Jazzfest Bonn 2023

Florian Weber ist ein Filou. Einem staunenden Publikum verspricht er groß einen Grenzübertritt - der gar nicht stattfindet, aber ungemein viel gute Laune hinterlässt.
Das vielleicht noch größere Filou ist Peter Materna, Saxophonist aus Bonn. Er richtet Weber die gute Stube der Stadt her, das Opernhaus.
Seit 2010 leitet Materna das gleichnamige Jazzfest Bonn. Das ist nur 30 km entfernt von einer Jazzhochburg (Köln), wäre in seinem Zuschnitt dort kaum vorstellbar und scheint am ehesten verwandt dem Jazzfestival in Münster.
Dort, im großen Saal des Theaters, wie ebenso in Bonn an verschiedenen locations, versammelt sich ein älteres, gut situiertes Publikum; hoher Frauenanteil, dresscode in Richtung Ausgehen. Beide Festivals ziehen die bürgerliche Mitte in großem Ausmaß an. Beide sind stets ausverkauft.
In Münster wird den Sponsoren auf der Bühne namentlich gedankt (nur bei „Deutsche Bahn“ mischt sich Gelächter unter den Beifall), in Bonn dauerte das viel zu lange (bei 5 Hauptsponsoren, 16 Sponsoren, 9 Partnern, nicht gerechnet die öffentlichen Förderer und Radio/TV). Es wäre auch peinlich. In den ersten Reihen des Opernhauses hat eh der eine oder andere Vorstand eines Dax-Konzerns Platz genommen, daneben der Chef der Deutschen Welle.
Materna hat wirklich Teile von corporate Bonn im Auditorium platziert. In der Pause suchen sie Erfrischung in einem gesonderten Raum, die Mittelschicht steht am Ausschank an.
Von der Bühne her kümmert man sich rührend um sie. Der Moderator, vom Fernsehen, weiß, wie man die Leute anspricht. Er macht keinen Hehl daraus, dass er kein Fachmoderator ist, eher ein Conferencier alter Schule. Ja, man lässt sich das gern gefallen.
Er ruft den kürzlich verstorbenen Harry Belafonte in Erinnerung, baut einen Wortbalkon um die tiefe, eigene Ergriffenheit nach einem Interview mit dem Star. Und man fragt sich, wie kommt er von dort aus wieder zum Jazz oder zum Thema des Abends. Es ist die „Magie“.
Doch erst kommt noch die Oberbürgermeisterin, Katja Dörner. Ihre Grußbotschaft besteht aus einem Satz, in verschiedenen Variationen: „Es ist schön, dass so viele Jazzmusiker*innen in der Stadt sind“. Ihre Freude wirkt authentisch; nebenan, in Köln, wäre der Satz eine Tautologie; es sind ständig viele dieser Leute in der Stadt. Sie leben dort.
Schließlich - seine Name ist oft schon gefallen - Peter Materna. Er hat sich eine gelb lodernde Tasche umgehängt, gefertigt aus altem Werbematerial des Festivals. Sie wird am Ende des Festivals die Unterschrift von allen 140 MusikerInnen tragen und versteigert werden. Der Erlös fließt in die Jazz-Nachwuchsförderung des Jazzfest Bonn.
Jazzfest Bonn Florian WEber   1Dann aber endlich Grenzüberschreitung, „Beyond Category“, wie Materna unter Bezug auf Duke Ellington beansprucht: „Bach Comprovised“ - Johann Sebastian Bach also mit Improvisation modifiziert durch Florian Weber, derzeit Pianist in der NDR Big Band.
Dem Moderator war zuvor, wenn die Jazzpolizei das richtig gehört hat, ein „Bach compromised“ entrutscht. Was die Sache allemal besser träfe, denn „Grenzen“, die erkennbar zu überwinden gewesen wären, Brüche gar, waren nicht zu vernehmen.
Es sei, denn man hielte Solo Piano-Kadenzen in der ehrfürchtigen Nachfolge des Improvisationsfuches JSB schon für jenseitig.
Das Jazzmäßigste des Abends, wenn man es denn vor dem großen Bühnenbanner „Jazzfest Bonn“ großzügig so auslegen wollte, war eine Flöten-Kadenz der nun wirlich bemerkenswerten Anna-Lena Schnabel (auch im Duo mit Weber). Sie hatte diesen Part in dem umgeschriebenen Violinen-Doppelkonzert.
Neben Ausschnitten aus dem Brandenburgischen Konzert III sowie dem Concerto in D hat er zwei „Balladen“ („Agnus Dei“ aus der h-moll Messe und „Erbarme Dich“ aus der Matthäuspassion) umarrangiert.
Wie er dabei die Klassifikation für die beiden („Ballade“) ausspricht und sie feixend aus der Jazzsprache herleitet, zeigt Weber sich als Meister des fishing for compliments. Am besten vor dem Schlussstück, der „Partita II“, aus der er lediglich eine Phrase übernimmt und in Eigenregie fortspinnt. Er singt sie vor, um damit den großen Rest aus seinem Ideenstübchen anzudeuten.
Zuvor stellt er erneut seinen Partner vor, Mikhail Gurewitsch, v, Leiter des vorzüglichen Dogma Chamber Orchestra; sie beide hätten unter dem Vorzeichen als Led Zeppelin-Fans zueinander gefunden.
Noch so eine Referenz, die heute keinerlei Entsetzen, sondern Beifall hervorruft - und in der „Partita II“ wie auch im gesamten „Bach comprovised“ keinen Widerhall findet. Wohl aber flicht Gurewitsch zum Schluß in der Rolle des Teufelsgeigers ein bisserl Mancini ein.
Ein handwerklich gut gemachtes, ein unterhaltsames Projekt, ohne programmatische Revelanz; weit entfernt von mutigen Bach-Zugriffen wie denen von Heiner Goebbels und Cassiber.
Kein Thirdstream. Und man darf gespannt sein, ob dieses Programm tatsächlich auf ECM erscheinen wird.
Zwei Tage später, im Konzertsaal des Rheinischen Landesmuseums, wiederum ausverkauft, löst sich das Narrativ von „beyond borders“ in der Moderation vollends von der dargebotenen Musik.
Zu hören sind zwei Jazz-Ensembles, die das tun, was ihnen der Begriff vorgibt, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
Zunächst Vladyslav Sendecki, p, und Jürgen Spiegel, dr, aus Hamburg. Sendecki, 69, war über 20 Jahre Pianist der NDR Big Band (Florian Webers Vorvorgänger); man erkennt in ihm den Routinier, der sich nirgendwo mal richtig „verliert“.
Spiegel hat seinen drumset um eine übergroße zweite bass-drum erweitert; sie steht aufrecht zu seiner rechten. Er bedient sie, indem er z.B. über die stand tom noch „eine Etage“ tiefer rutscht; sie hat klangfarbliche Funktion.
Wenn Sendecki & Spiegel überhaupt eine Grenze überschreiten, dann die zur Dampfplauderei in ihren Ansagen.
Jazzfest BN Enemy Voigtlaender 2Mit dem nachfolgenden britisch-schwedischen Trio Enemy teilen sie formal zwei von drei Instrumenten, aber nicht die Spielklasse.
Die drei sind Stilisten.
Auch in puncto Humor spielen sie in einer anderen Liga.
Als Petter Eldh eine Saite des - offenbar geliehenen - Kontrabass´ aus der Halterung schlüpft - spielt er ein begonnenes Solo erst mal auf den restlichen drei weiter.
„Is there a bass-doctor in the audience?“ fragt er dann.
Nein. Also hilft sich Eldh selbst. Die Saite ist glückerweise nicht gerissen, nach fünf Minuten Schrauben meldet er: „I´m back“.
Die Zwischenzeit überbrückt James Maddren in einer Rolle, in der man ihn bis dato nicht kannte, als stand up comedian. Man durfte, so ganz nebenbei, nun wirklich eine Grenzüberschreitung genießen, nämlich die von deutschem zu britischem Humor.
Nicht gar so ruppig wie vor einem knappen Jahr im Stadtgarten gingen sie vor, spielten erneut Stücke aus ihren ersten beiden (2016, 2021) wie auch aus dem kommenden Album.
Die Jazzpolizei kann sich nicht satt daran hören: an den aufgebrochenen Grooves, dem Jonglieren mit Formbestandteilen des jeweiligen Stückes (formal ähnlich wie bei Wayne Shorter, aber stilistisch anders), den ständigen twists & turns, der kinderliedhaften Melodik von Petter Eldh, seinem schnarrenden, kraftvollen Bass-Werk, an der Geistesgegenwart von Kit Downs am Piano.
Zum Beispiel, wie er ganz leis´ wogend von Eldhs „Sandiland“ in „Castles made of Sand“ von Jimi Hendrix gleitet; nie vollständig ausformuliert, nur in Andeutungen. Die reichen.
Am Schluß auch hier - typisch Bonn - standing ovations; vorsichtiger als bei Sendecki & Spiegel. Aber immerhin.

Fotos
©Jazzfest Bonn/Heike Fischer (Weber)
©Jazzfest Bonn/Lutz Voigtländer (Enemy)
erstellt: 04.05.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten