet per email: "Uns ist nicht bekannt, dass bisher jemand sein Ticket zurückgegeben hätte."
Und: "´Champions League der Jazz-Festivals´ – da sind wir selbst erschrocken. Würden wir nie behaupten. Was wir – ernsthaft – behaupten ist: Wir gehören zu den europäischen Top-3-Festivals für Jazz and Beyond."
Last not least: "Bin ein bisschen durch Ihre Website gesurft. Hab mich köstlich amüsiert. Schön, dass es sowas gibt" (Rainer Schloz, Pressesprecher Stuttgart Jazz Open).

erstellt: 26.01.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten
 

Tony Oxley, 1938-2023

Tony OxleyLondon, Nähe Holland Park, ein Club, The Albion, eigentlich die Lounge einer großen privaten Villa, September 1970: das Howard Riley Trio spielt Stücke aus seinem neuen Album „The Day will come“.
Schlagzeuger im Studio, wenige Monate zuvor, war der damals in London omnipräsente Alan Jackson. An diesem Abend übernimmt den Job ein anderer. Bevor er Platz nimmt, kündet schon der drum set von einer anderen Gangart. Jacksons set war spartanisch, hier aber stand ein deutlich erweiterter: über den Hängetoms eine Art Brücke wie aus einem (Erwachsenen) Märklin-Baukasten, daran geklemmt Utensilien, die der Instrumentenfachhandel überwiegend nicht in seinem Sortiment führt. Die Anmutung geht eher in Richtung Schrottplatz.
So anders der Aufbau, so anders der Klang, so alternativ die Strukturen. Der Drummer sitzt erhöht, er verstreut seine Energien über den ganzen set, ohne merklichen Aufwand. Der mimische und gestische Aufwand mancher Kollegen („bin bei der Arbeit!“) ist ihm völlig fremd.
Viele Jahre später wird er dem Journalisten Bert Noglik seine Spielhaltung in einem Satz diktieren, die ihn schon an diesem Abend leitmotivisch führt:
“I consider myself more a percussionist, in contrast to a jazz drummer who keeps time“.
Im Gegensatz zu manchen seiner Zunft konnte er letzteres aber auch. Der beste Beleg dazu war damals ein gutes Jahr alt: das im Januar 1969 entstandene „Extrapolation“-Album, das Debüt eines jungen Gitarristen namens John McLaughlin, darin die genaues Timespiel erforderlichen 11/8 von „Arjen´s Bag“ oder die 9/8 von „Binky´s Beam“.
Im Prinzip fuhr er schon seit ein paar Jahren zweigleisig: seit 1966, als er aus dem heimischen Sheffield nach London gekommen war. In Sheffield hatte er im legendären Joseph Holbroke Trio frei improvisiert (mit Gavin Bryars, b, und Derek Bailey, g). In London setzte er diese Praxis fort, u.a. mit Evan Parker - und wurde zugleich housedrummer im Ronnie Scott´s Club.
In dieser Funktion begleitete er, und zwar nicht nolens volens, durchreisende US-Stars wie Stan Getz, Sonny Rollins, Joe Henderson, in den frühen 70ern auch Bill Evans.
Diese streckenweise Parallelität, Modern Jazz hier, FreeJazz dort, dürfte einmalig sein unter den Gründern der europäischen Jazz-Avantgarde, allenfalls bei Manfred Schoof dürfte sich verwandte Spuren gezeigt haben.
Und nur Han Bennink (mit dem ihn drum-ästhetisch wenig verbindet) dürfte mit einer ähnlichen Erzählung aufwarten können, was es heißt, von Europa aus mit dem Schiff in die Staaten zu fahren, um dort die Legenden des Jazz an der Quelle zu studieren.
In seinem Falle war es die Queen Mary, wo er in der Tanzkapelle on board Dienst tat.
Zuvor hatte er, Ende der 50er Jahre, in der Britischen Armee, im 3rd Batallion of the Scottish Regiment, auf andere Weise das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden: dort lernte er neben military drumming auch Musiktheorie.
Die war ihm in der Beschäftigung mit der Klassischen Europäischen Avantgarde nützlich, sicher auch in seinen Kompositionen, wohl weniger bei 12 Alben an der Seite von Cecil Taylor.
Damit wäre die nächste, die wohl größte Volte seines Lebens beschrieben. Nach Amerika übersiedeln, auf Wunsch von Bill Evans, das wollte er nicht - mit Cecil Taylor spielte er 20 Jahre lang hüben & drüben,  in Neuburg am Inn ebenso wie im Village Vanguard in New York City, und viel dokumentiert in Berlin.
cover oxleyIn den letzten Jahren reiste er aus Viersen an, er lebte dort, seit 2000 mit einer Deutschen verheiratet, auf Anraten des Bassisten Ali Haurand (1943-2018), der ihm nicht unbedingt kongenialer Partner, aber für ihn erfolgreicher Organisator war.
Oxley betätigte sich auch in der abstrakten Malerei, er erweiterte seinen spezifischen drumset zuletzt auch mit elektro-akustischen Mitteln.
Ein Produkt, bei dem beide Tätigkeiten zusammenfließen, dürfte das wenige Wochen vor seinem Tod veröffentlichte Album „the new world“ sein, zusammen mit dem Perkussionisten Stefan Holker.
2011 veröffentlichte der WDR-Jazzredakteur Ulrich Kurth (1953-2021), quasi nach Zuruf ("hey Uli, why don´t you write my biography?"), selbige über ihn: "The 4th quarter of a triad".
Tony Oxley, geboren am 15. Juni 1938, in Sheffield, West Riding of Yorkshire, ist am 26. Dezember 2023 in Viersen am Niederrhein verstorben. Er wurde 85 Jahre alt.

 

Foto: Andy Newcombe (Wikimedia), 2006
erstellt: 27.12.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

 

Carla Bley, 1936 - 2023

Steve Swallow Carla Tod   1

Im Spätsommer 2018 hatte die Nachricht bereits ein Vorecho; da war sie 82 und musste sich einer schweren Hirnoperation unterziehen. Eine Europa-Tournee wurde abgesagt.
Die Nachricht klang sehr beunruhigend, Nachrufe wurden erwogen; niemand hätte die Prognose gewagt, sie schon im Mai 2019 wieder auf deutschen Bühnen zu sehen (z.B. im Stadtgarten, Köln).
Die Konversion von Lovella May Borg in Carla Bley, in eine der bedeutendsten Autorinnen von Jazzstandards (auch jenseits ihres Geschlechtes), sprich KomponistInnen, ist ein Jazzmärchen der Extraklasse.
Und fast alle, die davon wissen, können auch den Prinzen benennen, der die Tochter eines Klavierlehrers aus Oakland/CA, die spätere Zigarettenverkäuferin im „Birdland“, New York City, ja sicherlich auch (wach)küsst.
Vor allem lockt er sie mit der Aufforderung in das neue Reich, „Ich brauche sechs neue Stücke für morgen!“
Richtig, das war der schreibfaule Pianist Paul Bley (1932–2016), in der Folge ab 1957 ihr Ehemann für zehn Jahre.

„Cigarette girl“, das klingt heute sowas von outdated und unterkomplex. Und tatsächlich war es für die junge Frau auch nur Mittel zum Zweck, die Jazzmusik am Ort ihres Entstehens einzuatmen. Denn als Paul Bley, der Pfeifenraucher, ihr ein Päckchen abkauft, war sie bestens vorbereitet. Mehr als alle anderen hatte sie im Birdland, im Basin Street und in der Jazz Gallery Count Basie (1904-1984) gehört:
„Er ist die letzte Instanz, wenn es darum geht, wie man zwei Noten spielt. Der Abstand und die Lautstärke zwischen zwei Noten ist immer perfekt.“
Es wäre übertrieben, die Schlichtheit ihres Klavierspiels auf Basie zurückzuführen (schon gar nicht verfügte sie über dessen timing), aber es liefert eine schöne Überleitung zu ihrer diesbezüglichen Selbsteinschätzung als „composer pianist“ (worin sie denn doch, bei ganz anderem output, viel eher Gil Evans ähnelt).
Zwar hat sie in ihren Veröffentlichungen immer auch Klavier gespielt, und vermehrt in den letzten beiden Jahrzehnten, eher kammermusikalisch im Trio (mit Andy Sheppard, ts) und immer mit ihrem dritten und längsten Lebens- und Musikpartner Steve Swallow (32 Jahre waren die beiden zusammen, ach was, das darf man wohl sagen, einander wirklich zugetan).
Ihren Platz in der Jazzgeschichte hat sie, siehe oben, als Komponistin.
Der britische Komponist (und gelegentliche) Bassist Gavin Bryars, der in den 80ern Stücke von ihr mit Freude in der Leicester Bley Band gespielt hat, schreibt dazu 1997 in einem Magazinbeitrag:
„Sie fühlt sich wohl mit Spielern, die begabte freie Improvisatoren sind. Es gibt viele Stücke, bei denen die scheinbare Schlampigkeit - in Wirklichkeit kalkuliertes Chaos - eine direkte Folge ihres kompositorischen Witzes und ihrer scharfen Beobachtung der Möglichkeiten für Exzess und Parodie ist.“
Ihre Stücke zu spielen sei „eine Herausforderung und zugleich eine der erfreulichsten Erfahrungen“ seines Lebens gewesen. Und Bryars vergisst nicht, auf „ihre Verwandtschaft zu gewissen Aspekten bei Kurt Weill“ hinzuweisen.
Ethan Iverson, der wohl hör-erfahrendste unter den heutigen Jazzpianisten, ist vor nicht langer Zeit im Gespräch mit ihr noch weiter zu den Kernen vorgedrungen.
Sie, die von Hause aus der Kirchenmusik kam, zählte sich nicht zum FreeJazz. Sie mochte vieler seiner Exponenten, wenn auch nicht ihr häufiges Herumlärmen, sie mochte darunter insbesondere den schwarzen Kirchenmann Albert Ayler:
„Maudlin! Rührselig auf die wunderbarste Weise. Er gab mir die Lizenz, etwas zu spielen, das wirklich kitschig war - und es zu lieben.“
Und wir als Hörer entnehmen daraus die Lizenz, dieses Motto auf vieles entlang ihrer langen Karriere zu beziehen; mitunter weniger Gelungenes, weil Langweiliges (insbesondere in den späten Trios mit Andy Sheppard), aber eben auch viel, viel Memorables, Bestgelungenes in sehr, sehr unterschiedlichen Formaten.
Das gilt natürlich für Paul Bley, früh auch für Gary Burton (A Genuine Tong Funeral“, 1968, worin auch „Sgt. Pepper“ hineingeflossen sein soll); dann ihre Großprojekte, das Jazz Composers Orchestra und „Escalator over the Hill“ mit ihrem zweiten Ehemann Michael Mantler. Hier lugt auch Charles Ives durch.
Dann die unzähligen Projekte mit ihrem kongenialen Partner und Bassisten Steve Swallow über mehr als drei Jahrzehnte.
Mitunter schien sie dabei dem Brecht´schen Motto zu folgen: „In mir habt Ihr eine, auf die könnt Ihr nicht zählen.“
Zum Beispiel Mitte der 80er, als sie mit drei Alben auf das Radioformat „Quiet Storm“ zielt („Sextet“, 1987, „Night Glo“, 1985, „Heavy Heart“, 1984) - ein, man scheut es auszusprechen, Schmusejazz-Format.  Da waren einige doch leicht indigniert, unter ihnen ihr langjähriger Vermarkter Manfred Eicher.
Hier kommen wir aber mit Gavin Bryars überein: „Lawns“ von „Sextet“ ist „one of the most poetic of all Carla’s pieces“.
Eben. „Lawns“, das die Bittersüße ihrer Musik sowas von auf den Punkt bringt, mit einem dahingetupften Piano-Solo von Larry Willis (1942-2019) - und dann hoch-katapultiert von den Gitarrenschreien eines Hiram Bullock (1955-2008) zu „Healing Power“.
(Es läuft auch jetzt wieder).
Carla Bley, geboren als Lovella May Borg am 11. Mai 1936 in Oakland/CA, ist am 17. Oktober 2023 zu Hause in Willow/NY verstorben. Sie erlag einem Gehirntumor, der bei ihr 2018 diagnostiziert worden war. Sie wurde 87 Jahre alt.

PS: weiterführend links
      Vinnie Sperrazza über die Schlagzeuger von Carla Bley
      Der britische Pianist Liam Noble über Carla Bley
      Carla Bley "Accomplishing Escalator over the Hill"
      Carla Bley down beat-Interview 1978

erstellt: 17.10.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Wolfgang Engstfeld, 1950 -2023

engstfeld wolfgang apr 18 live„…für die Entwicklung des straight ahead Jazz im Land von großer Bedeutung“,
schreibt der Saxophonistenkollege in der mail, mit der er uns dessen Tod mitteilt.
Man mag sich über die Terminologie streiten, fragen, ob nicht Hardbop zutreffender wäre oder auch Modern Jazz, was in seiner Umgebung selbst gebraucht wird.
Allein, das sind Varianten ein und derselben Sache, die unter Hinzufügung „Einfluß von John Coltrane“ einer exakten Lokalisierung recht nahe kommen.
Der Mann stand in der Mitte des Jazz, nicht an seinen Schnittstellen.
Obwohl, ganz am Anfang seiner Karriere, in den frühen siebzigern, bei Jazztrack,
bewegte sich das Quintett mitunter auch an der damals neuen Schnittstelle des Rock.
Anfang der 80er beginnt er die Kooperation mit einem Partner, dem Schlagzeuger Peter Weiss, die zunächst über ein Trio, später und längstens in einem Quartett schließlich „fourty years“ (CD-Titel von 2011) währt.
Er hat die Welt gesehen, 850 Jahrfeier Moskau, Japan, China, Australien, aber auch Brasilien. Hat mit Prominenz gespielt, von John Scofield bis Eberhard Weber, mehrfach mit dem stilistisch eng verwandten Randy Brecker (z.B. "Together", 1991).
Und doch ist der Lokalstolz nicht ganz falsch, den die Rheinische Post in ihrem Nachruf so beschreibt: „…(er) vertrat Düsseldorf in der Welt“.
Da will nun gar nicht in die überkommene Rheinschienen-Folklore passen, dass dieser Düsseldorfer 24 Jahre lang eine Professur für Jazzsaxophon an der Musikhochschule Köln innehatte, ja sogar der erste dort auf diesem Posten war.
Durchaus Pilot-Charakter dürfte auch haben, dass er - was heute normal ist - in den Jazz nicht aus einem „normalen“ Beruf geflohen ist, auch nicht aus der Klassik konvertiert, sondern das Rüstzeug sogleich an einer Hochschule erworben hat, an der ersten ihrer Art in Europa, in Graz.
Wolfgang Engstfeld, geboren am 9. Dezember 1950 in Düsseldorf, ist ebendort am 18. September 2023 einer Krebserkrankung erlegen. Er wurde 72 Jahre alt.

Foto: Gerhard Richter (Wolfgang Engstfeld, 2018)
erstellt: 18.09.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

John Marshall, 1941-2023

„You didn´t look like a drummer to me“.
Mit diesem Ausdruck des Erstaunens entschuldigte sich in den frühen sechzigern der Trad-Jazz-Star Acker Bilk bei seinem Aushilfsdrummer, er habe ihn im Bandbus auf der Hinfahrt zu einem gig nicht hinreichend beachtet.
Verwechslungen hinsichtlich seines Nachnamens waren dem Übergangenen mehr vertraut. Allein in seiner Klasse an der Isleworth Grammar School saßen neben ihm zwei weitere Marshalls. Und samstags nahm er Schlagzeug-Unterricht bei - Jim Marshall (yes folks, von Marshall Amps).
Später sollen ihn panische Anrufe erreicht haben, wie schnell er ins Studio XYZ eilen könne - man hatte den falschen John Marshall gebucht. Den Posaunisten.
Mitteleuropäischen Jazzfreunden dürften derlei Anekdoten fremd vorkommen. Für sie war John Marshall seit den späten sechzigern eine geradezu ikonografische Erscheinung: mit seinem Schnauzbart und ausgreifender Haartracht, damals „Papuabombe“ genannt (ein pflichtschuldiges pfui an dieser Stelle). Und in der Hauptsache als geschäftiger Drummer, der ab Nucleus “Elastic Rock“ (1970) und Soft Machine „Fifth“ (1971) den britischen Jazzrock angeschoben hat wie kein zweiter Kollege.
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Soft Machine "Bundles", 1975
John Marshall, oben rechts


 

In einem sehr ausführlichen Interview schildert er 2019 die stilistische Volatilität jener Epoche:
„Ich war sehr anpassungsfähig, mochte vieles und konnte mit so gut wie jedem spielen, was fantastisch war. An einem Abend in der Trad Band von Acker Bilk, am nächsten mit John Surman in Ronnie's 'Old Place' und am übernächsten Abend begleitete ich eine Sängerin in dem neuen Club in der Frith Street. Ich habe sogar mit Indo-Jazz Fusions vor 250.000 Zuschauern auf dem Isle of Wight Festival 1970 im selben Programm wie Bob Dylan gespielt.“
Isle of Wight, möchte man ergänzen, da war auch Miles Davis; und in seiner Band ein Musiker mit verwandter Haarpracht, den nicht ganz unbekannte Afroamerikaner wie Quincy Jones und Ornette Coleman deshalb - und irrtümlich - für einen der ihren gehalten haben, Keith Jarrett.
Vor derlei Verwechslung, auch in stilistischer Hinsicht, war John Marshall gefeit. Bei Jack Bruce, bei Eberhard Weber Colours, lange bei John Surman, bei Hugh Hopper, Michael Gibbs oder auch Vassilis Tsabropoulos hat man ihn weniger in afroamerikanischer Expression erlebt, schon gar nicht funky, sondern als einen mächtigen, bisweilen auch lauten Jazzschlagzeuger mit großer Affinität zu Rock-Rhythmen.
Sein mit Abstand längstes Engagement, über fünf Jahrzehnte, mit Unterbrechungen, hatte er mit Soft Machine. Im Januar 2023 übergab er den Posten an Asaf Sirkis.
Am jüngsten Album „Other Doors" im Sommer 2022 hat er noch mitgewirkt. Er litt offenkundig an Osteoporose (Knochenschwund).
SoftMachine2023

 

 

 

 

 


Soft Machine, 2022
John Marshall, links

John Stanley Marshall, geboren am 29. August 1942 in Isleworth/West-London, ist am 16. September 2023 zu Hause, in Süd-London, verstorben. Er wurde 82 Jahre alt.

 erstellt: 17.09.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

It´s been 53 years ago (not today): Tony Williams Lifetime im Beatclub!

Seit wenigen Tagen online: ein Ausschnitt aus dem bislang unveröffentlichten Auftritt von Tony Williams Lifetime im Beatclub, 24. Oktober 1970.
John McLaughlin, g, Jack Bruce, bg, voc, Larry Young, org, Tony Williams, dr.
Die Titelei ist falsch. TWL spielt einen Medley aus:
Smiles & Grins (J. Bruce) : 00:00 - 02:38
Devotion (J. McLaughlin) : 02:39 - 05:25
Smiles & Grins Reprise (J. Bruce) : 05:26 - 06:30
Dance of Maya (J. McLaughlin) : 06:30 - 09:41
Winfried Trenkler und ich waren dort. Wir kamen zu spät zur Aufzeichnung.
Wir trafen die Band (außer TW) im Hotel. Die Musiker waren verärgert über den Regisseur Mike Leckebusch (1937-2000).
Sie hatten die Aufzeichnung abgebrochen. Die sehr vage Erinnerung sagt: es habe einen Konflikt über die bereitgestellte Anlage gegeben.
Beatclub-üblich war Orange. TWL bestand auf Marshall. Erstaunlicherweise sind Boxen beider Marken im Bild.
Interessant die überbordende Kommentierung des Videos: was die Leute so alles herausfinden!

PS (08.09.23)
Recherchen bei Radio Bremen ergeben, dass die Chancen, weiteres Material als diese nun frenetisch begrüßten 9 Minuten und 45 Sekunden zu finden, denkbar gering sind.
That´s all there is to it!
Insider vermuten die Quelle für die jetzige YouTube-Veröffentlichung (fast 100.000 Aufrufe in 6 Tagen) auch gar nicht in Bremen, sondern in Hamburg ("...ein Maulwurf").

PPS (25.09.23)
Ja, kann man sich denn heutzutage auf niemanden mehr verlassen?
Nun hat "der Maulwurf aus Hamburg" weitere 5:59 aus dem Beat Club-Archiv hochgeladen, eine wegen Feeback unterbrochene, auch gesanglich kaum gelungene Fassung von "Two Worlds". Das Stück hört man sich besser in der Studiofassung vom März 1971 auf "Ego" an, wie überhaupt das gesamte Album. Es enthält einen absoluten TW-Klassiker: "There comes a Time".

erstellt: 05.09.23
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Tristan Honsinger, 1949-2023

Tristan Honsinger   1

Eine der markanten Persönlichkeiten des europäischen FreeJazz (oder der Frei Improvisierten Musik) kam aus Neu-England, aus dem US-Bundesstaat Vermont.
Im Alter von neun Jahren begann er sein Instrument zu spielen, das Cello; und er studierte es u.a. dort, wo der Vater von Frank Zappa seinen filius auch gern in guten Händen gesehen hätte, am Peabody Konservatorium in Baltimore.
1969 verschlug es ihn, um dem Militärdienst zu entkommen, nach Montreal.
Dort kommt ihm ein beinhartes Produkt einer Musikwelt zu Ohren; mit der Folge, dass er sich 1974 in Amsterdam mitten in diese stürzt: der Auslöser „The Topography of the Lungs“ (1970), mit Derek Bailey, Evan Parker und Han Bennink.
Einen ultimativeren Abschied von der Klassik für einen davon Frustrierten kann man sich nicht vorstellen.
Ende der 70er lebte er in Florenz, dann wieder einige Jahre in Berlin. Dort wurde er u.a. Mitglied der Ensembles, mit denen Cecil Taylor die Hauptstadt aufwühlte.
Er hat in all den Jahren einen Riesenkatalog eingespielt.
Dauerhaft aber blieb über Jahrzehnte Amsterdam, und das heißt, das ICP Orkest.
Niemand verkörperte - durchaus im Wortsinne - dessen schräge Dialektik aus Ernst & Scherz so wie er. Das große Hilfswort, das seine überaschenden Bühneneinlagen einfangen soll, lautet „Dada“.
Es war zum Schreien komisch, aber blitzschnell auch in Mitleid umschlagend, in der Tat ein „great harlequin of improvised music“, wie ihn der Blogger Martin Schray nennt.
Es ging ihm nicht gut in den letzten Jahren. Die ICP-Managerin spricht von einer ernsthaften mentalen Erkrankung, „aber wie ein Phönix hat er sich wieder gefangen“.
Sie hat ihn im Oktober 2022 zum letzten Mal gesehen, und danach: „Tristan war überall und nigends, die letzten Monate war er in New York, Berlin und Triest“.
Noch im Februar wurde dort für ihn zu Spenden aufgerufen, für Medikamente, es drohte Obachlosigkeit. Wenig später dann der warme Regen durch den von einem anonymen Mäzen gestifteten „Instant Award In Improvised Music“, dotiert mit satten 50.000 Dollar.
Er fand ein Appartement, war in Erwartung einer permanenten Aufenthaltsgenehmigung für Italien. Am 7. April spielt er mit dem Pianisten Schuichi Chino in der Buchhandlung Knulp in Triest.
Der Auftritt mit (s)einem Sextett am 23.07.23 bei den Nickelsdorfer Konfrontationen dürfte seine letzte Live-Performance gewesen sein.
Tristan Honsinger, geboren am 23. Oktober 1949 in Burlington/Vt, stab am 5. August 2023 in Triest. Er wurde 73 Jahre alt.

 erstellt: 07.08.23, ergänzt 10.08.23
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"Wie machen wir Deutschlands Jazzszene fit für die Zukunft?"

Die Deutsche Jazzunion, die Vertretung der Jazzmusiker und -musikerinnen, ist 50 geworden.
Am Anfang, im Januar und Juli 1973, bei den ersten beiden Foren in Marburg, waren sie (fast) alle da:
Albert Mangelsdorff, Manfred Schoof, Alexander von Schlippenbach, Volker Kriegel, Joachim Kühn, Klaus Doldinger … you name ´em.
Claus Schreiner   1

Claus Schreiner, links, Manfred Schoof, rechts

Hätte nicht die Geschäftsführung der ersten Jahre in den Händen von Claus Schreiner, 80, gelegen, dem Agenten von Doldinger, Mangelsdorff u.a., einem administrativ erfahrenen Mann - der zunächst als Union Deutscher Jazzmusiker eingetragene Verein hätte das Ende des Jahrzehntes wohl nicht erreicht.
Nachdem auch Mangelsdorff als Vorsitzender nicht mehr leuchtete, waren sich später selbst Szenekenner mitunter nicht sicher, ob es die Organisation noch gibt.
Aber sie hielt sich. Ein Lebenszeichen sendet sie nach 1994 alle zwei Jahre durch ihre Mitwirkung am Albert Mangelsdorff Preis.
2012 dann eine grundlegende Neuaufstellung: viel mehr Musikerinnen, ein geschlechtsneutraler Name > Deutsche Jazzunion.
Sie hat gewiss ihren Anteil an der inzwischen besseren Förderung des Jazz, insbesondere durch den Bund.
Auch publizistisch sind ihr mehrere Projekte gelungen: sie hat zwei Studien über die - ökonomisch prekäre - Lage ihrer Mitglieder initiiert; sie hat sogar die Bundeszentrale für Politische Bildung für zwei Schriften ins Boot geholt (mit Texten freilich, die teilweise nicht dem Standard deren Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschehen“ entsprechen.)
In der Geschäftsstelle der Union in Berlin sind laut Webseite heute 14 MitarbeiterInnen beschäftigt (und abgebildet samt ihrer korrekten Personalpronomina „er/ihm“ bzw „sie/ihr“).

Anette von Eichel   1Und doch braucht diese Organisation von der Größe eines mittelständischen Betriebes geschlagene fünf Tage für eine Pressemitteilung über ihr Jubiläumsforum in Marburg.
(In dieser Hinsicht sind einige ihrer Mitglieder, auch aus dem Vorstand, daheim schneller).
Die „Sichtbarkeit“, um die der Verband in der Gesellschaft ringt, sie bietet er auch aus eigener Kraft auf seinen eigenen Seiten einstweilen nicht:
keine Videos aus den drei Panels in Marburg.
Wo man sich en detail informieren könnte über die Inhalte des 27. Jazzforums, etwa über die „Bedeutung gesellschaftlicher Transformationsprozesse für die Jazzszene“.
Oder „Wie machen wir Deutschlands Jazzszene fit für die Zukunft? Implikationen für eine nachhaltige Jazzinfrastruktur in Deutschland?“
Oder schlicht: was hatten die Alten den Jungen zu sagen, und umgekehrt?
Die Pressemeldung beschränkt sich im wesentlichen auf den Transport der eines Verbandes üblichen Signalworte.
Etwa durch den Ehrenvorsitzenden Manfred Schoof:
„„Die Sichtbarkeit des Jazz in Politik und Gesellschaft ist wichtig, denn Jazz wirkt auf vielfältige Weise in die Gesellschaft hinein – als Kunst und beste Unterhaltung zugleich.“
Oder durch die derzeitige Vorsitzende Anette von Eichel:
„„Der Jazz hat der Gesellschaft viel zu geben, etwa mit Blick auf gesellschaftliche Interaktion, gemeinschaftliche Improvisation und interkulturelles Verständnis.“

Sie klingen wie Hilferufe.
Unter der tonnenschweren Last gegenwärtiger globaler Probleme, so steht zu befürchten, dürfte das Erkennen solcher sozialen Transformationsleistungen aus einer Kunstform in „die Gesellschaft“ - schon zu „Normalzeiten“ schwierig - ans Unmögliche grenzen.
Wer hätte jüngst von einem Lösungsvorschlag gehört, der sich „dem Jazz“ verdankte?
Zu dem Prekären gesellte sich obendrein Ignoranz. Die aktuellen Printmedien nahmen von dieser Veranstaltung so gut wie gar nicht Notiz.
Die FAZ zum Beispiel, vor 50 Jahren auch auf dem Foto der Unions-Gründung mit einem Berichterstatter präsent, mutete ihren klugen Köpfen diesmal gar nichts zu.

Fotos: © Georg Kronenberg
erstellt: 21.07.23
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