53. Moers Festival 2024 (Tag 4)

Das Moers Festival, so wie es seit 2017 von Tim Isfort verantwortet wird, macht es seinen Kritikern leicht, zu leicht.
Jahr für Jahr stossen sie zuverlässig auf Elemente einer ortsüblichen Dialektik aus Überheblichkeit und Selbstverzwergung.
Sie produziert einen fatalen Effekt: das traditionsreiche Festival wird im seriösen (Jazz)Diskurs kaum noch ernstgenommen. Etliche assoziieren den lange bewährten Zweiklang „Pfingsten/Moers“ inzwischen mit einer Narretei.
arto lindsay   moers 2024   1Das Festival, über dessen Hauptbühne die Botschaft schwebt („Moers is not a jazz-festival!“), firmiert auf der Titelseite des Programmheftes als „Jazzfestival für Musik, Besinnung, Politik, Superheldinnen und Zusammensein!“
Das Festival, das 2022 unter Beteiligung der Stadtspitze mit Verweisen auf den Ukraine-Überfall hantierte, hält es 2024 laut Programmheft für „fahrlässig, wenn wir uns nicht zu dem hochgradig komplexen Nahost-Konflikt, den aktuellen Entwicklungen in Gaza und immer offener ausgelebtem Antisemitismus verhalten.“
Auf der abschließenden Pressekonferenz, die mit „ungelenk“ freundlichst umschrieben ist, aber auch auf der Bühne der Enni-Halle, spricht der Festivalchef seine Klientel an, als hätte die sich nicht kompetentest an geeigneter Stelle, bei Phoenix, FAZ, SZ, Zeit und Spiegel dazu kundig gemacht.
Wer, der Claudia Major, Carlo Masala oder Guido Steinberg gehört hat, wartet auf Einlassungen dazu von Tim Isfort?
Müsste der nicht zuvorderst bei seinem Leisten bleiben, bei der Musik?
Aber nein; auf die Frage bei der Pressekonferenz, warum das Heft sich wie ein Comic lese, ohne Erläuterungen zum Programm, antwortet der Festivalchef…über Musik könne man nicht schreiben.
Muss man das nicht tragisch nennen? Das Festival, das in Jahrzehnten der Jazz- und anderen Formen der Musik-Avantgarde eine Avenue ausgerollt hat, verweigert sich in der Hauptsache, dem ästhetischen Diskurs. Es hat seine eigenen Errungenschaften nicht mehr im Griff und verliert sich in einem pseudo-politischen Schattenboxen.
Verständlich immerhin der Bezug auf den Großen Sohn der Stadt, auf den Kabarettisten Hanns-Dieter Hüsch (1925-2005). Der Text zu seinem „Lied vom Runden Tisch“ (1977) ist abgedruckt, in den Pausen sind Kinderstimmen damit zu hören. Der Text allerdings trägt einen deutlichen Zeitstempel; er handelt von der Toleranz gegenüber „Radikaldemokraten“, „Christen“, „Kommunisten“ - aus der Zeit des Radikalenerlasses (1972). Auf das Heute schwer übertragbar.
Das Paradoxe: wer den ganzen Firlefanz überhört, überliest oder sonstwie nicht nur Kenntnis nimmt, kann in Moers nach wie vor Entdeckungen machen: im vergangenen Jahr etwa die stupenden drone-Schichtungen des Ensemble Icosikaihenagone.
In diesem Jahr (berichtet wird nur über den letzten Festivaltag, den „Montach“) 8 Sonneurs pour Philip Glass, wiederum aus Frankreich, eine staunenswerte „bretonische“ Interpretation von vier Stücken des große Minimalisten aus dem Jahr 1969: drei Dudelsäcke, eine Binioù (bretonische Sackpfeife) und vier Bombarden (aus der Familie der Kegeloboen).
8 sonneurs philip glass   1

Für das erste Stück „Two Pages“ ( gefolgt von „Music in Fifths, Music in contrary Motion“ und „Music in Similar Motion“) positionieren sich vier Spieler auf der Zentralbühne, zwei am Rand; weitere zwei grundieren von einem eigenen Podest, hoch über der Zuschauertribüne, die Bässe mit zwei Bombarden - ein unfassbarer Raumklang!
Die beiden Leadstimmen wandern, damit sie nicht blättern müssen, langsam mit Binioù und Dudelsack die Partitur entlang; sie breitet sich jeweils über drei Notenständer aus. Später stehen alle acht eng beisammen, ein Stück spielen sie ohne Partitur, von Zeit zu Zeit tritt einer einen Schritt nach vorn und wieder zurück - ein Zeichen, dessen Bedeutung zunächst unerkannt bleibt.
Umso größer die Überraschung, ja Überwältigung, als diese hoch-tourige Motivketten - ohnen Zeichen - plötzlich stoppen. Tosender Beifall.
In einem YouTube-Video erklärt Erwan Kerawec anhand von „Music in Fifths“, warum das Konzept von Philip Glass zu den modalen Instrumenten seines Ensembles so gut passt, und warum er die Idee der ständigen Wiederholungen für etwas im Kern Traditionelles hält. Kerawec & Co sind bei Studio-Aufnahmen zu sehen, weit entfernt von der Magie, die sie in der Enni-Halle entfalten.
Eine solche Performance - man kann sich ihrem Positionseffekt nicht entziehen - teilt das Programm in ein Davor und ein Danach.
Arto Lindsay Moers 2024 nah   1 1Unmittelbar danach, Arto Lindsay - ja, er sieht jünger aus als 71, die er inzwischen ist -, ein (Schmalspur)Held der New Yorker downtown Szene der 80er und Moers-Veteran (das Festival-Archiv weist ihn lediglich mit einem Auftritt 2010 aus; in Erinnerung ist er weitaus häufiger dort gewesen).
Lindsay beackert nach wie vor extrem fragmentierte Songs in portugiesicher Sprache. Sie sind stark rhythmisiert, tonal weitgehend unbestimmt. Er bricht ab, schaut in ein Heft, beginnt neu, springt in ein Intermezzo seiner berühmten Gitarren-Kratzer-Sounds.
Der Sound wird mehrkanalig verteilt: mitunter schickt Lindsay Rhythmusfetzen in den Raum, nach hinten, an die Seiten. Kurze Loops, wenig ausgearbeitet, die Performance wirkt fahrig.
Nämliches kann auch - großes Erstaunen - Stemeseder & Lillinger widerfahren (Davor).
Die Jazzpolizei kommt einen Moment zu spät (das kann passieren bei den weiten Wegen in Moers) und platzt in ein furioses Piano-Solo von Elias Stemeseder in der Halle. Laut Programmheft sollte er eigentlich Cembalo spielen.
So what. Wie verabredet ist jedenfalls auch Elvin Brandhi präsent, Klangkünstlerin aus Wales. Mit minimalem technischen Aufwand geht sie mit einem elektro-akustischen Sperrfeuer dazwischen. Und eh man sich vollends eingerichtet hat, die Kontraste zu genießen … ist auch schon wieder alles vorbei.
Brandhis Equipment wird weggeräumt, Stemeseder begibt sich in eine keyboard-Wagenburg, neben dem drumset von Christian Lillinger, aka Antumbra.
Stemeseder Lillinger Moers   1                                                                     Des Fotografen Hand, sie wackelt - bei soviel Antumbra.
Die beiden sind denkbar schlecht ausgeleuchtet, die Lichtkegel erfassen lediglich Teile des Instrumentariums. Man ist versucht, nach dem Einsatz des Bühnenmeisters zu rufen (ein so visueller Drummer wie Christian Lillinger im Halbschatten? Ein Sakrileg!) - und muss doch an „Antumbra“ denken, das jüngste, gleichnamige Album aus ihrer Duo-Reihe.
Bedeutet der Begriff demnach nicht „Gegenschatten“? Werden wir hier möglicherweise mit einer praktischen Umsetzung des Begriffes konfrontiert?
Also, verlassen wir uns auf das Akustische. Und - hier kommt eine ganze Strecke lang wenig; so wenig wie auf dem Album „Antumbra“. Mitunter lässt sich nur schwer der Eindruck unterdrücken: die beiden haben das Momentum verloren.
Nichts strukturell Tragendes zeichnet sich ab, es erklingt Halbgegartes in Fortsetzung.
Nun lehrt die Erfahrung, das Halbgegarte ist nicht selten in die Freie Improvisation eingepreist, es führt die Kosten des Sich-Ganz-Auf-Den-Moment-Verlassens vor Ohren.
Die Erfahrung lehrt aber auch, dass die Mühen der Ebene sich irgendwann auszahlen.
So auch hier, bei Antumbra. Man merkt, wie die beiden schließlich einen - kombinierten - Einfall auskosten. Auf Seiten von Stemeseder ein 3-Ton-Motiv, auf Seiten von Lillinger ein 4/4-Beat. Die beiden haben nun wahrlich einen Grund, um ihr diffiziles Kunstwerk darüber zu legen.
Zu recht: großer Beifall.

erstellt: 21.05.24
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