Es war warm draußen. Im dritten Stock wurde Cage gespielt.
Für die vielen da draußen, am Weißbierglas, an der Weinschorle, am Kölschglas sicher eine Form distinguierter Selbstkasteiung.
Für die neun Zuhörer im Loft - ein Elysium.
Kein Gedanke an Hunger oder Durst.
Einfach nur Zeitempfinden. Kontemplation.
Und das bei atonaler Musik.
Die vielen, die von dem Konzert gar nicht wussten (auch die Jazzpolizei wäre nicht gekommen, hätten nicht Marlies Debacker und Judith Wegmann (CH) an den Flügeln gesessen), man möchte ihnen das Entgangene mit der Assoziation aus einem alten Werbeclip süffisant unter die Ohren reiben: „Mutti, Mutti, er hat gar nicht gebohrt!“
John Cage im Loft. Der berühmte Improvisationsgegner in einem Jazzclub.
Ja, das Loft wird bekanntlich seit Jahren in puncto Jazz geehrt. Aber es erklingt hier seit jeher auch Neue Musik und vor allem - viel in den unendlich verfließenden Grauzonen zwischen den Genres.
Ganz nebenbei, was für ein Luxus: zwei Pianistinnen an Steinway und Yamaha-Flügeln.
Marlies Debacker (l), Judith Wegmann
John Cage „TWO2“, eines der sogenannten Zahlenstücke aus dem Spätwerk, kein präpariertes Klavier (dem Steinway darf man so gar nicht zur Saite rücken), sondern einfach nur Klang, Dynamik piano, Tempo adagio.
Die Interpretinnen könnten auch andere Werte wählen, sie könnten das Werk auch, wie es andere taten, in 45 statt in gut 60 Minuten spielen. Auch in der Wahl der Einsätze haben sie gewisse Freiheitsgrade - von den Noten dürfen sie keine verpassen.
Sie sind in Rengas organisiert, nach dem fünfteiligen Modell aus einer alten japanische Gedichtform. Die Reihenfolge lautet 5/7/5/7/7, sprich 31 Events, also Klänge, in einer Renga, gleich Notenzeile. Jede Interpretin spielt je 36 Rengas.
Die jeweiligen Einsätze wählt sie selbst, in der Partitur sieht sie auch die Stimme der anderen; wer vorne liegt, muss warten, bis die andere durch ist, darf nicht in die nächste Renga wechseln.
Wie nicht selten in der Neuen Musik liest sich das kompliziert - klingt aber keineswegs so. Man könnte sich der Illusion hingeben, dies alles sei improvisiert. Aber wäre das so, müssten Impulse gesetzt, Reaktionen ausgelöst werden, Überraschungen wären das Ziel.
Der Unterschied auch; in der Improvisierten Musik kokettieren die Musiker gerne damit, auch sie wüssten nicht - wie das Publikum -, wie es weitergeht.
Ganz anders hier. Debacker & Wegmann wissen genau, was kommt, die Zuhörer aber nicht. Nach kurzer Zeit stellt sich die Erfahrung eines gewissen Ebenmaßes ein. Gleichfluss wäre nicht ganz korrekt, denn es erklingt ein „undurchschaubares“ Geflecht aus einzelnen Klängen, ausklingend, Klanggruppen, Pausen. Die Erwartung formt sich: nichts wird wiederholt — sicher wird es nicht laut, sicher kommt kein dynamischer Kontrast, gar ein stilistischer Sprung.
Judith Wegmann sagt in ihrer Anmoderation, die Zuhörer könnten einhergehen, es habe sich auch schon mal jemand unter ihren Flügel gelegt - sie störe es nicht.
Natürlich, niemand rührt sich; die Jazzpolizei sackt für ein paar Minuten weg.
Sagt es hernach den Künstlerinnen - kein Rüffel. Kein Sakrileg. Alle sind erfüllt, ja entzückt von einer geschenkten Stunde.
Eine Zugabe hätte geradezu ordinär gewirkt. Wir sind ja nicht in einem Jazzclub.
erstellt: 15.05.24
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