What you have missed: Anna Webber Simple Trio, Jazzschmiede, Düsseldorf

John Hollenbeck lebt und unterrichtet an der McGill University in Montreal.
Er hat Selbiges lange genug in Berlin gemacht, um die begriffliche Paradoxie zu erkennen, die sich auftut zwischen dem, was er tut - und worauf er es tut.
Hollenbeck spielt auf dem Hausschlagzeug der Jazzschmiede Düsseldorf, die bassdrum markiert Ort & Genre in aller Deutlichkeit.
Aber nichts, fast nichts was er in den kommenden 70 Minuten tut, gehorcht dieser Vorgabe: kein swing, kein Groove.
Improvisation? Nur wenige Augenblicke schaut er nicht in den wechselnden Stapel meterlanger Partituren.
Sie sind übersäht mit den Punkten und Strichen einer Repetitionsmusik, die so gut wie nichts an den Jazz bindet, viel aber an die Minimal Music (dort am ehesten noch an Michael Gordon) und, logo, an György Ligeti. In einer location obigen Namens würde man einen solchen Konstruktivismus am allerwenigsten vermuten.
Andererseits, an welcher Stätte der Neuen Musik würde die Komponistin das Eröffnungsstück anzählen (wie im Jazz)?
Es ist Anna Webber, geboren 1984 in Vancouver, heute in New York lebend und Teil einer Bewegung, die den Jazz zunehmend in Richtung Neue Musik bugsiert. Und dort fast verschwinden lässt.
Ja, auf diesem Feld ist Anthony Braxton seit längerem schon unterwegs. Aber, fordern seine Notenberge soviel Kraft und Dringlichkeit wie die von Frau Webber?
2011/12 hat sie in Berlin, an der Universität der Künste, ihren Master gemacht…bei John Hollenbeck.
„Today“, lacht er nach dem Konzert, „she is my teacher!“
Anna Webber Simple Trio 1Die Landeshauptstadt NRW hat ihre avancierten Kader in dieses Konzert geschickt; mehr als zwei Dutzend sind es nicht, kein einziger Hipster, kaum Frauen, meist ältere weiße Männer.
Ja, wer denn sonst, so lehrt die Erfahrung, wer denn sonst bringt Verständnis auf für solch abgedrehtes Tun als ältere weiße Männer?
Obwohl niemals ein Beat aufklingt, bewegen sie die Köpfe als ob…
Ihr Nachvollzug der Musik ist ein körperlicher, wie ihn jüngst der Musikphilosoph Matthias Vogel beschreibt:
„Weil Nachvollzüge auf einer grundlegenden Ebene eine leibliche Dimension haben, und es unser eigener (…) Körper ist, mit dem wir diese Bewegungen tatsächlich oder imaginativ vollziehen, wohnt grundlegenden Nachvollzugsweisen eine Verbindung zu unserem subjektiven körperlichen Erleben inne“.
Dass vollkommen „verkopfte“ Musik dermaßen in die Glieder fahren kann, erlebt man an diesem Abend in Idealform.
Ihre Hauptmittel sind Repetition & Dynamik. Häufig wiederholen alle ein Pattern; Anna Webber, ts, fl, John Hollenbeck, dr, und Matt Mitchell, p; häufig werden individuelle Muster versetzt und ineineinder verwoben, eine ans Hypnotische grenzende Wirkung nicht ausgeschlossen.
Die abrupten Schlüsse - wie in guter Frei Improvisierter Musik - überraschen immer wieder, sie stehen so und nicht anders auf dem Blatt.
In der Jazzschmiede Düsseldorf schauen Jazzgrößen vom Foto herab auf das zeitgenössische Treiben. Miles wäre vielleicht entzückt, Chet Baker ergriffe sicherlich die Flucht. Welche Emotionen werden hier ausgedrückt?
Ist das noch Jazz?
Für eine positive Beantwortung dieser Frage (sie ist so alt wie die Gattung selbst) ließen sich reichlich Partikel anführen, z.B. dass Tenorsaxophon und Schlagzeug in der so nahe scheinenden Neuen Musik so sicher nicht sich artikulieren würden.
Ein wunderbarer Abend. Der sich durch eine Vielzahl ästhetischer Überlegungen selbst promoviert, erfrischend fern von den verbalen Ablenkungsmanövern, die manche für den Kern des Jazzdiskurses dieser Tage halten.

erstellt: 13.10.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten