„You can´t judge a book by the cover“.
Die Jazzpolizei rät, diese alte Blues-Weisheit von Willie Dixon, 1962, (Obacht: Metaphern-Transfer) auch auf die Programmhefte von Jazzfestivals zu übertragen.
Die dort - nicht exklusiv, aber doch häufig - zu beobachtende Sprachlosigkeit gegenüber dem, was auf den entsprechenden Bühnen dann wirklich Sache ist, signalisiert in vielen Fällen nicht unbedingt die Bedeutungsarmut von letzterem.
Man muss drumherum lesen und sich vielleicht auf die Angaben zur Besetzung beschränken; ansonsten sein eigenes Urteil bilden bzw. es aus anderen Quellen stützen (oder auch verwerfen).
Das Jazzfest Berlin 2024 - das Jubiläumsfestival, es feierte sein 60jähriges Bestehen - macht keine Ausnahme. Da, wo es sich „wissenschaftlich“ gibt (im 116-seitigen Programmheft), bewegt es sich lediglich in einem spezifischen Berlin-Bias.
Das Programm-Leporello, das auf einzelne Acts eingeht, verfügt nur über einen geringen Vorrat an Adjektiven („spannend“, „energiegeladen“, „komplex“, „zeitsprengend“), alle von geringem deskriptiven Wert. Dass beispielsweise „die deutsche Jazzlegende Joachim Kühn“ einen „eher kontemplativen Ansatz“ verfolge, ist auch als Prognose für dessen Trio-Premiere schon Satire-tauglich.
Gleichwohl, die Jazzpolizei hat ein alles-in-allem gelungenes Festival erlebt. Insider, die sich durch kontinuierlicheren Besuch ausweisen, halten es für das beste in der Regie von Nadin Deventer. Die nun, nach der siebten von ihr gestalteten Ausgabe, allen Anlaß habe, auf die mantrahaft vorgetragenen Arbeitsplatzgeräusche (wie sehr ihr eingangs die über 60jährigen Vertreter des Jazz-Establishments zugesetzt hätten, welch große Verantwortung auf ihr laste) zu verzichten.
Das Jazzfest Berlin, mehr noch sein Vorläufer die Berliner Jazztage, bedienten immer auch die Funktion als Jazzmuseum oder, anders gesagt, als akustische Retrospektive. Künstler mit lexikalischem Eintrag auf der Bühne zu erleben, ist etwas anderes, als ihre Verdienste auf YouTube oder Spotify zu verfolgen.
Insofern tat das Jubliläumsfestival gut daran, ein Unterhaltungsspektakel wie das Sun Ra Arkestra auftrumpfen zu lassen. Diese Art Swing-Jazz mit FreeJazz-Obertönen, dargeboten in ägyptischen Operettenkostümen, als Produkt der „musikalisch alles überragende(n) Band“ auszugeben, wie es das Frankfurter Großfeuilleton wagt, erscheint als reichlich verwegen.
Sun Ras Erstpräsenz in Berlin datiert von 1970. Die in diesem Sinne „älteren Rechte“ machte Joachim Kühn in einer bewegenden Rede geltend. 1966 brachte Bruder Rolf (1929-2022) den 22jährigen, aus der DDR halb Übergesiedelten/halb Geflüchteten, mit auf die Bühne der Berliner Philharmonie.
Das Konzert wurde zur Wegmarke in der Karriere eines der dann bedeutendsten europäischen Jazzmusiker. Jetzt, mit achtzig, steht er auf dem nominell gleichen Festival wieder vor einem Berliner Publikum. Der sonst so Abgebrühte kann die Huldigungen kaum fassen - und wohl auch nicht, was ihm da gerade in den vergangenen 60 Minuten gelungen war.
Da nämlich hatte er dem Festival verholfen, seine lexikalische Funktion mit der Gegenwart kurzzuschliessen. Joachim Kühn French Trio. Nirgendwo wird erwähnt, was in diesem Namen auch steckt: ein Verweis auf einen legendären Vorläufer, sein erstes „französisches“ Trio mit J.F. Jenny-Clark (1944-1998) und Daniel Humair (ein Wahlfranzose aus der Schweiz).
Mit zwei jüngeren französischen Musikern hat er nun ein Album gemacht („The Way“), mit Sylvain Darrifourcq, 45, und Thibault Cellier, ist aber noch nie mit ihnen live aufgetreten. Berlin ist in der Tat „Weltpremiere“.
Und was für eine!
Zu hören sind die typischen, perlenden Läufe der rechten Hand, die sprunghaften Interventionen der linken eines großen Stilisten des Jazzpianos. Präzise phrasiert, hoch-konzentriert, nirgends gehuddelt wie sonst (stellenweise), wenige Trillerketten, ein unglaubliches timing, dem man schon in der ersten Minute anmerkt, dass hier einer in einer anderen Liga spielt als davor die Anna Högberg Extended Attack aus Schweden.
Irritation an einer Stelle: Kühn verlässt den Flügel, geht zur Bühnenseite, schaut zu.
Ist ihm etwas zugestoßen, unbemerkt von den Zuschauern? Bei einem Achtzigjährigen stellen sich nun mal bestimmte Assoziationen ein.
Auch Darrifourcq scheint irritiert. Kühn bedeutet ihm, mit einem Solo fortzufahren. Es wird sein zweites in diesem set, und er bestreitet es anders als das erste. Das schien thematisch vorbereitet, mit double surface flams a la Tony Williams (aber mit anderem Klang). Jetzt geht er „freier“ über seinen set, immer auch mit Schwingungs-dämpfenden Gegenständen auf snare und stand tom. Gleichwohl ein kristalliner Sound (als Kühn in der Abmoderation auch dem Toningenieur Klaus Scheuermann dankt, ahnt man, warum).
Darrifourcq pendelt auf schwer zu separierende Weise zwischen broken swing und frei-metrisch, der Rapport mit Cellier ist bestechend. Dessen timing und Intonation sind so gut, als stamme auch er aus der (Kölner) Klasse von Dieter Manderscheid.
Seit dem legendären aus den 80ern/90ern hat Joachim Kühn mit mehreren Trios gearbeitet. Dies ist mit Abstand das beste.
Ein Höhepunkt des Jazzfest Berlin 2024 - und sein letztes Konzert überhaupt. Alle weiteren, auch mit Michael Wollny, sind abgesagt, "aus gesundheitlichen Gründen".
Die stärkste Verbindung zur Premiere der ganzen Festivaljahrzehnte ist das Geleitwort von Martin Luther King jr. an die ersten Berliner Jazztage, der 1964, wenige Tage zuvor, auf Einladung von Willy Brandt in der geteilten Stadt weilte.
Das Jubiläumsplakat verwendet 60 Jahre später aber nicht ein historisches Foto Kings mit Bischof Otto Dibelius und dem Regierenden Bürgermeister, sondern zieht ein Foto vom Marsch auf Washington (August 1963) in einer kaum als gelungen zu bezeichnenden grafischen Umsetzung vor.
Das Motiv mag jazzideologische Assoziationen besser bedienen, besitzt aber keinerlei Verbindung zum Bühnengeschehen im Haus der Berliner Festspiele. Dort sorgte eine ganz andere Spur von Martin Luther King bis nach Mitternacht für starke Momente des Jubiläums-festivals:
„The Drum Major Instinct“, ein zwanzigminütiger Ausschnitt aus der Rede Kings „I´ve been to Mountaintop“ am 3. April 1968, aus der Mason Temple Church of God in Christ Headquarters in Memphis/Tennessee.
Dass mit John Hollenbeck ein Schlagzeuger sich dieses rhetorischen Juwels sich annimmt, mag Zufall sein (er hat es vor Jahren bereits veröffentlicht). Es handelt freilich gar nicht von dem im Titel genannten Instrument, sondern ist, sehr verkürzt, eine Kritik des Egoismus. Berufenere Münder würden die 20 Minuten vielleicht als Plädoyer für einen moralischen Universalismus a la Kant auffassen.
Hollenbeck setzt der Rhetorik von King, die in sich schon eminent musikalisch wirkt, eine variierende Hymnenmelodik entgegen. Drei Mal. Zunächst drei Posaunen plus Schlagzeug, in völliger Dunkelheit. Dann mit Akkordeon, Gitarre, Vibraphon und ihm am Piano. Und schließlich ein letzter Durchgang mit allen sieben MusikerInnen.
Dreimal je 20 Minuten King & Hollenbeck en suite, das mochte man dem Publikum zu recht nicht zumuten. Also animierte man es, in den bis zu halbstündigen „Pausen“ auf der Großfläche von nun verbundener Haupt- und Nebenbühne einherzuwandeln, zu drei Videowänden, die staunenswerte Highlights aus sechs Jahrzehnten Festivalgeschichte darboten. Darunter absolut elegant das Bobby Hutcherson Quartet mit einem Blues, Peter Brötzmann mit Milford Graves, Miriam Makeba solo, zur Abkühlung aufgebrachter Besucher, Ornette Coleman mit Dewey Redman und und und…
Eine gute Idee mit sich beschleunigendem Ermüdungseffekt. Und also verließ die Jazzpolizei das Revier um kurz nach Mitternacht, beim dritten Durchgang King & Hollenbeck. (Sie musste immerhin noch bis „Krumme Lanke“ fahren.)
Nämliches tat sie 24 Stunden später am selben Ort, nicht aus Ermüdung, sondern aus Enttäuschung. Auf der Bühne wiederum … John Hollenbeck. Diesmal mit seinem ladies-Ensemble George, das im vergangenen Jahr mit „Letters to George“ in vamps und vintage-Klangfarben geradezu badete.
Nichts, fast nichts mehr davon auf der Seitenbühne im Haus der Berliner Festspiele. Das Schlagzeug (man hatte noch den filigranen Sylvain Darrifourcq im Kopf) klang scheppernd, die keyboards flach, die ostinato-Architektur zusammengeschmolzen, selbst die sonst so robuste Anna Webber, ts, fl, mit wenig Kontur.
Ein personaler Grund war leicht auszumachen: die auf der CD fabelhafte Aurora Nealand ward durch Sarah Rossy ersetzt. Sie ist nicht zu ersetzen, so nicht.
Und noch einmal Tradition & Gegenwart: das britische Trio Decoy mit dem Tenorsaxophonisten Joe McPhee, drei Tage vor dessen 85. Geburtstag. Letzteres und zudem, dass er gerade von einer Krankheit genesen war, ist wichtig zu berücksichtigen, um seine nur sporadischen Einsätze auf der Bühne angemessen bewerten zu können.
Dächte man bairisch, würde man diese punktuelle Präsenz (bei vollständiger Anwesenheit) als „Austraghäusl“ darstellen. Decoy & McPhee spielen seit 15 Jahren zusammen (die Jazzpolizeit übt Selbstkritik, dass ihr das entgangen ist). Es ist eine Geste der Kollegialität, vielleicht auch Freundschaft, dass man den indisponierten Mitstreiter von einem so prominenten gig nicht auschliesst. Und der genießt ganz offenkundig, was um ihn herum wirbelt.
Decoy ist nun gar nicht im Miles´schen Sinne zu verstehen: es handelt sich schlicht um die Fortentwicklung der guten, alten Tradition des Orgel-Trios. Dächte man essentialistisch, geriete man in ideologische Turbulenzen durch die Beobachtung, dass in diesem früher personell afro-amerikanisch dominierten Genre dem hier einzigen Afro-Amerikaner eine Gastrolle zukommt. Und drei bleiche Briten das Format nach Belieben umkrempeln.
Joey DeFrancesco (1971-2022) war noch stark der Tradition verhaftet. Aber Alexander Hawkins, das 10 Jahre jüngere, konzeptionelle Multitalent aus Oxford, spielt - so genau man auch zuhört - in 60 Minuten kein einziges Jimmy Smith-lick. (Anderntags im Gespräch bestätigt er lachend die Beobachtung: er liebe Jimmy Smith einfach zu sehr, als dass er sich etwas von ihm zu übernehmen traue).
Es sprudeln die Ideen nur so aus ihm heraus. Mit dem Besteck der melodischen Improvisationsanalysen aus der Weimar Jazz Database käme ihm in der Kategorie „lines“ neben Warne Marsh und Lee Konitz - bei völlig anderer Stilistik - ein Spitzenplatz zu. Ja, er bedient eine Hammond B 3, sie faucht auch, aber sie flitzt doch andere Wege. Und nur weil er ein Brite ist, bildet sich die Jazzpolizei ein, Spurenelemente von Georgie Fame und Brian Auger vernommen zu haben.
Hawkins bedient keine Basspedale, als von der Kirchenmusik Kommender könnte er das. Dafür hat er den wirklich bärenstarken John Edwards. Und am Schlagzeug Steve Noble, wie weiland Buddy Rich ein Drummer der kurzen Wege.
Die drei hätten, ohne große Wiederholungen, noch ewig weiterspielen können. Wann immer sie einen Artikulationswunsch ihres Gastes vernahmen, dimmten sie ihre Energie herunter, um wenige Saxophon-Kiekser oder Worte aus einer Kladde geschmeidig einzubetten.
Es mag sein, dass die ähnliche Konstitution zunächst dazu verführt, Verwandtschaften zwischen Arthur Blythe (1940-2017) und Darius Jones auszumachen. Wie Blythe pflegt auch Jones einen „singenden“ Altsaxophon-Ton (ohne das gelegentlich wabernde vibrato und die Saccharin-Süße), allerdings, vor allem in den hohen Lagen, wesentlich rauher. Wie Blythe („Bush Baby“) mag auch er 3er-Metren. Und was einst Abdul Wadud (1947-2022) für Blythe war, ist heute Peggy Lee für Jones; sie bedient das Cello, neben den beiden Violinisten Jesse und Josh Zubot.
Was von der Besetzung her wie ein Thirdstream-Anlauf anmutet, klingt real überhaupt nicht danach. Jones´ polyphoner Ehrgeiz ist nicht sehr ausgeprägt, er vertritt einen rhyhthmisch untypisch organisierten Post FreeJazz.
Darius Jones gehört zu den signiture artists der Monheim Triennale II Monheim Triennale II (2024, 2025). In einer Widmung an eine der Kuratorinnen dort brillierte er in einem Modus, der zwei schwedischen Ensembles an den Vortagen kaum gelungen war: das kollektive crescendo.
Gute Aussichten, sollte er mit diesem Sextett diese Suite „fLuXkit Vancouver (it’s suite but sacred)" im kommenden Jahr auch an Rhein-Kilometer 714 erklingen lassen.
Als Schwerpunkt, nicht unbedingt auch als Höhepunkte, konnte man die Performances dreier Jazzpianistinnen erkennen.
Die vom Programmheft insinuierte Verbindung von Sylvie Courvoisier, p, zum Third Stream erschloss sich nicht, die Verbindung zum Modern Jazz Quartet erwies sich zumindest formal als korrekt. Wobei tatsächlich die Vibraphonistin Patricia Brennan mehr noch als die Bandleaderin solistisch auffiel.
Marilyn Crispell, 77, brillierte geradezu alterslos (insoweit nicht unähnlich Joachim Kühn) in einer stupenden Solo-Performance, fast ohne jede Wiederholung in linearem Fortschreiten (formal der absolute Gegenpol zu Brad Mehldau).
Anderntags reduziert sie ihren Radius auf die kluge Harmoniegeberin für das Trio von Joe Lovano, das aus einer einstündigen Kontemplation gar nicht mehr aufwachen wollte.
Schließlich Kris Davis. Große Vorschlusslorbeeren für ihr Quartett Diatom Ribbons, in neuer Besetzung. Die Rhythmusgruppe mit Nick Dunston, b, bg (solide), Terri Lynne Carrington (exzellent) sowie DJ Val Jeanty, der neben Davis & Carrington dritten Dozentin von der Berklee School of Music in diesem Ensemble.
2023 bei der Cologne Jazzweek eine Bereicherung an der Seite von Savanah Harris, dr, - in Berlin 2024, man kann es nicht anders sagen, ein showstopper. Jeanty reduziert ihren akustischen Zuschub auf gescratchte Vokalfetzen, zum uptempo swing schweigt sie, und was sie auf einem pad an Conga-Figuren mit den Händen auslöst, ist neben einer Trommerlin wie Terri Lyne Carrington, freundlich gesagt, arg unterkomplex.
Diatom Ribbons: Kris Davis, Nick Dunston, Terri Lyne Carrington, Val Jeanty
Fotos: MR (2), Fabian Schellhorn (Decoy, Darius Jones, Davis)
erstellt: 06.11.24
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