Igor, Fred, Johanna - aha! & Oh je!*

Der Begriff des Ritterschlages empfiehlt sich hier nicht - obwohl das, was er bezeichnet, vollumfänglich (würden wir, wären wir Juristen, formulieren) zutrifft:
Igor Levit hat Johanna Summer zu dem erstmals von ihm kuratierten Klavierfest beim Lucerne Festival eingeladen.
Die 27jährige Pianistin schlängelt sich entlang „klassisch“ vorgezeichneter Werklinien. Viele halten das für große Kunst; vielleicht auch, weil sie ihren Anteil der Improvisation daran verbal gerne übertreibt.
Es wäre nach allen Zweifeln, ob es sich hier wirklich um eine Jazzpianistin handelt (die an der Seite von Pablo Held wenigstens für Momente ausgeräumt worden waren) die noch bedeutendere Beglaubigung.
Zumal als zweiter Kandidat für Levits „Brückenschlag zur Improvisierten Musik“ dessen „Idol“ gebucht war: Fred Hersch.
Igor, Fred, Johanna - der Begriff „auf Augenhöhe“ empfiehlt sich hier nicht. Dass sie sich an Flügeln gegenüber saßen, beschreibt die Ausgangslage weitaus präziser.
Johanna & Fred traten zunächst solo auf, dann sollten sie mit klassischen Pianisten über klassische Werke improvisieren.
Johannas Partner war der Meister/Kurator selbst. Er führte sie an ihre Kernkompetenz, an Miniaturen aus Schumanns „Waldszenen“.
Im Auditorium saß ein Rezensent von BR-Klassik (Robert Jungwirth).
Er hält Johanna Summer zwar für „enorm begabt und stilistisch sehr versiert in den Stilen der klassischen Musik“ - „ihre kurzen Improvisationen waren aber doch sehr nah am klassischen Idiom und klangen recht unstrukturiert, plätscherten eher vor sich hin, als dass sie Kontur und Eigenständigkeit entwickelt hätten.“
Summer Levit Lucerne   1Fred Hersch („ein ungemein poetischer Jazzmusiker“) beeindruckte ihn wesentlich mehr - solo. Sein Duo-Partner war der Levit-Schüler Mert Yalniz, der Beethovens „Appassionata“ vorgab. Und dann - oh Wunder - „Hersch wagte es nicht so recht, sich von Beethoven frei zu machen, also viel zu sehr an der Vorlage hängen blieb.“
Haben wir es hier, fragt die Jazzpolizei, vielleicht mit einem Trend zu tun. Sie erinnert sich jüngst an eine große Geste von Florian Weber beim Jazzfest Bonn, die in kleiner (Bach)-Münze ausbezahlt wurde.

*PS (25.05.23): heute legt die FAZ nach, mit dem Schweizer Kritiker Max Nyffeler.
 Und der fährt erst recht Schlitten mit den beiden Jazz-Repräsentanten in Luzern.
Die von Fred Hersch für Igor Levit komponierten „Songs without Words“ - „im Stile der populistischen Neoklassik“ - bewertet er als „Ausrutscher“.
 Nyffeler erkennt in Herschs Vortrag sehr wohl „einen hochgradig verfeinerten Klavierstil mit elaborierter Harmonik zwischen zwischen Klassik und Jazz“. Seine Fähigkeiten lägen aber „eindeutig auf dem Gebiet der Improvisation“.
Bei Johanna Summer hört er „reines Klassikimitat“.
„Ihre Improvisationen im Stil von Bach bis Ligeti funktionieren nach dem Prinzip veganes Rindersteak: auf der Verpackung ein bekanntes Etikett, im Inneren eine strukturlose Masse aus dem Mixer“.
Als Vegetarier muss die Jazzpolizei die Metapher hier rügen. Aber - sie weiß, was gemeint ist.
Und sie ist Levit dankbar, dass er - ungewollt zwar - einen Elchtest hat durchführen lassen: für den mehr und mehr aufkeimenden Verdacht, dass die „Klassik“-Allusionen im Jazz, wenn sie denn unsere kleine Welt verlassen und sich auf die dafür „zuständigen“ Bühnen wagen…dort nicht eben bella figura machen.
PPS (30.05.23): Heute wendet sich Igor Levit in einem Leserbrief an die FAZ, nein - er schlägt zurück.
Dass ihm die Metapher vom „veganen Rindersteak“ nicht schmeckt, kann man verstehen. In seiner Kritik daran, dass Nyffeler sich „ohne ersichtlichen Grund“ im Verlauf der Rezension „entlanghangelt“ bis zu Putins Kampf „gegen westliche Nazis“ sowie die Tatsache, dass man in der Schweiz „für eine Verwaltungsgebühr von fünfundsiebzig Franken das Geschlecht wechseln kann“ - hat Levit einen Punkt. Da hat Nyffeler überspannt.
Das Pathos aber, in dem Levit sich um „das emotionale Wohlergehen eines jungen Menschen“ (hier Johanna Summer) sorgt, auch sein fast schon naives Verständnis vom Kunstdiskurs, nehmen nicht unbedingt für ihn ein.
Hat er die Größe, Nyffelers Rat zu folgen?

„Man lade die Frau zu einem richtigen Klavierabend ein oder gebe ihr einen Kompositionsauftrag, damit sie ihre künstlerischen Qualitäten vorzeigen kann.“

Foto Priska Ketterer/Lucerne Festival
erstellt: 23.05.23
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