What you have missed: Marlies Debacker "Ballet Mécanique", Stadtgarten, Köln

Den modernen Stummfilmmusikern steckt eine Angst im Nacken. Es wäre für sie die Höchststrafe, in der Rolle ihrer historischen Vorgänger ertappt zu werden: beim akustischen Illustrieren optischer Verläufe.
Das moderne Gegenmittel lautet: komplementär arbeiten, besser noch kontrapunktisch. Manche haben dabei so sehr an der Tüte der Kontrastmittel gesogen, dass ihnen wurscht ist, was sich neben ihnen auf der Lein-, pardon auf der Videowand zeigt. Hauptsache Selbstexpression.
Die Pianistin Marcella Lucatelli z.B. setzt mit dem ersten Bild des dänischen Films „Afgrunden“ (1910) zu einem Vokalisieren an, dessen Höhepunkt seit vielen Jahren mit Maggie Nichols oder Phil Minton überschritten ist. Der Jazzpolizei ist nicht mehr erinnerlich, ob sie überhaupt eine Taste angeschlagen hat.
(In einer Traumseqenz zieht an ihr die norwegische Sängerin Sidsel Endresen vorbei; was der wohl in der ihr eigenen Stottersprache zu den Bildern eingefallen wäre?)
Auch als Lucatelli kurzfristig am Bühnenrand verschwindet, kehrt keine Ruhe ein. Das Mikrofonkabel ist lang, der Strom von „pitched mouth noise“ (Frank Zappa) fließt unbeirrt aus dem Halbdunkel weiter.
Es ist der zweite Abend mit Stummfilmvertonungen des Festivals Acht Brücken im Stadtgarten.
Das Konzept zu „Afgrunden“ stammt von Jonas Engel (damit wir uns nicht missverstehen, der ist als Saxophonist von einer Qualität, dass er bei Sebastian Gramss mitwirken kann).
Wenn er vom Altsax zum Synthie wechselt, sind Abschnitte der Gestaltung zu erahnen. Aber was den Schlagzeuger Ole Mofjell motiviert, bleibt ein Rätsel, das optisch & akustisch nicht zueinander passt. Auf jeden Fall, er ist ein Freund des mucho expressivo.
Es konnte nur besser werden. Und es wurde besser.
Debacker ballet mecanique   1

Marlies Debacker ist keine Freundin der Narration. Nahliegend, dass sie mit „Ballet Mécanique“ (1925) einen Film wählt, der keinen plot hat.
Fernand Léger collagiert Dinge des Alltags, die ihn in ihrer Geometrie interessieren. Ein sehr formales Unternehmen; ihn interessieren die Formen an sich, erst im zweiten Teil des 16-Minuten-Streifens verlegt er sich mehr auf Bewegungsabläufe, auch hier sehr formalistisch, z.B. Maschinengetriebe.
Ein faszinierendes Stück, wie geschaffen für die staccato-Ästhetik von Debacker.
Man erkennt cue-Punkte: ein Lippenpaar korrespondiert mit einem Pianoakkord, Getriebestangen ziehen, verspätet, einen akustischen Widerhall heran in Synthie-tremoli von Florian Zwissler.
Alle anderen in diesem Quintett glänzen mit erweiterten Instrumentaltechniken: die Komponistin am präparierten Flügel und Clavinet, ihr Partner Salim(a) Javaid am Altsaxophon, Robert Landfermann (Baß) sowie Maria Portugal (Schlagzeug).
Kraftmeierei wie zuvor verbietet eine Partitur, die im Verborgenen hält, wieviel improvisatorische Freigaben sie macht. Das ist auch unerheblich dank der überragenden Eigenästhetik der Performance.
Sie beschränkt sich auf gedämpfte Lautstärke;  ein wie dahingetupft wirkender Pointillismus; ein mittelbares, gebrochen „mechanisches“ Feld zu der offenkundigen Mechanik von Leger.
Was passt wozu?
Marlies Debacker scheint die erkenntnistheoretische Grundlage bewusst, dass diese Frage sowieso in jedem Kopf der Anwesenden anders gelöst wird. Sie machte ein Angebot, das diesen Prozeß in sehr anregenden sechzehn Minuten ermöglicht.

erstellt: 16.05.25
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