What you have missed: Linda May Han Oh Quartet, Stadtgarten, Köln

Es ist das Eine, Linda May Han Oh von Tonträgern zu hören, also akusmatisch, etwa bei Pat Metheny oder Vijay Iyer oder etlichen anderen.
Es ist etwas Anderes, sie auf großer Bühne zu erleben, buchstäblich in der zweiten Reihe hinter Pat Metheny (Tonhalle Düsseldorf) oder nun, im Stadtgarten Köln, aus nächster Nähe.
Die Verwunderung ist zunächst nicht abzuweisen, wenn sie ihr Instrument aufrichtet: wie eine so zierliche Person in der Lage sein kann, darauf einen solchen Sound zu erzeugen. Nicht zuletzt: mit einer solchen Intonationssicherheit.
Der pure Augenschein hilft nicht weiter, er erkennt nicht den Wandel in der handwerklichen Methodik dieses Instrumentes (in der Klassik inzwischen weiter fortgeschritten als im Jazz).
„Eine gute Intonation kommt nicht daher, dass du eine starre Klaue entwickelst“.
Sagt Dieter Manderscheid in „Speak like a Child“(dort unter „Bass-ist-in“). Und der muss es wissen. Er hatte von 2002 bis 2022 eine Professur für Jazzbass an der Musikhochschule Köln.
Meister Manderscheid sagt desweiteren:
„…es geht darum, dass du körperlich hinter der Einteilung der Zeit stehst - und nicht nur gedanklich. Die deutsche Sprache hat eine schöne Möglichkeit zu differenzieren: nicht nur verstehen, was du machst, sondern du musst es begreifen!“
Das klingt, als habe er dabei an Linda May Han Oh gedacht.
Linda May Han Oh Quartet   1

Fabian Almazan, Sara Serpa, Linda May Han Oh, Kateryna Kravchenko, Mark Whitfield jr

Denn im Stadtgarten verbinden sich beide Entitäten zu einem definitiven Eindruck: ein muskulöser Bass-Sound a la Dave Holland (dessen Soli sie laut Wikipedia in ihrer Studienzeit transkribiert hat), dargeboten in einer geradezu tänzelnden Art (die dem hühnenhaften Briten völlig abgeht).
Etwas Tänzelndes bestimmt auch das musikalische Konzept - wobei es begrifflich nur schwer zu lokalisieren ist. Fast nichts ist ternär im Sinne von swing, der Eindruck von (binärer) Groovebezogenheit überwiegt.
Zum Schluß, vor der Zugabe, schält sich die Form eines, sagen wir, abstrahierten Calypso heraus. In den weiten Teilen davor z.B. eine rubato-Ballade, die sich in einen Groove wandelt. Und darauf läuft es oft hinaus; auf Grooves. Und die haben es in sich.
Meist kurztaktig, in mehreren Fällen basieren sie auf vamps von der Länge eines Taktes.
Mark Whitfield jr   1Das ist der Grundstein der gesamten Architektur, der Austausch zwischen der Bassistin und ihrem Schlagzeuger. Das ist diesmal nicht, wie auf dem letzten Album „The Glass House“, Obed Calvaire, das ist Mark Whitfield jr.
Viel hat man noch nicht gehört von dem Sohn des Jazzgitarristen Mark Whitfield, obwohl er schon um die 40 ist. Aber, was man hört & sieht, gehört wieder in die ewige Überraschungsbox mit der Aufschrift „US-Trommler aus der zweiten Reihe“, wie jüngst Jonathan Pinson.
Mark Whitfield jr ist eine Entdeckung. Er hat bei Terri Lyne Carrington und Ralph Peterson (1962-2021) studiert. Und mit letzterem teilt er die ungeheuere Vitalität, mit der er ständig alle, wirklich alle Teile seines drumset in Bewegung hält. Whitfields Part ähnelt strukturell (aber nicht stilistisch) jenen drum concertos, die man früher Tony Williams zugeordnet hat. Auch in der Begleitung spielt er fast immer solo - verliert aber nie die Form! Und wenn er dann doch solistisch hervortritt, rahmen Linda Oh und Fabian Almazan, p, den Vorgang mit Akzenten.
Sara Serpa, voc, aus Lissabon, mag kaum als „Sängerin“ bezeichnen; lyrics singt sie nur zweimal an diesem Abend. Scat, was zutreffend wäre, führte aber auch in die Irre, weil sie kaum etwas mit der scat-Tradition des Jazz verbindet.
Es ist ein wortloser Gesang, mit sperrigen Intervallsprüngen. Und als dann als Überraschungsgast Kateryna Kravchenko hinzutritt (aus der Ukraine, sie studiert in Dresden. Oh hat sie aus einem Workshop des Gutenberg Ensembles in Mainz mitgebracht) schält sich mehr und mehr der Eindruck einer abstrakten Popmusik heraus - Pop, wie ihn nur JazzmusikerInnen ausführen können.
Mitunter mangelt es dem Vokaltableau an Eingängigkeit, vor allem aber an der Dringlichkeit, die die drei Instrumentalisten sehr unter Kontrolle halten.
Ein dynamisches Vokalisieren (sagen wir a la Sidsel Endresen) über dem kochenden Erdgeschoss von Linda Oh, Fabian Almazan und Mark Whitfield jr - wir kämen vom Tänzeln ins wilde Tanzen.

erstellt: 17.04.24
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