What you have missed: Immanuel Wilkins Quartet, King Georg, Köln

Früher, ganz früher, als ein Kölner Reisebüro die betuchteren unter den Jazzfans per Flug über Tempelhof (inkl. Hotel und Tickets) zu den Berliner Jazztagen transportierte, da hatten die dort künstlerisch und administrativ Verantwortlichen - Joachim Ernst Berendt und Ralf Schulte-Bahrenberg - vorgebeugt, dass die Fans z.B. in der Domstadt niemanden vorher auf einer Bühne erleben, für den sie doch die Reise nach Berlin gebucht hatten.
Der Konkurrenzausschluß wurde rigide gehandhabt, Veranstalter in der alten BRD wussten ein Lied davon zu singen.
Heute, kein Problem, das Immanuel Wilkins Quartet eine gute Woche vor dem „A-Trane“ in Berlin im „King Georg“ in Köln zu erleben.
Vermutlich wird der Bandleader dann auch dort ein Essential der Jazzclub-Rituale negieren, nämlich sich nach der Stimmung im Raume, nach dem „vibe“, ob denn auch alle gut drauf seien, zu erkundigen. Und sich bei den Ansagen auf die Namen der Mitmusiker sowie den Hinweis auf die am Ausgang käuflichen CDs beschränken.
Der 24jährige Altsaxophonist aus Philadelphia braucht keinen Gute-Laune-Vorschuß, dafür ist seine Performance zu sehr vom Charakter großer Kunst beseelt. So würde er das wohl nicht nennen. Viele winden sich in dieser Frage mit den von seinen Narrationen nahegelegten Begriff des spiritual jazz heraus.
Das ist nicht ganz falsch, erfasst aber große Teile dessen gar nicht, was das andere Großtalent in dieser Band, der auch erst 25jährige Micah Thomas, am Piano veranstaltet.
Am Anfang meint man bei ihm - wie auf dem Album „The 7th Hand“ -
 McCoy Tyner zu hören, aber das verflüchtigt sich. Und später im set, in einer imposanten Solo-Kadenz, muss man suchen - und kommt zu keinem Ergebnis -, wo denn die beiden unabhängigen Hände was aus den Bäumen der Jazztradition pflücken.
McCoy Tyner ist nicht mehr dabei, schon gar nicht Keith Jarrett, auch kein Hancock, kein Bill Evans, kein Cecil Taylor. 
In seinem parforce-Ritt spart Thomas cluster aus.
Immanuel Wilkins Quartet 1Das Konzert - die Jazzpolizei hat den separaten 2. set besucht - bildet im Prinzip den Verlauf des neuen Albums ab. Mehr noch fällt nun auf, wie sparsam die Themen ausfallen. Meist sind es Riff-Themen, die ausgeschmückt werden.
Das Quartett beginnt mit den 4 Tönen von „Don´t break“ (auf dem Album begleitet von Perkussion), gefolgt von dem 5-tönigen „Selah“ sowie den 6 plus 5 von „Shadow“.
Dann „Witness“, (auf dem Album mit Flötistin Elena Pinderhughes), dessen hymnischer Charakter am deutlichsten ist, und damit das Stichwort für diese spezifische Abweichung vom nicht unzutreffenden Großbegriff Post Bop gibt.
Wilkins hat die ganzen boppischen Techniken drauf, aber seine Motive beziehen sich immer wieder, häufig im Austausch mit dem Piano, auf diese hymnischen Kürzel.
Wie auf dem Album rasen die vier noch mal los, das könnte „Lighthouse“ gewesen sein; der Bassist hier (Rick Rosato; er hat gerade ein Blues Solo-Album veröffentlicht) und der Schlagzeuger (wie auf dem Album Kweku Sumbry) sind gut dabei.
Und dann machen sie, wieder wie auf dem Album, aber doch ganz anders, nämlich weitaus weniger Coltrane´nesk - ein FreeJazz-Fass auf! Zum ersten Mal multiphonics an diesem Abend, der shouter bricht durch in Immanuel Wilkins. Was für ein Klangball!
Und was für ein klug konzipiertes Konzert!
Nach diesem langen (Schluss)Stück kommen nur noch Wilkins und Thomas zur Zugabe zurück - und tauschen romantische Etüden aus. Das können sie also auch. Das wäre vorher ein stilistischer Bruch gewesen.
Wie gut, dass sie das in die Zugabe abgeschoben haben, das wird man in der Erinnerung an eine aufregende Performance gut ausblenden können.

erstellt: 28.10.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten