Der 11.11.2024 in Köln war wie der 11.11. eines jeden Jahres Eröffnung der „Session“, der „vierten Jahreszeit“.
Auf der Zülpicher Straße und auf den angrenzenden Uni-Wiesen saufen sich zehntausende die Hucke voll - in einer Nebenstraße in Köln-Ehrenfeld, im Loft, hält Christian Lillinger Hof.
An vier Tagen in Köln (zwei im Loft, vier im Studio des DLF) erprobt er mit zehn AkteurInnen seine „Open Form for Society“.
Die Massen draußen wissen nichts von den avancierten Kadern drinnen, vielleicht erleben sie das kollektive Sich-die-Kante-Geben auch als offene Form.
Drinnen erfährt man neben vielerlei Dank an die Organisatoren (immerhin müssen sie dafür sorgen, dass der komplizierte Instrumentenpark wegen eines anderen Konzertes in der Mitten zweimal auf- und wieder abgebaut wird) wenig Gesellschaftstheorie. Vielleicht stellt sich die - wie schon 2018 und 2019 - später in den liner notes dar, wenn die vielen Aufnahmen durch den Prozeß der Postproduction hindurch sind und ihre finale Veröffentlichungs-
form gefunden haben.
Im Loft haben die zehn Beteiligten am zweiten Tag (und nur den konnte die Jazzpolizei besuchen) in neun Formationen sich aufgesplittet und also neun „Stücke“ geboten. Im DLF, so erfährt man, waren die KeyboarderInnen des Teams am Folgetag noch mit dem Einspielen spezieller loops befasst, als die drei Hauptmatadore (Dell/Lillinger/Westergaard) bereits auf dem Weg zu einem Konzert in Bayern sich befanden.
Christian Lillinger, Jonas Westergaard, Georg Vogel (v.l.n.r.)
Auf die Frage, was die Jazzpolizei denn nun ihrerseits am 11.11. verpasst habe, nennen die Betreiber des Loft, Vater und Sohn Müller, die erfahrensten Horchposten für Jazz, der durch Köln weht, unisono den 10-Minuten-Spot der beiden Pianisten Elias Stemeseder und Georg Vogel aus Österreich. Die beiden kennen sich seit ihren Tagen am Gymnasium zu Salzburg; Vogel, 36, war zwei Jahrgangsstufen vorauf.
Die Jazzpolizei mochte dazu ergebendst nicken - kann sie doch jene 10 Minuten mit einer Dreiviertel Stunde der beiden beim Inntöne Tasten Festival 2022 komplettieren.
Die meisten aus Lillingers Ten sind, zumal dem Publikum an diesem Ort, mit ihren Spezifika hinreichend vertraut. Aber was Vogel so treibt, haut die Novizen doch um. Zuvorderst drängt sich die Unabhängigkeit von rechter und linker Spielhand auf, die polyphone Spielzüge in seltener Weitläufigkeit erlaubt.
(Die Jazzpolizei bringt an dieser Stelle gerne einen Moment aus einem privaten blindfold-test-Kreis in Erinnerung, wo ein verunsicherter Teilnehmer beim Trio GeoGeMa fragt: und wer ist der Bassist? It´s the pianist, stupid. Es ist der Vogel, Georg, der mit der linken, auf einem bass-keyboard, zusammen mit dem Drummer den Groove antreibt und mit der rechten soliert.)
Mit diesem Vermögen, aber ganz anderem Klang und anderen Formen, gestaltet er an diesem Abend einen 5-Minuten-Solovortrag auf dem Flügel. Später eine freie Jazz-Ballade mit Jonas Westergaard, b, und Christian Lillinger, dr, noch eine Teilmenge, der man gerne einen ganzen Abend lang zuhören möchte.
Plaist Festival. Der Titel leitet sich aus dem Label von Lillinger ab. Dies ist seine Reihe, es werden, wo nicht improvisiert, seine Kompositionen gespielt.
Die Grenze zur Neuen Musik (wenn es sie denn gibt), wird gelegentlich überschritten, beispielsweise in den Klavierparts von Anna D´Erico vom Klangforum Wien. Es sind aber immer auch Improvisatoren dabei, die ihre Einsätze, wie auch immer, vom Blatt gesteuert einstreuen.
An der Mimik von Kaja Draksler lassen sich dabei Freude und Anspannung über die Aufgaben ablesen. Im Auftakt des Abends, dem Trio Punkt.Vrt.Plastik, agiert sie als die coolste, wohingegen man Petter Eldh, b, selten so Blick verhaftet in die Partitur erlebt hat.
Georg Vogel nimmt auch mit seinem anderen Spezifikum teil, seinem eigen-gebauten mikrotonalen keyboard, das die Oktave nicht in 12, sondern in 31 Töne unterteilt. Dessen Klang ist (um das Mindeste zu sagen) gewöhnungsbedürftig, schäumt hier aber angenehm konstrastierend auf einer Klangwoge obenauf.
Überraschend auch die Performances seines früheren Schulkameraden Stemeseder; er spielt wenig Piano, hauptsächlich keyboard und dies sehr funktional und gruppendienlich, weil er sich - im Gegensatz zur Cologne Jazzweek - auf wenige Klangfarben konzentriert.
Die Rolle des Pianisten Cory Smythe erschien on stage wenig konturiert; möglicherweise erhalten seine Passagen präparierten Pianos durch die Nachbearbeitung eine andere Bedeutung.
Irjenswie war die Live-Rezeption des Abends geprägt durch den für ein Jazzkonzert seltenen, nie ausgesprochenen Subtext des „Freunde, so wie ihr es hört, werdet ihr es später nicht mehr wiedererkennen!“
Dem Bassisten Trio aus Robert Landfermann, Petter Eldh und Jonas Westergaard dürfte das sehr zuträglich sein, auch wenn daraus vielleicht nur die betörende Passage übrigbleibt, in der Landfermann einen sehr hohen Flageolettton streicht.
erstellt: 14.11.24
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