What you have missed: Micah Thomas, Beethovenhaus, Bonn

War es das Honorar? Oder die Stadt?
Oder sicher doch der Konzertraum in der Stadt: der Kammermusiksaal des Beethovenhauses zu Bonn - da dürften viele Pianisten bei einer Einladung Schnappatmung bekommen.
Jedenfalls spielt das Zoh Amba Trio, mit dem er seit eineinhalb Wochen in Europa unterwegs ist und mit dem er am Vortag noch in Wien war, an diesem Abend in Köln, im Stadtgarten (und er wird dort bestens vertreten, nämlich von Philip Zoubek).
Am nächsten Tag wird er wieder zu Zoh stoßen, in Biel/CH.
Micah Thomas, 25, also spielt beim Beethoven. Er mag die letzten Streichquartette und die Große Fuge.
Er mag (und er kennt) ungeheuer viel. Er weiß nicht, dass parallel am selben Abend in Köln, in der Philharmonie, Igor Levit „Brahms, Hersch, Wagner & Liszt“ gibt. Die „Variations on a Folksong“ von Fred Hersch, die Levit vorträgt, kennt er, er war bei der Premiere in der Carnegie Hall dabei.
Micah Thomas also spielt beim Beethoven. Er schwärmt von dem Flügel, er schwärmt von dem Saal, aber er gibt nicht, nicht in einer Nuance, etwas zu erkennen, was man als Hommage deuten könnte.
Hernach, beim Interview, sagt er, seine Verbindung zum Großen Sohn der Stadt habe darin bestanden, soviel wie möglich zu improvisieren.
Das zeigt auch die Zugabe, erneut ein Rheinländer, aber nicht Beethoven, sondern die „Träumerei“ von Schumann. Sie sei ihm einfach so in die Finger gekommen - der mit Abstand konventionellste Moment des Abends, und doch Meilen entfernt von dem Schumann-Geschmuse einer Johanna Summer (das sie immerhin auch bis zu einem Festival von Igor Levit getragen hat.)
Davor 75 Minuten Solo-Piano-Musik, wie sie die Jazzpolizei in ihren langen Dienstjahren noch nicht erlebt hat.
Über weite Strecken hätten die Landvermesser der reinen Afro-Amerikanistik (ein Gerald Early beispielsweise) entsetzt die Daumen gesenkt: kein swing nirgends, nicht einmal jazz-voicings. Kein Hancock, kein Corea, kein Jarrett weit & breit.
Nach 25 Minuten ein Hauch von „Jazzballade“, nach 45 Minuten ein Anflug von stride piano. Wer aus den Interviews des Pianisten dessen Säulenheilige kennt, durfte hier hinter „Art Tatum“ ein Häkchen machen.
Ansonsten überwiegend: Repetitionen & Disruptionen. Repetitionen, die unter der Erwartung „Minimal Music“ ins Leere laufen; Disruptionen trotz viel freier Tonalität ohne jedes Cluster. Natürlich kennt Thomas seinen Cecil Taylor, aber er teilt mit ihm nur dessen „Philosophie“, nicht dessen Technik.

Micah Thomas Beethoven 1Die Wechsel erfolgen vollkommen überraschend. Thomas´ Blick ist oft nach unten gerichtet, mitunter sinkt der Kopf fast auf die Brust. Plötzlich richtet er sich auf, schaut auf die Bühnenwand, eine große Marmorfläche, in der sich Auditorium und Treppenbeleuchtung abstrakt spiegeln.
Der Vortrag wechselt in etwas - tja, wie soll man das beschreiben? - etwas „Romantisches“, gar Narratives.
Thomas´ Technik ist enorm. Sein Lehrer an der Juilliard School in Manhattan, Frank Kimbrough (1956-2020), soll bei einem ersten Vorspiel erschrocken gewesen sein. Zu seinen Einflüssen zählt er z.B. auch einen pianistischen Freigeist wie Masabumi Kikuchi (1939-2015).
Obwohl der Deutschlandfunk mitschneidet, platziert er sein smartphone mit schnellen Bewegungen unter dem Flügel; so macht er es bei jedem Konzert. Er will gleich danach analysieren, was er gespielt hat, wo er sich verbessern muss.
Im Konzert ist er „in the moment“, und man kann sich wunderbar mit ihm über den „flow“ verständigen.
Viel schwieriger, anderen, Nicht-da-Gewesenen zu erklären, was hier passiert ist. Wie Jazz, der ja häufig mit Improvisierter Musik gleichgesetzt wird, fast eineinhalb Stunden in jener aufgeht - und ein begriffliches Niemandsland bestellt.
Und warum man - obwohl es lange nicht danach klingt - dies auch der sonstigen Aktivitäten des Protagonisten wegen (z.B. bei Immanuel Wilkins) noch dem Jazz zurechnen müsste.
Ein Abend, an dem die Erweiterung des Spielfeldes Jazz mit Händen zu greifen war.

erstellt: 26.01.23
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