"Nur wenige hatten keine Angst vor ihm" - Keith Jarrett wird 80

Keith Jarrett wird heute 80.
Und das Großfeuilleton zeigt viel Lust & Laune, nach den großen Jarrett-Memorials dieses Jahres (50 Jahre „Köln Concert“, kurz danach der Film „Köln 75“) auch noch den runden Geburtstag zu würdigen.
Bei einem solchen Anlaß erwartet man zuvorderst den Jarrett-Biographen Wolfgang Sandner. Der komprimiert denn auch in der FAZ gekonnt Vita & Werk des Geburtstagskindes, ohne dessen Doppelbegabung zu übergehen: „Er war ein pianistisches Genie in beiden Genres, ein hochorigineller Jazzimprovisator und ein kompetenter Klassik-Interpret.“
Das Verb in der Vergangenheitsform; niemand vergisst zu erwähnen, dass Jarrett nach zwei Schlaganfällen 2018 nicht mehr in der Lage ist, je wieder auf einer Bühne oder in einem Studio die gepriesenen Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen.
Dieser Künstler und dieser Anlaß; wie andere auch beliebt Sandner zu psychologisieren und leitet mit einer Janusköpfigkeit ein: „Es gab immer zwei Keith Jarretts. Der eine war höflich, empfindsam und introvertiert…“.
Und der andere? „Der (…) war brüsk, empfindlich und impulsiv, rücksichtslos gegen sich und die Umwelt, wenn es um Kunstdinge ging: ein öffentliches Monster am Klavier. Nur wenige hatten keine Angst vor ihm.“
(Menschenskinder, jetzt fällt uns siedendheiß ein, dass wir am 24.01.75 mit schlotternden Knieen in der Oper Köln Platz genommen hatten, wohingegen die damals frisch Angetraute vollkommen furchtlos wirkte.)
Ueli Bernays übergeht in einem ausführlich Stück in der NZZ ebenfalls nicht den „Bach-, Mozart- und Schostakowitsch-Interpreten“ Jarrett.
Leider begibt er sich aber auch auf das Glatteis von Jarrett-Aussagen und Jarrett-Metaphern; darunter jene, der Pianist selbst habe sich einmal „als Bauchredner charakterisiert, der gleichzeitig auch die Puppe verkörpern müsse.“
In diesem Zusammenhang habe er von seiner linken Hand „in der dritten Person Singular“ gesprochen. Das klingt im Original so:
My left hand actually had knowledge that I wasn’t letting it tell me for years and years“ und dürfte die gerade in Zürich konzentrierten Musik-Kognitionswissenschafter erheitern.
Keith Jarrett New Vienna 2LP s515708 o7022389 a555320 v13266935.c5bbfad4 KopieAuch Gregor Dotzauer, der schon den Siebzigsten ausführlich gewürdigt hat, macht im „Tagesspiegel“ seinen neuerlichen Glückwunsch mit einer steilen These auf. Er beruft sich auf den Jazzbassisten Ben Street, der Keith Jarrett „einen maßlos unterschätzten Musiker“ genannt habe.
Genau! Allen Menschen, die guten Willens sind, stehen nun die Haare zu Berge.
Und Dotzauer nutzt die kontraintuitive Empörung (wohl auch im Sinne von Ben Street), um ein Paradox zu beschreiben:
„Denn die Anbetung, die Jarrett seit einem halben Jahrhundert zuteilwird, korrespondiert mit einer tiefen Unkenntnis dessen, was sein breit gefächertes Genie ausmacht. Die unkritische Kanonisierung seiner Kunst geht einher mit einer Taubheit für ihre Details.“
Dotzauers rhetorische Frage („steckt in solch hilflosen Ehrerweisungen nur eine andere Form von Mystifizierung?“) zielt auf einen Kernbestandteil des großen Jarrett-Mythos´.
Er belässt es nicht dabei und zählt Merkmale des Jarrett-Stiles hervor: „An erster Stelle der ans Gesangliche grenzende Atem seines Spiels, der ihn noch in der virtuosesten Raserei trägt.“ Dann der harmonische Reichtum; die Jazz-Voicings; „die nicht nachlassende rhythmische Spannkraft insbesondere der linken Hand“ (da haben wir sie wieder). Sowie die Anschlagskultur.
Das alles sind Aussagen und Wertungen, denen man mehr oder weniger zuneigen, die man auch ablehnen kann, die alle aber anschlußfähig sind im Sinne eines Diskurses.
Der kräftigste downbeat aus diesem Anlaß, er kommt woher? Richtig, er kommt von der SZ, und dort wie erwartbar von Andrian Kreye. Er hat eine Wucht, nein, sprechen wir lieber von einem Absurditätspotenzial, womit er alle Sicherungen durchschlägt und sich unterirdisch verpieselt.
Es handelt sich um den frivolsten Ausschlag einer jüngeren Tendenz im SZ-Feuilleton, das Gewerbe, das von mehr oder weniger subjektiven Bekundungen lebt, ins Subjektivistische zu überführen.
Es tritt an ein Schreiber, der laut eigenem Bekunden „The Köln Concert nie durchgehört“ und den Pianisten „niemals live gesehen“ hat. Der meint, seine Voreingenommenheit und Beschränktheit (es geht ihm nur nur um das Köln Concert) als „Analyse der Abneigung“ auszuweisen, reiche zu einem satisfaktionsfähigen Feuilleton. Es reicht nicht mal zu einem zünftigen Pamphlet.
Wäre es umgekehrt denkbar, dass, sagen wir, die SZ-Kollegen Brembeck, Mauro, Schreiber, einen, sagen wir, runden Geburtstag von Wolfgang Rihm oder Helmut Lachenmann in dieser Qualität im Blatt berücksichtigten?
That´s Jazz! SZ-Jazz that is!

PS. Der NDR öffnet aus gegebenem Anlass sein Archiv und präsentiert einen stupenden Mitschnitt des Jarrett Trios aus dem 81. Jazzworkshop 1972; mit dem zwischendrin zum Sopransaxophon wechselnden Pianisten, einem gut auflegten Charlie Haden, b, sowie einem agilen Paul Motian, dr, der in großem Kontrast zu seinem Spätwerk spielt.
Nicht zu vergessen das eindrucksvolle Videointerview aus dem Jahr 2023 von Rick Beato mit dem linksseitig gelähmten Jarrett, der staunenswert mit der rechten Hand agiert.
Am 30. Mai veröffentlicht ECM einen weiteren Mitschnitt aus der Europatournee 2016: „New Vienna“.

erstellt: 08.05.25
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