Moersland aufgepasst!
Es gibt eine Stadt, gar nicht so weit entfernt, die sich bewußt die Chance entgehen lässt, Ukraine-Symbolik für ihre Jazzfestival-Angelegenheit zu instrumentalisieren.
Und das bei einem Künstler, der stärkste Symbolik frei Haus liefert. Sein letztes Album „Yellow + Blue“ liegt zum Verkauf aus.
Aber weder geht er über die Nennung des Titels hinaus, als er insbesondere die LP-Fassung empfiehlt, noch zieht der Festivalchef die Verbindung (Peter Materna sagt später, ihm sei der Bezug nicht entgangen, er habe sich aber dagegen entschieden).
Der Künstler ist Rolf Kühn. Er steht in seinem 93. Lebensjahr.
Der Direktor des Hauses (in voller Bezeichnung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland), begrüßt ihn mit dem Hinweis, vieles, was dort ausgestellt sei, habe jener persönlich erlebt. Und ginge das, würden viele wohl ergänzen, so müsste dereinst auch Rolf Kühn dort ausgestellt werden.
Es wäre der gerechte Ausgleich dafür, dass ihm, dem „weltläufigsten Vertreter des deutschen Jazz“, bis auf den Preis einer Berliner Lokalzeitung oder den Echo Jazz (2011), eine richtige, eine institutionelle Ehrung bislang nicht zugekommen ist.
Denn wer sonst könnte reklamieren, sowohl mit Benny Goodman und Ornette Coleman als auch mit Michael Brecker und Christian Lillinger gespielt zu haben? Wer sonst könnte mit einer so grandiosen Anekdote aufwarten, nach dem Verlust des Hausschlüssels (von Nr. 26 W 87th Street, NYC) bei der Nachbarin geklingelt zu haben, (einer Nachbarin namens Billie Holiday) als Rolf Kühn?
Das Publikum, an die 300 Zuhörer, viele -Innen, empfängt ihn frenetisch, als sei die Arbeit schon getan. Die meisten haben zwei Jahre darauf gewartet; dies ist, innerhalb des Jazzfest Bonn 2022, pandemie-bedingt ein Nachholkonzert von 2020.
Das muss wohl Liebe sein, was in den nächsten gut zwei Stunden abgeht: die Liebe zum und die Liebe vom Publikum. Eine Performance mit vielen Ingredienzen eines amerikanischen Nightclubs, aber auf großer Bühne, mit europäischem, mit Kühn´schem Charme.
Nennung der Solisten über Musik, Ansagen mit Augenzwinkern und offenem Ende, selbstverständlich Standards („Angel Eyes“, „Body and Soul“), ein Blues; mit Wonne lässt er den Beifall in einen plagalen Schluß laufen und bedankt sich für den dann richtigen Einsatz.
Zu diesem Zeitpunkt nämlich sind alle im Saal dressiert auf die staccato-Salven, die häufig den Schluss von Kühn-Stücken bilden. Mit denen er mit der Band immer wieder punkt 12 landet.
Diese Band, Rolf Kühn weiß, was er an ihr hat. An der Bassistin Lisa Wulff, mit 31 Jahren drei demografische Generationen jünger als der Bandleader. Sie begleitet mit sauberem Ton, frickelt nicht herum, ist wach für spontane Ergänzungen.
Der Kolumbianer Túpac Mantilla, 43, ist im Jazz als Schlagzeuger weniger ausgewiesen denn als Perkussionist.
Was das bedeutet, wird wortwörtlich mit einigen Schlägen klar, als nach der Pause Kühn und er allein auf die Bühne zurückkehren und scheinbar verloren auf die anderen warten.
Was tun in der Zwischenzeit?
Die Szene wirkt ein wenig ungelenk, weil jederman doch weiß: die beiden machen jetzt was.
Und dann gibt Mantilla body percussion vor, Kühn steigt ein, der Fortgang hieße im Englischen „they brought the house down“.
Am wichtigsten (schon an den Blickkontakten lässt sich das ablesen) ist der Pianist Frank Chastenier, 55. 26 Jahre sass er in der WDR Big Band, er lebt jetzt als freischaffender Künstler in Berlin. In ihm hat Rolf Kühn - das ist nicht übertrieben zu sagen - seinen Eckermann. Sein alter ego.
Chasteniers Rolle ist, wie bei amerikanischen Jazzstars, die eines musical director. Wie ein Luchs achtet er auf Kühns Klarinette, gleicht beiläufig aus, wo Löcher zu entstehen drohen. Er kann donnern und wispern, er entfaltet eine Enzyklopädie des modernen Jazzpianos unter seinen Händen (ohne jeden Anflug an Keith Jarrett und Cecil Taylor), aber auch ohne jede Reminiszenz an Kühns „natürlichen“ Partner, seinen jüngeren Bruder Joachim.
Frank Chastenier gibt, auch gestisch, einen Begleiter in Form & Vollendung, der keinen Zweifel daran lässt, dass er auch allein viel zu sagen hat. Seine Einleitung zu der klug gewählten Zugabe („Both Sides now“ von Joni Mitchell) spricht Bände.
Der Bandleader selbst sitzt so, dass er halb steht. Der Ton der Klarinette wird über ein Kontaktmikrofon am Hemd abgegriffen, er ist klar, deutlich, wenig melancholisch, häufig im staccato und mit raschen Intervallsprüngen. Kühn übt immer noch zwei Stunden täglich, er hat seine Performance den Mühen des Instrumentes gut angepasst. Viele Solo-Kadenzen gehören dazu, wo er sich sammeln, wo er seinen eigenen Rhythmus finden kann. Typisch dafür, dass der in einem solchen Kontext allfällige uptempo swing, wo die Band abgeht wie Harry, einen solchen Chorus für den Bandleader ausspart.
Zum Abschluss dann, unter standing ovations, das klug, nein genial gewählte „Both Sides now“.
Ein begeisternder, ein denkwürdiger Jazzabend.
PS: für den Fall der Fälle…
Wie wäre es, wenn Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dereinst die Klarinette ausstellte, die Rolf Kühn am 25. Mai 2022 im Hause gespielt hat? Als Repräsentant nicht nur für den Künstler, sondern für den deutschen Jazz (ob ihm je der Albert Mangelsdorff Preis verliehen wird, ist nicht sicher genug).
Fotos: Lutz Voigtländer
erstellt: 26.05.22
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