Das Moers Festival hat ein Problem mit drinnen & draußen.
Das ist nicht neu, auch in früheren Jahrzehnten haben die Scharniere zwischen Stätten der Verpflegung und solchen der Kunst den Besuchern einiges abverlangt.
Aber hey, es müssen doch auch die, die der Hauptsache wegen kommen, essen und trinken! Fritten & Avangarde, oder auch Falafel & Avantgarde, wo ist das Problem, zumal bei strahlendem Sonnenschein wie am Pfingstsamstag 2023?
Ja, „AmViehTheater“, dem steil ansteigenden „Rodelberg“, spielt das keine Rolle.
Die gut verstärkten Jazzsounds von der Bühne maskieren leicht das Geklampfe reihum auf den Wiesen, den Geräuschteppich der zahlreichen Flanierer und Ausflügler, denen die Sounds jenseits des Zaunes als Kulisse reichen.
Das ständige Kommen & Gehen fällt am Hügel nicht ins Gewicht, eher die Suche nach einem Platz im Schatten.
In der Festivalhalle aber, der „enni.eventhalle“, einer großen Blackbox, die bisweilen den Verhaltenskodex eines Kammermusiksaales erforderte, lassen es die Veranstalter, die Respekt für vieles in der Welt aufbringen, an diesem für den Kern ihres Anliegens vermissen.
Nun aber ist die Halle - auch wenn´s mitunter so klingt - kein Kammermusiksaal, ein jeder kann kommen und gehen, wann er/sie will. Alles andere empfände man als Zumutung.
Zu Reiner Michalkes Zeiten trug man dem Rechnung, indem sich die Ein- und Ausströmenden an dem der Bühne entgegengesetzten Ende der Halle mischten - jetzt kommen sie gleich neben den MusikerInnen raus oder rein. Und dann stehen sie im Dunkeln, wie früher auch. Und müssen sich erst mal daran gewöhnen.
Wer also einen Platz gefunden hat auf der Tribüne, weit entfernt vom Podium, wird Zeuge einer Parade von Menschen in outdoor-Kleidung direkt davor, alle mit Rucksack, die sich zu den Sitzen balancieren. Die Treppenbeleuchtung hebt T-Shirts und Körpermaße hervor; Details, die man in diesem Moment nun wirklich entbehren kann.
Aber, ehrlich gesagt, beim Ensemble Icosikaihenagone verflog die Verstimmung rasch. Die Jazzpolizei saß neben einem Schweizer Großkritiker, der in seinem Leben schon vieles gehört & gesehen hat.
Wir waren sprachlos. Es war so leise, dass wir uns gegenseitig nur die erhobenen Daumen zu zeigen wagten. Was für ein Einstand, nach dem, nun ja mit Synthi-Linien aufgehübschten, „melodischen“ FreeJazz des Ganelin Trios aus Litauen, draußen.
21 MusikerInnen überwiegend aus Frankreich; allenfalls den östereichischen Trompeter Franz Hautzinger unter ihnen hatten wir früher schon gehört. Vom Bandleader und Komponisten, dem Bassisten Benjamin Duboc, noch nie. (Das Programmheft und die Moers-app, ja die gibt es nun, geben keinerlei Aufschluß).
Der Begriff „Komponist“ ist entscheidend, denn die Subtiltiät, die Tiefenstaffelung, mit der hier sozusagen drones, orchestrale Liegeklänge, chromatisch verschoben werden und sich in einem sehr langgestreckten crescendo addieren, sie können so nie & nimmer er-improvisiert werden.
Es gibt Soli, ja, aber streng eingebettet. Niemand nimmt den Blick vom Blatt. Und als sie alle auf dem peak, im fortissimo, punktum abbrechen und man keinen visuellen cue oder sonst eine Anweisung wahrgenommen hat, fragt man sich: wie machen die das?
Extrem gut eingespielt sind sie ja, aber trotzdem: wie machen die das?
Die Jazzpolizei erwischt hernach am Würstchenstand einen aus dem Ensemble, der Englisch spricht. Und, er ist derjenige: welcher!
Der Gitarrist Jean-Sébastien Mariage enthüllt, er ist es, der mit einem Schwenk des Gitarrenhalses die ganze Truppe zum Schweigen bringt. Das tut er einmal in der höchst beeindruckenden Performance. Ein anderes Mal soll der Posaunist Alexis Persigan die Dynamik des Ensembles per Handbewegung gesteuert haben; der Jazzpolizei ist´s entgangen, wahrscheinlich war sie abgelenkt von einem Bauch oder einem T-Shirt.
Am selben Ort, ein paar Stunden später, mit derselben Rezeptionsproblematik, kommt das Festival zu seinem Programmschwerpunkt anlässlich „Ligeti 100“. Das ist angesichts der zunehmenden Attraktion György Ligetis in der Jazzwelt ein dankbares Thema, denken wir allein an PianistInnen wie Benoit Delbecq, Kaja Draksler, Elliot Galvin oder auch, am Rande, Florian Ross.
Moers 2023 hat den Ligeti-Sohn, den Schlagzeuger Lucas Ligeti, zu Gast, am ersten und letzten Festivaltag, am Sonntag das SWR Vokalensemble, das „Lux Aeterna“ vermutlich wackelfrei aufführen wird.
An diesem zweiten Festivaltag aber geht es just um den beschriebenen Einfluss Ligetis auf KomponistInnen aus dem erweiterten Feld von Jazz und Improvisierter Musik.
Das Festival hat nebst WDR 3 unter Anspielung auf die Kinderphantasie Ligetis „Kylwiria“ eine Auftragskomposition „an sechs Komponist:innen vergeben, deren Schaffen von Ligetis Musik geprägt wurde".
Fünf der sechs sind auch unter den Ausführenden, darunter der Gitarrist André O. Möller (Moers Festival 2020), die Saxophonistin Theresia Philipp sowie die Violinistin Carolin Pook (Moers Improviser in Residence 2016).
Das Dirigat liegt in den Händen der auf diesem Sektor sehr erfahrenen Susanne Blumenthal, die freilich nicht (wie in den Fällen Pablo Held oder Ingrid Laubrock) ihr EOS Ensemble leitet, sondern das Kollektiv ColLAB Cologne, das aus Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln besteht.
Frau Blumenthal dirigiert nicht durchgängig alle Sektionen; einmal hockt sie am Bühnenrand und überlässt das Ensemble sich selbst, dann kehrt sie zurück - und man weiß nicht, wessen Part sie sich nun zuwendet.
Nichts wird angekündigt. Einen halbwegs sicheren Anhalt bietet ein furioses Solo von Carolin Pook - das dürfte ihre Komposition gewesen sein.
Die Kritik geht aber über die Mängel in der Präsentations-
ästhetik hinaus. Denn wenn schon Einflüsse behauptet werden, würde man diese gerne auf AutorInnen zurückführen, um irgendwas zu erkennen. Die Musik von Theresia Philipp z.B. trennt Welten von der des André O. Möller.
Und doch klangen sie hier erstaunlich verwandt, wie alle sechs Teile. Es schien, als habe der große Meister alle gleichermaßen verstrahlt, als hätten alle sechs in Erfurchtsstarre gezögert, das Eigene herauszukehren.
An einem Jazzort wie Moers (der dies aller Wortakrobatik zum Trotz nach wie vor ist) geht die Performance selbstverständlich mit Beifall durch. Die Jazzpolizei fühlt sich an das Lucerne Festival jüngst erinnert, an Igor Levit und Fred Hersch & Johanna Summer. Und sie fragt sich, wie wohl - sagen wir in Witten oder Donaueschingen - „Music from Kylwiria“ rezipiert würde.
Wie gesagt, die Wortakrobatik ist nicht abhanden gekommen. Aber, dies muss man einräumen, sie zeigt immerhin auch eine satirische Note. Das Festivalgelände wird umgebaut, überall Baufahrzeuge und Umleitungen (d.h. lange Wege für Besucher). Da klagt das Programmheft nicht, es jubelt der Stadt Moers eine durchtriebene Parodie unter: „Willkommen! Zur Internationalen Bauzaunmesse in Moers!“
Von politischen Obszönitäten wie anno 22 ist es nach 16 Monaten Ukraine-Überfall zwar geheilt, aber von politischem Gratismut will es einfach nicht lassen: Moers 2023 firmiert als „Jazzfestival für Musik/Synapsenbildung/Politik/Medienkunst und: Zusammensein!“
Letzteres, die Jazzpolizei bezeugt aus eigener Praxis, klappt hervoragend, auch wenn man seinem Gegenüber ständig klagt, was man gerade im geografisch verstreuten Gelände programmlich verpasst hat (z.B. die beiden Vibraphonisten David Friedman und Jim Hart mit zwei Schlagzeugern).
Die Jazzpolizei jedenfalls stieß auf eine Berliner Kuratorin, jetzt mit neuem Lebensgefährten - es war heiter.
Seit Übernahme der Programmregie durch Tim Isfort (2017) versucht sich Moers immer auch in Debatte. Wenig verwunderlich, das interessiert vielleicht auch deshalb nur die wenigsten, weil der Ort, kaum erkennbar auf einem Schulhof, nicht eben zur Konzentration einlädt (wie überaupt bei diesem Festival die Ablenkung leichtfällt).
Eingeladen unter einem wiederum Nonsense-Titel wurde keine der Fragen addressiert („Wie tief kann Musik in unsere Seele dringen“?, zum Beispiel), wie sie das Programmheft vorgab.
Die Jazzpolizei war geradezu froh, dass in dieser Hinsicht das Thema verfehlt wurde.
Die drei Teilnehmer äußerten stattdessen subjektive, zunächst befremdlich heterogene, aber dann eben deshalb denkwürde Zugänge zu Musik.
Gavin Bryars, 80, legendärer Improvisator und ebenso Komponist (u.a. „The Sinking of the Titanic“, oder das irrisierende „Jesus' Blood Never Failed Me Yet“) beschrieb, untermalt von britischem Humor, (s)einen Parcours in Sachen Kunstmusik, von der Improvisation zur Komposition und wieder zurück.
Die britische Komponistin/Saxophonistin Caroline Kraabel beklagte die allenthalben bekannt ungerechte Verteilungspraxis von Spotify & Co.
Die Sängerin/Gitarristin Nélida Karr aus Äquatorial Guinea erzählte schlicht ihre Autobiographie. Deren Quintessenz mögen viele teilen, sie taucht in vielen Interviews auf:
„Music is my saving guide, my angel“.
Aber die Voraussetzung dafür, ob die auch viele erleben mögen?
Im Falle Nélida Karr lautet sie, dass sie keinen emotionalen Bezug zu ihren Eltern hatte.
Emotionalen Ausdruck fand sie nur in der Musik.
Spätabends ein letzter Versuch, noch einen Ligeti-Moment zu erwischen, in der Evgl. Stadtkirche. Die Jazzpolizei hat beste Erinnerungen an diesen Ort, beispielsweise dank eines stupenden Solo-Konzertes von Frank Gratkowski vor etlichen Jahren (diemal spielt er in der „Haarschneiderei“).
Für 22 Uhr ist Aki Rissanen angesetzt; der finnische Pianist hat auf seinem Album „Another North“ (2017) Ligetis Klavier-Etüde Nr. 5 Arc-en-ciel „re-imaginiert“.
Der letzte Bus in die Stadt ist seit 20 Minuten weg, die Jazzpolizei hetzt zu Fuß durch die Stadt, kommt zu spät, kriegt noch eine halbe Stunde mit - und hat doch offenbar nichts verpasst.
Rissanen sitzt an einem Instrument namens „Omniwerk“, das bei aufgeklapptem Deckel nur von weitem wie ein Flügel aussieht. Es hat zwei Manuale, offenkundig auch „Saiten“, und drinnen liegen noch drei Minikeyboards, zu seinen Füßen ein Baß-Manual. Der Klang geht in Richtung „Cembalo“.
Rissanen loopt kleine patterns ausführlich, schaltet noch eine elektronische drum-Spur dazu. Und was er mit viel Hin- und Herschalten hervorbringt, fügt sich in die Funktion eines modernen Alleinunterhalters.
Mit „Another North“, mit Ligeti gar, hat das nichts zu tun. Es passte perfekt auf die Frankfurter Musikmesse - in einer Kirche wirkt es vulgär.
Fotos: MR (2)
Kristina Zalesskaya, Moers Festival (Icosikaihenagone)
Kurt Rade, Moers Festival (Blumenthal, Rissanen)
erstellt: 28.05.23
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