What you have missed: Dell/Lillinger/Westergaard, Wittener Tage Für Neue Kammermusik

Wer zur Neuen Musik will in Witten, muss leiden. Es sei denn, er gehört zu den Eingeweihten oder den Glücklichen, die vorab das Programmbuch von A bis Z durchgearbeitet haben. Auf Seite 87 wird ein Shuttlebus annonciert.
Die Jazzpolizei hat sich, nichts ahnend, auf „Witten - the hard way“ eingelassen.
Witten Wurstexpress   1Ausstieg aus an der S-Bahn Station Annen-Nord, linksherum auf die Stockumer Straße; 1,5 km bis zum Ziel, Apple „Karten“ ver-
anschlagt dafür 20 Minuten.
Worauf es nicht vorbereitet, ist das architek-
tonische Wechselspiel auf den ersten 200, 300 Metern.
Rechts, ganz unverdächtig der Lehrstuhl für Virologie und Mikrobiologie der Uni Witten/
Herdecke, gleich im Anschluss ein semi-Bauhaus-Koloss, verrammelt. Dahinter, wie sich später online zeigt, die Ruhrpumpen. 

Werk & Wohnen sind in Witten eng beieinander wie selten sonst. Und Mampfen.
Das absolute Kleinod unter mehreren Imbissen:
„Eddi´s Wurst & Durst Express“.
Die Sonne bricht durch, Jacke und Pullover müssen auf den Arm, ein Hügel kommt in Sicht, steil ansteigend.
Rechts die Stockumer verlassen und weiter aufwärts, dem Wegzeichen „Waldorf“ folgen. Dann auf eine Art asphaltierten Feldweg, noch steiler. 

Ein älteres Paar kommt entgegegen. „Sie sehen aus, als wären wir auf dem richtigen Weg zur Avantgarde!“
Die beiden sind nicht mal pikiert, sie fühlen sich korrekt angesprochen. Seit Jahren sind sie dabei, kommen aus Göttingen; nein, zu den Multiplikatoren gehören sie nicht; sie sind rein der Musik wegen hier, obwohl - früher war´s spannender.
Die Blote Vogel Schule endlich, die Aula akustisch vorzüglich, aber für Jazzkonzert-Erfahrene ein fremder Ort. Atmosphärisch der Gegenpol zum Jazzfestival im Stadttheater Münster.
Kein Fritz Schmücker weit & breit, der das Publikum umschmeichelt und die Sponsoren aufzählt. Der von den Mühen und Finessen der Programmgestaltung berichtet. Es gibt nicht mal ein Ansagemikrofon.
Alle haben ja das Programmbuch.
Und eben daraus wissen sie, wer gerade unter Beifall die Plätze einnimmt, das Quatuor Diotima. Und was es spielt. Zunächst
„Húr-Tér Iii“ des Ungarn Márton Illés, 48, und danach „Bird“ von Bastien David, 33, aus Frankreich.
Den neuen dresscode der Gattung Streichquartett nimmt die Jazzpolizei mit klammheimlicher Zustimmung zur Kenntnis: T-Shirt.
Die Objekte ihres Interesses verfolgen diese beiden Uraufführungen als Zuhörer aus den ersten Reihen, sie sind ganz in Schwarz, im herkömmlichen Stil der Neue Musik-Fraktion gekleidet: Dell/Lillinger/Westergaard.

DLW Witten 2   1

Bislang kannte man sie aus dem Jazz. Bislang war zutreffend, sie dort „an der Schnittstelle zur Neuen Musik“ zu lokalisieren. Nun sind sie jenseits. Sie haben vom WDR den Auftrag für eine Uraufführung bei den Wittener Tagen Für Neue Kammermusik, einen Brückenkopf in der Trias mit Donaueschingen und Darmstadt.
Das Programmbuch behandelt sie, als hätten sie schon immer dazugehört. Auf Seite 65 („Biografien/Ausführende“) taucht der Begriff „Avantgarde-Jazz“ noch auf, zuvor (unter „Biografien/Komponist:innen“) kein Hinweis auf „Jazz“.
Das entspricht haargenau ihrem Selbstbild. In einem „Manifest“ aus dem Februar 2023 tönen die drei klipp & klar & überstolz:
„Wir positionieren uns als Vertreter dessen, was wir ´Neue Neue Musik´ nennen.  Die heroische Moderne des Serialismus, Strukturalismus und musique concrète und deren Verfahren bildet unseren Referenzraum“.
Insofern macht die doppelte Rollenzuschreibung Komponist & Ausführender, in jedem Programmheft des Jazz eine Tautologie, in Witten Sinn. Sie haben zu dritt ein Stück komponiert, „Axiom“, das sie zugleich zur (Ur)Aufführung bringen.
Ihren vier PartnerInnen vom Klangforum Wien (darunter der gleichfalls im Jazz ausgewiesene Saxofonist Gerald Preinfalk) wird im Programmbuch eigentümlicherweise keine eigene Vita geschenkt, obwohl sie nicht nur die Freiheiten der Interpretation nutzen, die jedem vom-Blatt-Spieler zusteht (nur Neue Musik-„Experten“ wie Max Roach können darin Sklaventum erkennen).
Nein, sie haben in den Proben die „templates“ der drei auch im Hinblick auf deren Spielbarkeit angepasst. Eine solche Rolle kennen auch die Mitglieder des vergleichbaren Ensemble Modern, wenn sie mit Heiner Goebbels arbeiten.
Den WienerInnen aber kommt ein wenig mehr zu. Christopher Dell beschreibt die vier vom Klangforum als „Musiker:innen, die die Schrift so verinnerlicht haben, dass sie die dann auch überschreiben können“.

Und diesen Vorgang darf man ganz vorsichtig, aber zutreffend, stellenweise als „Improvisation“ bezeichnen.

„Zum Beispiel gab es ein Blatt nur mit Tonhöhen“, sagt Gunde Jäch, die Violinistin, „und da konnte man sich auswählen: welchen Schlüssel, welche Tonlängen, welche Töne von denen, die da stehen. Und die in eine frei-gewählte Zeitstruktur setzen“.

Das Wichtigste - und sie wählt hier einen genre-übergreifenden Begriff - sei die „time“. Sie soll aber „immer wieder aufgebrochen werden, sie ist sehr komplex rhythmisch“. Sie spricht von 8/16, 9/16, 11/16, 2/4 und weiteren Varianten.
Ist das nicht genau das, was wir von D/L/W bestens gewohnt sind?
Am Anfang klingt´s gar nicht danach. So unter-lillingert hat man Christian Lillinger noch nicht erlebt: Blick in die Partitur - Schlag. Blick in die Partitur - Schlag.
An die zwei, drei Minuten geht das so.
Dann kommen seine typischen Kombinationen ins Spiel. Vermutlich nur jazz-mäßig vorbeschallte Ohren mögen, in höchster Vorsicht und aller Unschuld, quasi einen ““Groove““ hier  und da erkennen. Wiederholungsformen sowieso, das Rhythmische, die „time“, von der Jäch spicht, ist ja Aufgabe aller sieben.
Christopher Dell spielt das Vibraphon mit dem Rücken zum Publikum, nicht aus Unhöflichkeit, sondern auch in quasi-Funktion als „Dirigent“. Das ist von der Bühnenposition ähnlich wie vor Jahren mit der Pianistin Tamara Stefanovich, aber strukturell entgegensetzt. Damals wurde fast auschließlich improvisiert. Einen Notenständer brauchte es nicht.
Heute hat Dell deren zwei; einen für seinen Part im gesamten „Axiom“, zu seiner rechten die Partitur für die Wiener. Sein Blick wendet sich dorthin, als die einen „Solo“-Teil haben, gefolgt von einem für D/L/W.
Ein beliebter Begriff für das, was sich in 18 Minuten tut, wäre - jazzseitig gedacht - „Thirdstream“. Die Jazzpolizei traut sich hernach, im Gespräch mit Dell, diesen nur halblaut auszusprechen; in Erwartung einer Negation.
Diese folgt prompt. Nein, dies sei so wenig eine Jazz- wie eine Thirdstream-Performance. Historisch kann er diesem Begriff etwas abgewinnen, aber nicht mehr für die Gegenwart.
Er macht sich die Kritik des gleichfalls anwesenden George Lewis zu eigen, wonach Thirdstream lediglich „bestimmte idiomatische Vorannahmen weiter transportiert, das Afrologische wird dem Eurologischen fast schon klischeehaft gegenüber gestellt“.
Nicht nur musikalisch, auch in ihrer sprachlichen Darstellung segeln die Bemühungen von D/L/W auf einem ganz anderen Level. Der Bezug zu ihrer eigenen Praxis in 13 Jahren ist klar erkennbar, nicht als Bruch, sondern als neue Facette.
Für Gunda Jäch jedenfalls, die ja nun so einiges aufs Pult kriegt, von Ligeti bis Lachenmann, enthält „Axiom“ eine „andere Möglichkeit zusammenzuwachsen“. Sie freut sich, das Stück wieder aufzuführen.
Und das wird bald schon der Fall sein: am 3. und 4. Juni veranstalten D/L/W ein eigenes Festival in der „Orangerie“ zu Köln.
Wieder mit den Wienern. Wieder mit Tamara Stefanovich.
Dann geben D/L/W - pardon für das unzutreffende Wort - in puncto Neue Musik „den Takt“ vor.

Foto: © WDR / Claus Langer (D/L/W)
erstellt: 23.04.23
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