„Every Note you Play“, die Doku von Mika Kaurismäki über das „Prequel“ der Monheim Triennale II, läuft derzeit in rund vierzig deutschen Kinos.
Wer sich nach Besuch der „Vorgeschichte“, mithin der Ausgabe 2024, animiert fühlte, eine Prognose in der Hauptsache zu wagen, über „The Festival“ 2025, tat dies auf unsicherem Grund.
Die Doku selbst schweigt dazu. Kaurismäki zeigt die erste Begegnung von 15 der auserwählten 16 signiture artists, die sich überwiegend nicht kannten, unter dem 2024 prägenden Motto der Freien Improvisation (jedenfalls ganz überwiegend).
Das Spezifikum der Monheim Triennale, nämlich dass diese KünstlerInnen damit automatisch für das Folgefestival eingeladen sind, um ihre Performances a) im Lichte der Erfahrung aus den spontanen Kooperationen auszuarbeiten (deren positiven Charakter sie im Film ausgiebig feiern) und/oder b) mit eigenen Projekten anzutreten, dieses Spezifikum musste man der Presse bzw. den Mitteilungen der Triennale selbst entnehmen.
Die personale Kongruenz von Beteiligten war, wie geplant, groß.
Die konzeptionelle, die ästhetische Kongruenz … gering.
In anderen Worten (insbesondere für Freunde der Vielfalt): die Varianz der künstlerischen Performances 2025 war groß, verblüffend groß; das inoffizielle Motto des Festivals, „documenta der aktuellen Musik“, noch fragwürdiger - alle anderen summierenden Begriffe aber auch (dazu später mehr).
Auffällige Nicht-Präsenz auf der Bühne der MS RheinFantasie 2025: die indische Sängerin Ganavya Doraiswamy, die den Film auf dem Oberdeck mit der arglos gespielten rhetorischen Frage eröffnet „Wo bringst du mich hin?“. Sie war durch einen Koordinierungsfehler zwischen Monheim und einem französischen Festival verhindert.
Peni Candra Rini als ihren „Ersatz“ zu bezeichnen, erscheint nachgerade als frivol.
Was dem mitteleuropäische Auge & Ohr zunächst als faszinierendes Sinnenspiel aus Südasien erscheinen mochte, entpuppte sich bei weiterem Befassen als nicht nur akademisch durchtrieben (die Monheim Webseite führt sowohl sie als auch den Multiinstrumentalisten an ihrer Seite, Andrew McGraw, jeweils mit ihren Doktortiteln auf). Sondern gab der Performance mit der Schlüsselreferenz Kronos Quartet sogleich einen ganz spezifischen Bedeutungsrahmen.
Für dieses, das eigene „Genre“ extrem weitende Streichquartett hat die Dozentin am Indonesian Institute of The Arts nämlich (auch) komponiert; sie wird von ihm als „eine der größten Sängerinnen der Welt“ promoviert.
Auch ohne Bachelor in Musikethnologie, Schwerpunkt Südost-Asien, teilt sich ihr vokales Niveau unmittelbar mit, dank Intonation, Verzierungen, Intervallsprüngen. Auch der Grad an Gamelanmusik ist offenkundig, wenn auch nicht so plakativ verfälscht wie bei Eberhard Schoener, aber eben doch auch quasi universalistisch ergänzt um die electronic devices von McGraw.
Verrätselt hingegen wurde die Performance durch diverse Bildsprachen auf der Videowand. Poetische Textzeilen, in ihrem zeitlichen Bezugsrahmen vieldeutig lokalisierbar, wechseln mit traditionellen Bildmotiven. Und diese immer wieder überlagert durch den - versteckt hinter dem Screen agierenden - Schattenpuppenspieler Gusti Sudarta.
Ohne auch nur ein Wort von ihm, der seinen Text dramatisch intoniert, oder auch von Rini zu verstehen, schlägt die für Mitteleuropäer bis dahin offene Semantik um, als plötzlich Planierraupen und Kettensäge erscheinen, im Scherenschnitt.
Tags drauf, beim Frühstück, Frage an Frau Rani und ihre Entourage, die mit Abstand bestgelaunte Gruppe im Hotelrestaurant:
wieviel Prozent der gesamten Performance der Tradition entnommen seien.
„20 Prozent“, sie müssen nicht lange nachdenken. Ja, richtig, die ausführenden Rollen sind traditionell: der Puppenspieler, die Sängerin, der Gamelanspieler (Guruh Purbo Pramano); die litauische Kankles-Zither (gespielt von Indre Jurgeleviciute) dürften sie nicht gemeint haben, ebensowenig die Geräte von McGraw.
Dann drehen sie den Spieß um und fragen den Fragesteller nach seiner Identität. Als der seinen Festivalpass zeigt, vermitteln sie ihm geradezu jubilierend den Eindruck, insbesondere ihn erwartet zu haben. Ohne Zynismus, ohne Ironie, in vollendeter Höflichkeit.
Am Rande von Peni Candra Rinis Bühnenbild von „Allegories of the Southern Sea“, in einer kleinen Rolle am Bass-Synthi, fast wie ein fünftes Rad am Wagen, der anchorman der Filmdoku, der künstlerisch-soziale spiritus rector mehrerer Jahrgänge der Monheim Triennale: Shahzad Ismaily aus New York, mit insgesamt sieben Performances auch diesmal der meistbeschäftigte unter den signiture artists.
Seine Signatur dürfte weniger enthalten sein im Schriftzug der künstlerischen Höhepunkte 2025. Dafür illustrierte er, bevor er beim Rini-Ensemble Platz nahm, in einer kurzen Ansage das Motto des Festivals, ohne auf „documenta der aktuellen Musik“ expressis verbis einzugehen.
In Monheim, so lässt sich seine kurze Poetik zusammenfassen, hört man mit dem Herzen, offen, sozusagen begriffslos. Das kommt gut an in einer laufenden Veranstaltung, das macht gedanklich satt für den Augenblick, trägt aber kaum über den Tag hinaus.
Gleichwohl - und nun kommt das Paradox - zog der wohl alles überstrahlende Programmpunkt „silver through the grass like nothing“ von yuniya edi kwon, derart in den Bann, dass man eine Dreiviertelstunde lang vergass zu fragen, was ist daran aktuell? was ist tradition? was ist wie oder was?
Die Violinistin/Vokalistin aus New York kommt prominent vor im Film, sie gehört (neben Ismaily, Shannon Barnett, Peter Evans) auch zu den KünstlerInnen, die sich sprichwörtlich an die Basis begeben, um schließlich inmitten von Monheimer AmateurInnen auf die Bühne zu stehen; eine weitere Signatur der Monheimer Triennalen.
Edi kwon, aus Brooklyn (von der man vorher wenig wusste und von der offenbar auch in Amerika wenig bekannt ist) manifestierte am eindrucksvollsten den erwünschten Wandel von „The Prequel“ zu „The Festival“ : von der freien Improvisation (die im Sinne von Solo-Kadenzen auch jetzt vorkommt) zu einem ausgearbeiteten Werk, zu einer Komposition (sie nimmt, auf mehreren Papieren geschichtet, jeweils mindestens einen Meter ein).
Den Hintergrund aus koreanischem Schamanentum, japanischem Butoh-Tanz, Queerness, rituellen Musiken verkörpert sie in einer Performance, die ihre mittelbaren Voraussetzungen wenig ausstellt, wohl aber in einer eminent visuellen Musik - ohne im engeren Sinne Musiktheater zu sein.
Der Einsatz der musikalischen Texturen ist betörend: Koreanisches, Afro-Amerikanisches, New Music; ein Streichquintett, zwei PerkussionistInnen, in kollektiv fortschreitender Stimmführung.
Sie selbst bricht aus, in violinistisch expressiven Kabinettstückchen. Mal spricht sie, dann wieder singt sie, der Klang mit seiner Echo-Hall-Mischung ist so eingestellt, als handele es sich um Rockabilly-Vocal.
Es liegt eine unglaubliche Grazie über dem Ganzen. Dass das zeitgenössisch ist, in diesem Sinne „aktuell“, steht außer Frage. Und - sicher kein Jazz, wie es der Festivalleiter Reiner Michalke immer wieder für Monheim nicht-reklamiert.
Sehr wohl mit dem Jazzbegriff zu vereinbaren (wenn man seinen Bedeutungsradius nicht so eng schnürt wie der Festivalchef, und die aktuelle Musikphilosophie wird einem da beispringen) waren die insgesamt fünf Auftritte von Peter Evans.In welchen Kontext auch immer der New Yorker Trompeter sich stellt - die Quote des Gelingens, mindestens des Beeindruckens ist groß.
Das geht schon los mit dem Arsenal an Tönen, die er seinen gekrümmten Metallröhren entlockt. Es gibt immer noch eine Variante, die man noch nicht gehört hat.
Dieser technischen Meisterschaft entspricht eine der Konzeption(en). Evans ist kein one- (pardon) kein multi-trick-pony, er macht nichts ohne ästhetischen Sinn; er stellt sich nicht aus, auch in seinen eigenen Projekten ist seine Rolle die eines Teamplayers.
Das gilt insbesondere für die beiden Performances von „Being & Becoming + Voices“ - Highlights in Monheim.
Drei Sängerinnen (Sofia Jernberg, Mazz Swift und Alice Teyssier, die beiden letzteren an Violine und Flöte auch Instrumentalistinnen), von der Textur her eher in Richtung Neue Musik geplant.
Dann Evans selbst (weniger Bandleader als vielmehr mitwirkender Komponist), der fabelhafte Joel Ross, vib, und dann- ja, durchaus im Sinne des Jazz, eine sehr offen agierende Rhythmusgruppe mit dem dynamischen Tyshawn Sorey, dr, sowie einem Bassisten, den man sich unbedingt merken muss: Nick Jozwiak.Wo hat man das schon einmal gesehen?
Einen Musiker, der Kontrabaß spielt, dann aber an bestimmten Stellen (die Partitur gibt das vor) das sperrige Teil an die linke Schulter lehnt - um mit beiden Spielhänden einen Synthie zu bedienen, einen Moog Sub 37.
Über das, was er da mitunter durchaus im Sinne der bekannten Sequencer-Ästhetik ´raushaut, legen die anderen Linien - die man garantiert so nicht erwartet hat.
Evan´s Ensemble braucht kein ideologisches Vor-Echo; sein Anspruch teilt sich dem Zuhörer im Vollzug mit. Das Ensemble von Selendis S.A. Johnson versank im Vergleich dazu in der größten Hybris des Festivals. Wie mit einem Oktett eine „Zukunft der Big Band“ gestaltet werden soll, wie es die Ansagerin vollmundig versprach, erschien ebenso rätselhaft wie der großspurige Titel des Projektes „Reflections on the German Revolution (1918-1919 and more)“.
Gut & schön, wenn amerikanische Künstler vorher in die Geschichtsbücher ihres Gastlandes schauen; Frank Zappa hatte dies auch getan, bevor er 1968 in Essen auftrat, mit der Lektüre von William Manchesters „The Arms of Krupp“.
Aber er behielt seine Lesefrüchte für sich. Auch Johnson hätte das gut angestanden. Seine Musik enthielt nicht den Hauch entsprechender Verweise. Big Band-Innovatoren wie John Hollenbeck oder Darcy James Argue, die seit Jahren auf diesem Felde arbeiten, dürften deren Strukturen keine schlaflosen Nächte bereiten. Auch die spontane Verteilung von Stimmen durch einen Bandleader ist von John Zorn, Butch Morris, ja auch Frank Köllges, als conducted improvising bestens vertraut.
Hinter allbekannten Strukturen verschwand nahezu auch die Signatur der georgischen, in Utrecht lebenden Keyboard-Elektronikerin Anushka Chkeidze.
Ihre Komposition „Intricate Pipes“ („komplizierte Pfeifen“) trug gleichfalls einen hohen Anspruch. Mittels Software-Steuerung aktivert sie zwei Manuale auf dem Spieltisch der Altstadtkirche Monheim, sie selbst bedient den Fußbass. Die Muster, die sie zum Entzücken des Publikums kreisen lässt, verlassen an keiner Stelle den Formelvorrat, wie man ihn seit Jahrzehnten aus der Minimal Music von Philip Glass kennt.
Die Vorstellung, dies gehöre auf eine „documenta der aktuellen Musik“, geriet hier ähnlich unter Druck wie bei „How much is the Moon?“ von Shannon Barnett, Professorin für Posaune an der Musikhochschule Köln und als glänzende Improvisatorin aus dem Vorjahr, also aus dem Film, bekannt.
Jetzt singt und spielt sie Piano.
„How much is the Moon?“ besteht aus Popsongs, über die Jahre immer mal wieder in ihrer australischen Heimat aufgenommen, für Monheim aufgebrezelt durch das EOS Kammerorchester. Die Lieder spiegeln persönliche Eindrücke, sie sind ohne spezifischen Zeitstempel, aber auch ohne große Eigenart, schon vor Jahrzehnten hätte man sie so hören können.Heiner Goebbels tat das, was er auch 2024 tat: er improvisierte. Damals spontan in kleinen Besetzungen, jetzt mit seinem sehr ausgeschlafenen Quintett The Mayfield, das in seinem langjährigen Tonmeister Willi Bopp ein sechstes Mitglied hat.
Im Fußball würde man sagen: „Bopp weitet die Räume“, auf der Bühne der MS RheinFantasie bedeutete das: Zumischen von Hall, um Details herauszustellen, immer im richtigen Moment. Die Performance blieb durchgängig subtil und leise, ihre changierende Räumlichkeit machte Ausbrüche obsolet.
Apropos Klangräume der Triennale, die Marienkapelle, man kann sie nicht verpassen, wenn man an Bord gehen will, erwies sich erneut als eine Stätte unterschiedlicher Temperaturen der Kontemplation. Gianni Gebbia erlebte man da, den ausgefeilten Saxophonisten aus der Goebbels-Entourage, Joel Ross solo, die unvergleichliche Vokalistin Sofia Jernberg, Bridhgde Chaimbeul auf der gälischen small pipe zusammen mit Julia Úlehla, eine eher einer Folk-Expression zuneigende Sängerin, die den Raum der Kirche bis zur Empore für sich einnahm.Als bei der Performance von Darius Jones nach einer Minute ein smartphone den Klang des Raumes beherrschte, dachte man, nach dem ersten Schock, „Gut, dass wir nicht Keith Jarrett vor uns haben“.
Jones ließ sich nicht beirren, setzte das Altsaxophon wieder an, zur Fortsetzung der zunächst melodisch-thematischen Vorstufen einer Exkursion durch avancierte Techniken bis schließlich in überschiessende multiphonics, die Obertonspektren der Klänge.
Ein gewissermaßen spiritueller Charakter bliebt nicht verborgen.
Und dieser bekräftigte sich umso mehr, als man später in Erfahrung bringen durfte, worauf Jones sich eigentlich bezogen hatte.
Es war keine frei flottierende, spontane Eingebung. Es war ein Spiritual, "No more, my Lawd" von Henry Jimpson Wallace, eines Inhaftierten aus der berühmt-berüchtigten Parchman Farm in Mississippi, eine Aufnahme von 1948 aus der legendären Sammlung von Alan Lomax, worin Wallace singt und mit einer Axt auf Holz schlägt.
Darius Jones hatte dies als Referenz im Kopf, während er seine Interpretation vollzog.
Und es gibt schwerlich einen Grund, diese nicht als eine Form von Jazz zu bezeichnen.
erstellt: 06.07.25
korrigiert: 15.07.24, die Anoushka-Passage.
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten