What you have missed: BROEtz 2023!, Wuppertal

Brotz23 Tag 2Helge Lindh, 46, SPD, hat bei den letzen beiden Bundestagswahlen das Direktmandat im Wahlkreis Wuppertal I gewonnen. In der Partei zählt er sich zum - konservativen - Seeheimer Kreis.
Im Gegensatz zu anderen Volksvertretern im Tal hat er keine Angst vor FreeJazz. Man sieht ihn im ort, und auch bei BRÖtz 2023! fliegt er nicht nur mal kurz ein, sondern bleibt auch nach seinem Grußwort im Ada. Und kehrt am letzten Festivaltag noch einmal zurück.
Das Festival, von Peter Brötzmann vor seinem Tod noch mitgeplant, will zweijährlich „eine Kombination langjähriger Weggefährt*innen und jünger Künstler*innen“ präsentieren, „die gerade dabei sind, die Entwicklung der Improvisierten Musik neu zu definieren“.
Bei dieser eminent in die Zukunft gerichteten Aufgabenstellung, war es vielleicht das Geschickteste nicht, dass Lindh aus dem über-
reichen Zitatenschatz des Modells Brötzmann zwei von dessen nicht gerade hellsten Gedanken herausfischte.
Zum Beispiel dessen Verachtung dafür, dass FreeJazz nun auch an Hochschulen unterrichtet werde. Das kommt gut an im Ada, unter Veteranen, bekräftigt aber den ausschließenden Charakter, den diese Musik nun auch mal hat.
Verfügte Lindh über einen ghost writer, hätte ihm dieser vielleicht geraten, das Fenster der Referenzen weit zu öffnen; also beispielweise auf einen US-Präsidenten zu verweisen (Bill Clinton), der Brötzmann schätzt, oder jüngst - und fast ebenso verwegen - auf den Tenor-Kollegen Joshua Redman.
Brötzmann macht Eindruck, hat Einfluss auch auf solche, die ein ganz anderes Instrumentarium bedienen und von denen man dies nicht unmittelbar ablesen kann. Zum Beispiel vom Minimal-Drummer Etienne Nillesen.
Brotz23 Muche Nill Schmidtke

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Matthias Muche
Etienne Nillesen
Wolfgang Schmidtke


Brötzmann kannte Nillesen nicht. Sagt Wolfgang Schmidtke, 67. Und er muss es wissen.
Seine Rolle im „sounds like whoopataal“ ist von einer ungewöhnlich schillernden Dialektik. Schon biografisch ist er nicht so nah dran an Brötzmann wie dessen musikalischer Ziehsohn Hans Peter Hiby. Aber er hat x-mal mit dem Alten gespielt; als Saxophonist hat er drauf, was das Genre verlangt, war aber nie Vertreter der reinen Lehre. Dafür hat er sich zu viel um Jazzrock, Theatermusik und seine Big Band gekümmert.
Schmidtke hatte vor zwei Jahren schon mit Brötzmann dessen letztes großes Festival „Brötz 80!“ kuratiert. Jetzt überwiegend (und in Zukunft allein) trägt er die Verantwortung für den spiritus rector mit. Und aus seiner Argumentation pro Nillesen spricht wieder Distanz & Nähe zum Alten:
„Wenn Brötzmann z.B. mit Etienne Nillesen gespielt hätte, dann hätte er erlebt, dass jemand, der halb so alt ist wie er selbst, etwas mit dem Schlagwerk macht, das mindestens so revolutionär wie das ist, was Han Bennink gemacht hat“.
Brötzmann & seine Schlagwerker. Seine letzte Perkussionistin gehört zu denjenigen, die ihre Teilnahme absagten; ihnen war der zeitliche Abstand zu seinem Todestag zu kurz, um an dessen Ort in Wuppertal, dem Konzertsaal oberhalb des Café Ada, seiner zu gedenken.
Einer seiner etatmäßigen Schlagzeuger war gekommen, Steve Noble aus London. Und mit ihm verband sich an allen drei Tagen, in wechselnden Besetzungen, die (erwünschte) Noch-Gegenwart des alten Aufwallens, auch der Kraftmeierei.
Mitunter ging das auf Kosten der anderen, beispielsweise der Hörbarkeit des Bassisten Dieter Manderscheid.
Brotz23 Held ManderschAuch er - viele wissen es nicht - ein gelegent-
licher Brötzmann-Mitspieler (z.B. Album "Danquah Circle", 2002).
Er traf u.a. auf Pablo Held.
Die Einladung war eine Ehre für den Pianisten. Er hat Brötzmann ein paar Mal gehört, seine Musik hat ihn „berührt“.
Und noch sehr viel häufiger, aus viel größerer geografischer Nähe, hat ihn die Musik seines Partners Manderscheid berührt.
Die beiden sind sich in Köln, in Clubs, in Konzertsälen, in der Musikhochschule, man möchte fast sagen Jahrzehnte lang begegnet - in Wuppertal, im Ada, spielten sie zum ersten Mal zusammen!
Einen frei improvisierten, weitgehend frei-tonalen set, den man gleichwohl zögert, als „FreeJazz“ zu etikettieren.
Am letzten Tag kam Lillinger. Er bediente sich desselben Instrumentariums wie Noble, und sogleich zeigte sich: it´s the drummer, not the drum set.
Christian Lilinger spielte anders als sonst, mehr cymbals. Er fühlt sich dieser Musik „nicht verwandt“, ihre Techniken allerdings sind ihm vertraut. Ihn interessierte der Ort, vielleicht auch dessen Mythos.
Brotz23 Mehner Lill Holmlander 1Allerdings lässt er sich von diesem nicht ins Bockshorn jagen. Ein 4/4-Beat, der sich improvisatorisch einstellt, früher ein diabolus in musica Wuppertalis, er lässt ihn nicht verschwinden, wie tags zuvor Steve Noble, sondern gibt noch eins drauf, indem auf der bassdrum four on the floor markiert.
Per-Oke Holmlander, Tubist aus Stockholm, einer aus der Brötzmann-Entourage, mochte oder konnte ihm so recht nicht folgen.
Dafür umso mehr Raissa Mehner aus Köln mit einer ungewöhnlich reichen, „gitarren“-fernen Klangpalette.
Auch sie hat den einen oder anderen Wuppertaler diabolus im Angebot, beispielsweise einen Rock-vamp.

Brötzmann & die Musikerinnen.
Almut Kühne rang mit sich, „ob diese Einladung so stimmt“, wo sie doch nicht zum Kreis derer… gehört. Sie fragte sich, ob er das, was sie macht, überhaupt gemocht hätte. Vor vielen Jahren, sie war noch im Studium, hat sie mal mit ihm gespielt.
„Das war sehr schön. Da hat er sehr zart gespielt. Ich schätze ihn sehr. Das Konzert, wo ich ausgerastet bin vor Euphorie, war mit dem Chicago Tentett“.
So spricht sie am letzten Tag, nach mehreren Performances an drei Festivaltagen.
Und wenn die Jazzpolizei den Ertrag von Broetz 2023, kurz & ungerecht, auf eine Person kondensieren müsste, dann wäre es in dieser 40jährigen Vokalistin aus Berlin.
Nur gelegentlich hört man Anflüge des Semantischen, meist bewegt sie sich also vor dem Scat, in einem freien Vokalisieren. Intervallsprünge, Linien, Pausen, alles mühelos.
Sie ist (und das hat nun wirklich nichts mit dem Austausch eines Konsonanten ihres Vornamens zu tun), sie ist eine sehr anmutige, eine sehr visuelle Performerin.
Der rechte Arm ruht, der linke ist ständig in Bewegung; damit lässt sie raus die Spannung, die es braucht, um ein solches Panorama an Vokalisen zu produzieren: „Im Grunde sitzt der Gesang in meinen Fingerkuppen“.
Am ersten Tag schon fliegt ihr der meiste Beifall zu, nach einem Duo mit der Wuppertaler Perkussionistin Salome Amend. Auch bei ihr (man muss ihn erst mal entdecken in einer Klangschale) tut der neueste Schwingungsgeber der Perskussionistenfraktion seine Dienste: ein Vibrator, so wie bei Amends Wiener Kollegen Lukas König (den sie natürlich auch kennt.)
Brotz23 nill kuhne jasonAm Folgetag ein Ensemble, das die Konzeption von Brötz 2023 in einem Trio manifestiert, so wie sie Wolfgang Schmidtke umreißt:
„Wenn ich Brötzmann mit seinem Lebenswerk und seinem Anspruch ernstnehme, kann ich ihn nicht musealisieren und das, was er getan hat, reproduzieren.“
Hier also Altmut Kühne, Etienne Nillesen aus dem post-Brötzmann-Lager und Jason Adasiewicz, Vibraphonist aus Chicago, aus der alten Entourage. Von den alten Kämpen, ohne Frage, hinterließ er den besten Eindruck.
Er war der wandlungsfähigste. Guter Beleg dafür ein anderes Trio, in dem er Hiby und Noble eine halbe Stunde im alten Stile den Vortritt ließ, dann erst auf der Bühne erschien - und den set peu a peu drehte.
Adasiewicz (und da hilft ihm auch sein Instrument) manifestiert ebenfalls die Dialektik der neuen Konzeption. Er kann gut mit den alten „Freigeistern“, er sucht aber ebenso mehr auch Formen in der Freien Improvisation, womit Schmidtke korrekt die jüngere Generation kennzeichnet.
Plakat Broetz ADA 2023BROEtz 2023 oder BRÖtz 2023!.
Das neue Festival kann sich selbst innerhalb seines Flyers nicht für eine Schreibweise entscheiden.
Das spricht mitnichten gegen seine CI, seine corporate identity. Die ist hinreichend garantiert durch die Brötzmann-Typographie, eine Marke für sich.
Die einzelnen Lettern sind inzwischen digitalisiert, mit ihnen lässt sich umstandslos alles darstellen, was der Fall ist.
Last not least: der Name. Welches Festival kann sich rühmen, seinen Gehalt auf eine Vorsilbe zu reduzieren?
Vielleicht sollte eine Biennale, die dermaßen über genius loci & spiritus rector verfügt, im Titel eben ausdrücklich unpräzise bleiben. Sie kann sich solcherart Volatilität im Erscheinungsbild erlauben - schließlich ist es ein Festival Für Freie Musik. Bei dem die Teilnehmenden erst vor Ort erfahren, mit wem sie - ohne Probe - die Bühne teilen werden.

 

 

 

Fotos: Karl-Heinz Krauskopf (3)
erstellt: 02.10.23
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