Die ersten 20 Minuten haben wir verpasst. Nicht aus Faulheit, Gedankenverlorenheit, erotischer Ablenkung oder sonstwie lässlicher Sünde, sondern weil die KVB sich entschieden hat, eine Fahrt der Linie 13 ausfallen zu lassen.
(Für Auswärtige: die KVB, die Kölner Verkehrsbetriebe, sind die kleine Schwester der Deutschen Bahn. Und wäre Köln eine wirkliche Großstadt, dann gäbe es in den „Köln“-Regalen des lokalen Buchhandels längst auch „Senk ju vor träwelling…“-Bände, in Fortsetzung).
Die für uns ersten Töne dann im Loft, in Köln-Ehrenfeld: was spielen die eigentlich?
Wo ist „die Eins“? Gibt es überhaupt ein Metrum?
Angekündigt waren drei: die langjährige Rhythmusgruppe des Pablo Held Trios mit Robert Landfermann, b, und Jonas Burgwinkel, dr, ein absolutes asset der europäischen Jazzgegenwart. Sowie Jeremy Viner, ts, cl, aus New York City; Landfermann kennt ihn aus John Hollenbeck´s Claudia Quintet.
Auf der Bühne sind dann fünf: Percy Pursglove, tp; es ist sein Debüt im Loft. Er muss noch mit dem Nachtzug nach Hamburg, der Brite ist Nachfolger des Trompeters Rainer Winterschladen in der NDR Big Band.
Aus Berlin der österreichische Pianist Elias Stemeseder. Er hat sich auf der Durchreise nach Luxemburg entschlossen, die Einladung anzunehmen. Er ist, neben der Rhythmusgruppe, am meisten mit Landfermanns Musik vertraut.
Er wird später im tiefen Register eine Art drone spielen, einen flächigen, liegenden Klang aus Clustern. Wie er das macht, ist vom Sitzplatz aus ohne aufwändige Körpermanöver nicht zu erkennen.
Stemeseder liebt, ähnlich wie Kaja Draksler, Querstände: kontrastierende Linien, gerne als Wiederholungsformeln.
Wie gesagt, schwer zu beschreiben, was diese fünf eigentlichen machen. Post FreeJazz ist das allemal, aber was heißt das schon?
Es gibt Themen, Zwischenthemen, riffs, organisierte Übergänge. Selbstverständlich Soli.
Gleichwohl vollzieht sich alles in eigenartiger Schwebe, in Vieldeutigkeit.
Mitunter wird die time nur noch von Landfermann markiert, Burgwinkel agiert klar frei-metrisch.
Zwei, drei Mal in dieser Dreiviertelstunde bündeln sich die Fäden zu einem hypnotischen Knoten. Es ist Vorsicht geboten beim Einsatz dieser Aussage: aber in solchen Momenten weiß man, warum man Musik hört.
Das Paradoxe an diesem Abend: die fünf wenden ihren Blick fast nie weg vom Notenpapier, aber was sie spielen, kann unmöglich alles darin stehen. Es geht darum, die Form nicht aus den Augen zu verlieren; die Musik, Landfermann sagt das indirekt in einem Dank an die Kollegen, ist kompliziert.
Eigentümlicherweise - und das erkennt man am deutlichsten bei Jonas Burgwinkel - hält die Fixierung aufs Papier nicht davon ab, dynamisch und in immer neuen Varianten den Moment zu feiern.
Die Zuschauer schreien vor Vergnügen. Der gig wird mitgeschnitten, am Folgetag nutzen die Musiker den Raum erneut als Studio.
Die drei, die angekündigt waren.
Foto: Peter Tümmers
erstellt: 20.10.21
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