What you have missed: DLW Festival, Orangerie, Köln

Die Orangerie für den Jazz entdecken. Das bedeutet was in einer Stadt, die seit Jahrzehnten auch über Stadtgarten und Loft hinaus (zwei wortwörtlich ausgezeichnete Spielstätten) einschlägige locations bietet.
Die Orangerie für den Jazz in Köln entdecken, noch dazu aus der Ferne, ohne die lokalen bzw. regionalen Logos (die Unterstützung bezeugen) auf dem Plakat; von Berlin aus, mit Unterstützung nur durch den Bund - da staunten auch Szene-Kundige.
Aber, Kundige welcher Szene?
Als Theaterort ist die Orangerie bekannt, ihrer morbiden Romantik wegen ist sie aber auch unter den „besten Hochzeitslocations in NRW“ gelistet.
DLW waren vor einem Jahr schon einmal dort, jetzt mit einem zweitägigen Festival. Aber, war es auch ein Jazzfestival?
Die Präsentationsästhetik spricht dagegen, sie ist zum Beispiel aus Witten importiert, aus der Neuen Musik. Also erneut kein Ansagemikrofon, mithin keine Begrüßung, keine Vorstellung der Mitwirkenden oder der Musik. Ein Programmzettel liegt aus, die meisten der 60, 70 Besucher haben ihn mit ihren handys abfotografiert.
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"Freiheit und Struktur in der Neuen Musik":
Gregor Dotzauer, Tamara Stefanovich, Sebastian Solte, Leonie Reineke,
Christopher Dell
(vlnr)

 


Nicht zufällig auch drehte sich die erste von zwei Diskussionsrunden um den Komplex „Freiheit und Struktur in der Neuen Musik“. Und sie lief unter breitem Trichtern (vom sehr Allgemeinen ins Konkrete kommend) auf die auch an diesem Ort irjenswie hintergründig wirkenden Qualitäten des Jazz zu.
Die Gattung zeigt sich in der Praxis von DLW bekanntlich nicht im herkömmlichen Ornat, sondern, wie D (wie Christopher Dell) sie ausgibt, als „Neue Neue Musik“.
Hinter diesem Etikett, das der rhetorisch beschlagene Vibraphonist Dell unter vielerlei Bezügen zu Boulez, Bruno Maderna, Earle Browne e tutti quanti konturierte, verbirgt sich eine Haltung, die sehr viel von Struktur weiß.
Zu ihrer Verklanglichung aber bedarf sie nicht des Notenblattes. Zumindest nicht am ersten Festivaltag. Da genügt (und Dell wird nicht müde zu betonen) eine mit vielfältigen Voraussetzungen gespeiste Improvisation vollauf.
Das Resultat ist dann nicht die vertraute Neue Musik, sondern, wie die Kritikerin Leonie Reineke es hört, „eine andere Art von Polyphonie“.
DLW SDLW Orangerie   1Für die (klassische) Pianistin Tamara Stefanovich ist das, was „die drei Jungs“ machen und ihr bieten, das Reich der „Freiheit“. Das ist aus ihrer Praxis allzu verständlich.
Sie kam gerade von Proben mit den Bochumer Symphonikern, mithin aus der Welt der „Klassik“, wo laut Stefanovich „Sicherheit“ obenan stehe, nie „Freiheit“.
Nun ist diese, allermeist verbunden mit ihrem gedanklichen Zwilling „Grenzüberschreitung“, geradezu unwiderstehlich positiv grundiert.
Tatsächlich aber beschreibt sie zunächst einmal nichts weiter als eine Absicht zur Kunst, nicht ihr Ergebnis. Freiheit garantiert kein wertvolles ästhetisches Resultat.
Und da meint die Jazzpolizei, Frau Stefanovich im schönen Abendlicht der Orangerie eben nicht in einer kongenialen Rolle erlebt zu haben, verglichen etwa mit einem der frühen Treffen mit DLW 2020 in der Philharmonie Köln oder auch in weiten Teilen der gemeinsamen CD (2021).
Sie gab diesmal Einwürfe, meist in den oberen Registern, keine vollwertige Gegenstimme, geschweige denn eine „andere Art von Polyphonie“.
Diese Unterfunktionalität wäre vielleicht weniger deutlich aufgefallen, hätte sie sich nicht im Rezeptionsschatten einer stupenden Performance zwei Stunden zuvor ereignet: da trafen DLW auf Sofia Jernberg. Erstmalig.
Und diese Performance hätte liebend gern länger als nur gut 10 Minuten währen dürfen.
DLW Jernberg Orangerie   1

Frau Jernberg gab zunächst eine Soloperformance, mit ihrer Fassung äthiopischer Lieder, einem eigenen Stück sowie einer Komposition Neuer Musik (George Aperghis "Récitations 1-4", 1978). Die Jazzpolizei kennt sie von der Monheim Triennale 2021. Dies hier war noch einmal, wieder einmal etwas anderes.
Der Begriff „Vokalakrobatik“, den man bei verwandten Aktionen gern zur Hand hat, verbietet sich bei ihr, dafür ist Frau Jernbergs Vortrag zu kunstvoll. Sie will nicht, wie wiederum andere, Angst & Schrecken illustrieren, es erklingt ein Gesang, eine Vokal-
performance, deren Elemente begrifflich schwer zu fassen sind. Als Hilfskonstruktion bieten sich auch Assoziationen zur Vogelwelt an.
Danach also Sofia Jernberg erstmalig mit DLW.
Ihre Performance ist intrinsisch und - absolut anschlußfähig. Sie liefert, nein sie lebt geradezu die - nun noch einmal bemühte - „andere Art von Polyphonie“.
Sie braucht keine visuelle Verbindung mit Christopher Dell dazu, sie braucht überhaupt keine cues; ihr „Instrument“, das darf nicht unerwähnt bleiben, erleichtert ihr auch das Mitfliegen. Das war nicht DLWplus, das war DLWJ.
Und dann - was für ein Dreiklang“ - DLW. Allein, mit einer Adaption ihres allerjüngsten Albums „Beats II“.
Die 20 Stücke dort dauern zwischen 18 Sekunden und dreieinhalb Minuten, sie sind obendrein elektro-akustisch transformiert. Christopher Dell, „L“ wie Christian Lillinger, dr, und „W“ wie Jonas Westergaard, b, verbinden Themen & Grooves daraus auf einem 45-minütigen Parcours, en suite.
Er beginnt (wenn der auditorische cortex der Jazzpolizei nicht täuscht) mit klaren 4/4, Dell schlägt einen offbeat, Westergaard wiederholt ein Drei-Ton-Motiv (mal nachhören, wo das auf „Beats II“ sich befindet) - und dann geht´s aber so was von ab in ein poly-metrisches, polyphones Labyrinth, dass man das Zählen & das Deuten aufgibt und einfach nur noch mitvibriert.
Wenn DLW dann auch noch Drama & Dynamik steigern - unübertrefflich.
Der zweite Festivaltag (die Jazzpolizei musste ihn aus guten Gründen größtenteils verpassen) stand im Zeichen der Co-Operation mit einer Teilmenge aus dem Klangforum Wien. Man geht nicht falsch in der Bewertung, dies als das Pendant zum Ensemble Modern zu bezeichnen.
DLW Klangforum Orangerie   1Der Saxophonist Gerald Preinfalk kriegt leuchtende Augen, wenn er hört, dass man die Frankfurter Kollegen bei der Premiere von Frank Zappa´s „Yellow Shark“ 1992 hat erleben dürfen.
Preinfalk hat eine Jazz-Vergangenheit (und noch -Gegenwart; er ist auch in der JC-Datenbank mit einigen Einträgen vertreten), hat sich aber auf die Anforderungen der Neuen Musik eingepegelt. Und ist eben auch nur deshalb in der Lage, „Kintsugi“ von Georges Aperghis uraufzuführen. Beim DLW Festival in der Orangerie, Köln.
Preinfalk spielt Altsaxofon in der erneuten Aufführung von DLWs „Axiom“, uraufgeführt vor ein paar Wochen bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik (s.o.). In Köln dauert es (die Jazzpolizei kann es an Preinfalks handy-Stoppuhr ablesen) nicht 17, sondern fünf Minuten länger.
Der Grund dafür? Improvisation!
Es ist eine Form des spontanen Musizierens gänzlich anders als im Jazz. Kein Solist tut sich hervor. Sieben Augenpaare weichen nicht von der Partitur. Allerdings erlauben sie den ausführenden Organen, diesmal länger in den Abschnitten zu verweilen, wo unter bestimmten Voraussetzungen eine „frei-gewählte Zeitstruktur“ vorgesehen ist.
Aha.
Damit war das Festival um 21 Uhr beendet. Der Garten der Orangerie - vor dem Hintergrund illuminierter, alter Gewächshäuser - lud zum Verweilen ein.
Die Jazzpolizei saß zuletzt beisammen mit dem Preinfalk und dem Kölner Saxophonisten Norbert Stein. Es war heiter. Es war lehrreich.

Um Mitternacht wurde es dann zu kühl. Im Garten der Orangerie.

Fotos: Gerhard Richter (DLW + Jernberg, DLW + Klangforum Wien)
erstellt: 05.06.23
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