Die „Ballettkritiker“, die sich in der Rheinischen Post online überschlagen, zieht das Blatt nicht aus den Stuben des Feuilleton heran, sondern aus den avancierten Kadern der destination Düsseldorf.
Es sei das Entzücken der drei „Opern- und Ballettscouts“ - eine Eventmanagerin, eine Business-Developperin, ein Kommunikationsdesigner - nicht in Frage gestellt, zumal unter dem wiederum sehr ortspezifischen Motto „Neu. Abstrakt. Urban“.
Aber, wer wie die Jazzpolizei „von der Musik kommt“, die Uraufführung dieses ersten Orchesterwerkes von Heiner Goebbels miterlebt hat und die Studioeinspielung von 1996 schätzt (und - nicht das Handwerk einer professionellen Tanztheaterkritik beansprucht), darf doch mindestens irritiert sein über die Düsseldorfer Variante von „Surrogate Cities“.
Die Aufführung in der Choreographie von Demis Volpi und den Düsseldorfer Symphonikern unter Leitung von Vitali Alekseenok ist nicht die erste Ergänzung des Stoffes mit Mitteln des Tanztheaters (Amanda Miller hat dies vor 20 Jahren schon betrieben), aber die erste ohne Personal aus Goebbels´ Künstler-Entourage, bis auf den Samplerspieler Hubert Machnik.
Die musikalischen Solisten reisen aus Köln an: Tamara Lukasheva (Sopran) und Matthias Muche (Posaune).
Dessen Part sieht die Originalfassung gar nicht vor: ein elektro-akustisch raffiniert verfremdetes Posaunensolo, mit dem die Düsseldorfer Inszenierung beginnt.
Die Bühne ist derweil bevölkert mit sage und schreibe 40 TänzerInnen, später tritt noch eine Akrobatin hinzu.
Muches improvisierte Knatter-Sounds korrespondieren mit einem Tänzer, der sie nur partiell visualisiert, beispielsweise Tremoli durch Körperzucken.
Choreograph und Komponist setzen ihre Medien ja nicht zur Illustration ein; das wäre vielleicht „urban“, aber keinesfalls „neu“ & „abstrakt“.
Der Tänzer also bewegt sich überwiegend „frei“ zur Musik, er kontrastiert - und steuert damit die Rezeption des Zuschauers. Er liefert eine zusätzliche Interpretation, die letzterer aus diesem spezifischen Kontext, nämlich der Frei Improvisierten Musik, gar nicht gewohnt ist. Er/Sie produziert dort eigene Bilder.
Sehr früh also, zunächst noch sehr vage, schält sich peu a peu die - sehr subjektive - Frage heraus, ob ein Stück absoluter Musik wie „Surrogate Cities“ (das ja ausdrücklich keine Programmmusik sein will) überhaupt eine tanzdramaturgische Ergänzung benötigt.
Die Komposition selbst ist kleinteilig; die drei „Horatier Songs“, im Prinzip aufgepumpte Soul-Balladen, bilden darin eine Einheit, die „Suite für Sampler und Orchester“ aber zerfällt in 10 Teile.
Nun wollen aber 41 DarstellerInnen beschäftigt sein. Es ist richtig was los auf der Bühne vor dem Orchester (es sitzt im Hintergrund), ein ständiges Kommen & Gehen. Fraglos ergeben sich schöne Bilder. Aber wer die Musik kennt, ihre Details, den drohen die Szenen zu erschlagen.
Kurioserweise ergibt sich das stärkste Bild des Abends ganz zum Schluss, wenn Musik & Tanz der Konzeption am deutlichsten widersprechen und in „Surrogate“ aufs Eindringlichste konvergieren. Der Tanzer Jack Bruce (er heisst wirklich so und ist auch Brite) jagt über die Bühne, getrieben von temporeicher Musik. Wie ein Sänger lässt er das Mikrofon nicht los und stammelt Zeilen aus dem (fast) titelgebenden Text von Hugo Hamilton, „Surrogate City“.
Erschöpft taumelt er zu Boden, inmitten von zig Papierfliegern, die vom Bühnenhimmel segeln.
„Surrogate Cities“ ist 30 Jahre alt. Man kann es nicht hören ohne den Vergleich mit einem späteren Orchesterstück, mit „House of Call“ (2021).
Da ist ein souveränerer Umgang mit diesem Klangkörper bereits gefunden, es bedarf nicht mehr der ganz großen Gesten wie bei „Surrogate Cities“, sozusagen Stravinsky einen Sampler unterzuschieben. Das Stück mutet heute fragmentiert an, viel action auf der Vorderbühne betont dies.
Es entfernt sich in dieser Fassung noch mehr von seinem Sujet („die Stadt“), das die einzelnen Teile ohnehin eher vage zusammenhält.
Das Programmheft tut ein Übriges, es fliegt hoch hinaus. Wer die aktuell sich auftürmenden Probleme der Stadt auch nur am Rande zur Kenntnis genommen hat, liest es mit Erstaunen.
Fotos: Bettina Stöss
erstellt: 29.04.24
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