Christian Rentsch, 1945 - 2025

christian rentsch   1Was haben wir zusammen gelacht! Was haben wir uns gestritten!
Im Januar 2024 unterhielten wir uns - was keiner bei Annahme des Anrufes ahnte - von Bett zu Bett; er im Spital in Zürich, ich in Köln.
Für Biografien wie die seine ziehe ich gerne die Kategorie von Volker Kriegel heran: „Einzelanfertigung“. Sie erscheint mir im Falle CR als zu schwach.
Was für ein Leben!
Von 1969 bis 2004 schrieb er für den Zürcher Tages-Anzeiger; zunächst als Freier, er berichtete noch zu Studienzeiten aus dem Berlin der Spät-APO-Zeit, später als Kultur- und Medienredaktor sowie als Leiter des Kulturressorts. Er kannte sie alle: Dürrenmatt, Frisch … als wir einmal zum S-Bahnhof Stadelhofen in Zürich gingen, wies er auf eine Dachetage: „Da hat Max Frisch seine letzten Tage verbracht“.
Prominenz begegnete ihm schon in Kindertagen, er machte sich nicht viel daraus (obwohl, Profil, Individualität, Aufsässigkeit wusste er zu schätzen). Liberale wie Theodor Heuss verkehrten bei den Rentschs, Vater Eugen war Verleger alt-liberaler Literatur. Mit ihm hat der linke Sohn sich früh überworfen.
Er brauchte es materiell nicht, aber als Anekdote gefiel ihm doch sehr, dass, hätte sein Vater die „Negermusik“ nicht vehement abgelehnt, er als Erbe vom bestverkauften Jazzbuch der Geschichte profitiert hätte.
Noch vor dem S. Fischer Verlag, der es bis heute vemarktet, hatte nämlich Joachim Ernst Berendt in den fünfziger Jahren für „Das Jazzbuch“ beim Rentsch Verlag, Zürich, angefragt.
Mit Berendt hatte Christian es nicht so. Kein Wunder für den wohl kritischsten Jazzkritiker in der Schweiz. Dafür konnte er es umso mehr mit Berendts Nachfolger bei den Berliner Jazztagen, mit George Gruntz.
Seit dem neunzehnten Lebensjahr war er ihm verbunden, seit der damals schon renommierte Pianist Gruntz den ambitionierten Vibraphon-Anfänger in einer seiner Bands mitlaufen ließ.
Christian schrieb Texte für die Programmhefte der Berliner Jazztage während der Gruntz-Jahre. Er schrieb mehr noch über den Pianisten George Gruntz (1932-2013), er besuchte mit ihm Miles Davis in New York City.
Und einmal doch ließ er den Rollenkonflikt, den ein zudem kritischer Journalist in einer solchen Verbindung in sich balancieren muss, eskalieren: er schrieb eine negative Rezension über seinen Freund.
Gruntz war brüskiert. Es herrschte Funkstille. Nicht entscheidend ist, wie lange, sondern wie die beiden herausfanden. In den Monaten vor seinem Tod, nachts um Drei voller Schmerzen, wo fand Gruntz Trost in langen Telefonaten?
Hier kommt eine große charakterliche Eigenschaft von Christian ins Spiel: seine Loyalität. Ähnlich gegenüber Irène Schweizer (1941-2024); er hat sie bis zu ihrem Tode regelmäßig aufgesucht, auch als sie ihn nicht mehr erkannte.
Mitunter war bei ihm Loyalität nicht von Sentimentalität zu unterscheiden (und er nahm´s nicht krumm, wenn man ihn darauf ansprach). So fuhr er Jahr für Jahr, „aus mir selbst nicht erklärlicher Loyalität zu Burkhard Hennen“, „ans Moers Festival, wie er zu sagen pflegte. Bis 2024, als Hennen lange durch den übernächsten Festivalchef abgelöst war, und das Festival ihm nicht nur körperlich Mühen bereitete.
Ja, Christian war sozial engagiert. In einer Szene, in der dieses Attribut schon dem/derjenigen zufliegt, der einem Stück Instrumentalmusik einen entsprechenden Titel aufpappt, muss noch eine weitere Eigenschaft herausgestellt werden.
Christian hatte eine mäzenatische Ader. Er war großzügig. Wo materielle Zuwendung helfen konnte, sprang er ein. Einem Musiker finanzierte er eine Zeitlang die Wohnung, er unterstützte Medien (auch jazzcity.de).
 In den letzten zehn Jahren wandte er sich vom Jazz ab; seine Urteile über unsere kleine Welt erschienen mir zu pauschal (wir haben selbstverständlich darüber gestritten) - trotzdem fuhr er nach wie vor auf „seine“ Festivals, saß in Moers, Willisau, Langnau, Zürich und Schaffhausen, immer ein Digitalrecorder in seiner Hand. Er hat im Hotel Konzerte  tatsächlich nachgehört.
mensch klima 0Er war politisch engagiert, im Großen und im Kleinen. Er veröffentlicht zwei 500-Seiten-Wälzer: „Wem gehört das Wasser?“ (2006) und „Mensch Klima!“ (2011). Er startet einen Klima-Blog.
Seit dem Ukraine-Überfall wohnt eine ukrainische Familie in seinem Haus. Und als sich eine Initiative bildet, die das Gelände sondiert, um Edward Snowden Asyl in der Schweiz zu gewähren, wer ist dabei?
Und wer führt das Wort, als 2020 „848 Petitionäre verlangen, dass die Gemeinde eine gemeindeeigene Beiz mit einem Pächter aus Erlenbach besetzt“? (Es geht um die Gastronomie im Schiffwartehäuschen in seinem Heimatort Erlenbach am Zürichsee; Tina Turner wohnte unweit, desweiteren Nils Wogram und Roger Federer).
Als im vergangenen Jahr eine junge Frau, deutlich unter zwanzig, eine große Demonstration in Zürich organisiert, da ist Christian sichtlich stolz, als man ihn darauf hinweist, dass in seinem ältesten Enkelkind eine gute Portion der Aufsässigkeit des Großvaters weiterlebt.
Christian gehörte in seiner Berliner Zeit zu denen, die Wolf Biermann in seiner legendären Wohnung in der Chausseestraße 131 aufsuchen konnten. Im November 2023 gelingt ihm die Reinszenierung des Zürcher Treffens von Biermann mit Franz Hohler vor zweimal ausverkauften Haus im Theater Rigliblick.

Lieber Chrigi! 
Obwohl ich von deinen Erkrankungen wusste, im Großen & Ganzen jedenfalls, trifft mich der Anlass für diesen Nachruf unvorbereitet. Ich schreibe ihn mit deiner Methode (wir hatten darüber gestritten): spontan, aus dem Moment heraus. In Trauer.
Ich hoffe, ich habe dich korrekt gezeichnet (wie ich dich sehe). Im Großen & Ganzen jedenfalls.

Seit Monaten liegt bei mir ein Buch, das ich für dich in einem deutschen Antiquariat erworben habe; vermutlich wegen der hohen Portokosten in die Schweiz, ich weiß es nicht mehr.
Adel S. EliasWer wirft den letzten Stein? Der lange Weg zum Frieden im Nahen Osten“, 1993. Ein alter, nach wie vor prophetischer Titel. In diesem Frühjahr, spätestens beim Schaffhausen Festival im Mai, wollte ich es überreichen.
Ich werde es zur Beerdigung am 2. Mai mitnehmen.
Apropos Schaffhausen. Ein Festival ohne den Rentsch.
Das können sich manche gar nicht vorstellen. Das müssen sie jetzt einüben.
Christian Rentsch, geboren am 30. Oktober 1945, verstorben am 12. April 2025 in Erlenbach bei Zürich. Er wurde 79 Jahre alt.

Foto: Christian Rentsch am 10.10.21 im Museum Ludwig, Köln
erstellt: 14.04.25
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