What you have missed: Köln 85/95 > „Vor der Flut“

Köln 75“ verbindet wenig mit Köln 85/95. Außer dem Ortsbezug, der in beiden Fällen den leicht entflammbaren Lokalstolz aktiviert.
Es finden sich Menschen in den fünf Kölner Kinos ein, in denen der Film läuft, die man nicht unbedingt zum inner circle der Jazzbegeisterten in der Domstadt zu zählen gewohnt ist.
Köln 85/95 immerhin zog bei bestem Ausgehwetter 260 Interessierte in das damit vollständig besetzte Filmforum NRW; am Sonntag, den 16. März 2025, 15 Uhr.
Ja, auch die „gerade“ Jubliäumseigenschaft in Zehnjahresschritten ist beiden Projekten gemein: „Köln 75“ blickt auf fünf Jahrzehnte zurück, Köln 85/95 auf vier bzw. drei.
Die mythologischen Gewichte sind ungleich verteilt. Das heisst aber auch: Köln 85/95 ist in dieser Hinsicht nicht ganz ohne. Kein Mensch kennt das Projekt unter dieser Chiffre (sie dient ausschließlich der Dramatisierung des Eingangs dieses Beitrages), alle sprechen, erinnern sich, feiern das Projekt unter seinem wahren Titel „Vor der Flut“.
Sie ergoss sich Ende Januar 1985 in der Kölner Südstadt. Keiner in der dicht-besiedelten Nachbarkschaft am Zugweg nahm davon Notiz, 20 Millionen Liter Trinkwasser stürzten in den Trinkwasserspeicher „Severin“.
Es war das - verabredete - Aus für das ambitionierte, singuläre Projekt „Vor der Flut“.
Zwei Jahre stand die optisch eindrucksvolle Sisterne leer; die 1899 erbaute Anlage wurde renoviert. Hinnerick Bröskamp, heute 75, betrat sie Ende Oktober 1984 trockenen Fusses. Der Filmemacher, nebenbei auch als Saxophonist und im Obertongesang engagiert, war auf der Recherche für eine Dokumentation über die Trinkwasserversorgung.
Über deren Qualität weiss die Stadtfolklore Bescheid, seit die Black Fööss 1983 den Werbeslogan der Stadtwerke „Dat Wasser vun Kölle es joot“ (1983) mit dem gleichnamigen Lied ironisch neutralisiert haben.
wasserspeicher1 c0e397ffDie Verantwortlichen im Wasserwerk bedeuteten dem Rechercheur, sie hätten da unten noch einen Raum, den könne er sich mal ansehen.
Er hat kein Licht, die Temperatur liegt bei 5 Grad; alles muss über eine steile Eisenleiter in einer Luke herein- und wieder herausbefördert werden. Im übrigen könne man dort unten sein eigenes Wort nicht verstehen.

Bröskamp stieg hinab, klatschte in die Hände - und ward umgehauen, was er da hörte: einen Naturhall, ohne Echo, von (wie eine Akustiker der Uni Köln später messen konnte) 45 Sekunden!
Zum Vergleich, der Kölner Dom bringt es auf 13, das Taj Mahal, in dem Paul Horn 1968 sein Album „Inside“ aufnahm, auf 28 Sekunden Nachhall.
Severin in Köln glänzt durch den größten je in einem Gebäude gemessenen Wert.
Bröskamp erwirkte gegenüber den Verantwortlichen die Konversion dieses Nutzraumes in einen temporären Tempel der Kunst. Die erneute Flutung wurde verschoben, für sechs Wochen rückten Künstler & Techniker ein. Obenauf lag tageweise tiefer Schnee.
Vor der Flut Moderatoren   1

Rolf Bringmann (ehem. WDR), Tontechniker Frank Norden, Hinnerick Bröskamp

Einem solchen Memorial ist der Charakter eines Veteranentreffens nicht ganz fremd. Bei einer Zeitspanne von vier Dekaden bleibt das Beklagen von Verlusten nicht aus. Der jüngste ist der Tod des Obertonsängers Jochen Vetter (von dem nicht mal sein Wikipedia-Eintrag etwas weiß), auf der kurzen Strecke zwischen Einladung und Veranstaltung.
Natürlich gehört auch das Selbstlob dazu. Es galt allerdings vornehmlich Fragen der Logistik. Im Herbst 1984, die Etats sind wie gewöhnlich erschöpft zu diesem Zeitpunkt im Jahr, legen drei WDR-Hörfunk- und zwei Fernsehredaktionen zusammen, was sie noch haben. Die Anmerkung des Co-Moderators Rolf Bringmann, einst WDR-Redakteur, so etwas sei heute im WDR nicht mehr möglich, sie wurde raunend wohl als Andeutung über die organisatorische Flexiblität hinaus quittiert.
Die Stadt Köln war seinerzeit nicht zu erweichen. Ihr jubelt am 6. Dezember 1984 der WDR-Hörfunk in einem satirischen Beitrag die Eröffnung des „ersten Hall- und Echomuseums der Welt“ unter.
In gewisser Weise aber ist „Vor der Flut“ genau das (freilich ohne den Echo-Aspekt. Clou des Wassersspeichers Severin ist ja gerade, dass in ihm dank der niedrigen Höhe und der wasserundurchlässigen Beschichtung der Säulen ein Klang über 45 Sekunden verebbt, ohne sich auch nur einmal zu wiederholen.)
Eine wortwörtlich einmalige Einladung für künstlerische Inbetriebnahme.
Vor der Flut Conrad Bauer   1Im März 1985 wird eine halbstündige TV-Fassung ausgestrahlt, im selben Jahr erscheint ein Doppelalbum, darauf auch Künstler wie Conrad Bauer, die im Film nicht zu sehen sind, sondern ausschließlich akustisch.
Der Posaunist, 81, seinerzeit schon mit viel Erfahrung in puncto Kirchenhall, wird in den liner notes zitiert: „Aber so etwas wie dieses Gewölbe hier, habe ich noch nie erlebt. Ich habe mich auch umgestellt und Überlagerungen gespielt. Dann klingt die Posaune wie zwei Instrumente.“
Conrad Bauer, tags zuvor in Hannover, konnte kurz beim Jubliäum auftreten. Ebenso ein abgespeckter Obertonchor unter Leitung von Christian Bollmann.
Schließlich und endlich die Hauptsache, der Ein-Stunden-Film „Vor der Flut“, entstanden 10 Jahre später, 1995.
Ein stilistischer Querschnitt durch das, was damals als „Musikstadt Köln“ nicht nur Eigenwerbung war - minus ihre Rockabteilung. Denn was soll ein Beat, der nicht tight erklingt, sondern fast eine Minute herumwabert?
Mehrfach Obertongesang, mittelalterliche Musik (Ensemble Sequentia, 2002 nach Paris übergesiedelt), Pauline Oliveros (1932-2016) aus dem stilistischen Niemandsland zwischen Neuer Musik und Neuer Folklore (hier freilich auf ihrem Akkordeon mit nur geringer Raumnutzung).
Aus der realen Folklore der Flötist Dario Domingues (1954-2000).
Alois Bucher (1928-2009) berühmter Alphornspieler aus der Schweiz, der ausweislich eines Interviews bei einer kurzen Performance am Hauptbahnhof Düsseldorf (!) von einem Schafner über das „Klangschloß“ gehört haben will - und sich dann gleich nach Köln begibt.
Heiner Goebbels ist da. Er nutzt diese Kathedrale des Klanges wie kein zweiter. Er stellt sich ihr, mit Küchenmixer, einem toy piano und drei kleinen Stahlplatten, die wirkungsvoll umscheppern.
Goebbels´ „Sintflut. Ein Vorfilm für Herbert Achternbusch“ ist zugleich eine visuelle Inszenierung. Ähnliches erlebt die Kölner Saxophon Mafia. Vier von ihr intonieren auf Gartenschläuchen eine tiefen drone, solistisch und auch visuell abgetrennt spielen Joachim Ullrich (Klarinette) sowie Armin Tretter (Sopransaxophon).

Vor der Flut Tanzforum Koln   1

Ein Glanzpunkt, das muss man wirklich sagen, sind die vier Performances des Tanzforums der Oper Köln unter der Leitung von Jochen Ulrich (1944-2012). Deren erste (ein Clown passiert neckisch eine Reihe recht klischeehafter Typen an den Säulen), wirkte stumm zunächst nur wenig. Einen ganz anderen Dreh bekam die Sequenz, als man später im Schneideraum die Saxophon Mafia akustisch & optisch dazumischte.
Die „Steps“ dann, in drei verschiedenen Szenen, verzichten völlig auf musikalische Beimischung. Sie wirken allein durch ihre akustischen Abdrücke (Schritte) in der wie in einem expressionistischen Film ausgeleucheten Halle.
„Vor der Flut“ kumuliert hier seine Höhepunkte, bis das Ensemble Sequentia das Drama wieder um mehrere Jahrhunderte herunterpegelt - und schließlich wirklich Wasser hereinströmt, die Flut.
Und damit sind alle deutlich aufkeimenden Wünsche nach Fortsetzung, Wiederholung oder Aktualisierung (wie würde man den Raum heute bespielen?) buchstäblich ersoffen.
Seit 2016 ist der Speicher zwar wieder trocken, er steht leer - darf aber nicht mehr betreten werden. Die wasserabweisende Substanz an den Wänden bröckelt (1984/85 war sie das Gleitgel der Akustik); Severin ist nicht einsturzgefährdet, Severin wird einfach nicht mehr gebraucht.
Was bleibt, ist eine sehr geringe Restauflage an CDs und LPs, nicht mal eine jubiläums-motivierte TV-Ausstrahlung ist geplant. Aus & vorbei.
„Vor der Flut“ geht nicht vollständig baden, das Projekt hallt nach in einem YouTube-Video.

PS: in knapp einem Jahr stehen die nächsten kölschen Musik-Memorials an. Im September 2026 werden Stadtgarten & Philharmonie 40.

erstellt: 17.03.25
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