Heute beginnt ihr Arbeitsvertrag, am Montag, 4.3.24, wird sie ihren Arbeitsplatz in Bessungen beziehen:
Bettina Bohle ist die neue Leiterin des Jazzinstitutes Darmstadt.
Sie folgt auf Wolfram Knauer, 65, der Ende Januar in den Ruhestand verabschiedet wurde. Er hat das Institut sagenhafte 33 Jahre geführt.
Nicht mehr nur im barocken Kavaliershaus, sondern lange schon auch in angemieteten Räumen, beherbergt es eine der größten öffentlichen Jazzsammlungen Europas:
„80.000 Tonträger, mit Fachliteratur, Fotografien (50.000 Abzüge), 3.000 Plakate, 1100 Zeitschriftentitel mit mehr als 80.000 Einzelheften“, wie die FAZ vorrechnet, darunter die Sammlungen der SWR-Jazzredakteure Berendt und Wunderlich.
Die Bessunger Str. 88d in 64285 Darmstadt ist aber nicht nur ein Container für Archivalien, sie gibt einem lebenden Organismus Dach, mit Konzerten im - der visuellen Anmutung zum Trotz - gut klingenden Gewölbekeller, einer wechselnden Künstlerresidenz, einer Gesprächsreihe sowie dem zweijährlichen Jazzforum (an anderen locations der Stadt).
Wie überhaupt Knauer das Institut weit über die Wissenschaftsstadt Darmstadt auch international bestens vernetzt hat.
In den von ihm organisierten Jazzforen konnte man der ersten Garde anglo-amerikanischer JazzforscherInnen zuhören (John Gennari, Tony Whyton, Krin Gabbard, Scott DeVeaux, Sherrie Tucker).
Er selbst, der 1989 in Kiel über das Modern Jazz Quartet promoviert wurde, hatte als erster Nichtamerikaner 2018 eine Gastprofessur an der Columbia University in NYC; er gehört zum Beratergremium einer Jazzreihe bei Oxford University Press, an der Universität Mainz unterrichtet er Jazzgeschichte.
Neben Künstlerbiografien (Armstrong, Ellington, Parker) hat er eine Geschichte des deutschen Jazz gestemmt („Play yourself Man“) und - er beabsichtigt, als nächstes noch ein paar Pfund draufzulegen.
33 Jahre, eine komplette demografische Generation, vulgo: mehrere JazzmusikerInnen-Generationen - das dürfte auch bei extrem verschärftem Fachkräftemangel seiner Nachfolgerin nicht vergönnt sein.
Bettina Bohle ist von Jahrgang 1981, sie hat Musikwissenschaft, griechische Philologie und Philosophie studiert, war Lehrbeauftragte für Musikwissenschaft an der Uni Hildesheim und und zuletzt involviert in den langjährigen Anlauf um eine House Of Jazz in Berlin.
In Darmstadt kann sie sich einen Beirat für das Institut vorstellen, sie will „auf die anderen Kunstsparten schauen, auf die Theaterszene zum Beispiel“, wie sie dem Darmstädter Echo verrät.
Und ja, auch sie hat Binsen im Gepäck, wie sie heute zum Morgengruß vieler JazzaktivistInnen gehören:
„Jazz und improvisierte Musik dürfen sich nicht von aktuellen gesellschaftlichen Themen abkapseln wie Diversität, Nachhaltigkeit und Rechtsruck.“
Ob sie die bis dato intellektuell in Bodennähe torkelnde Debatte auf Flughöhe bringen kann? Abwarten.
Eine erste Kostprobe jedenfalls, in dem vor drei Tagen erschienenen Band 18 der „Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung“, lässt Lesefreude aufkommen. Wohltuend, dass da endlich jemand ihren (Ludwig) Wittgenstein kennt und das Thema „Genre & Jazz“ in einer „sprachpragmatischen Annäherung an eine hitzige Diskussion“ cool auszuleuchten vermag.
Wo doch wenige Seiten zuvor ein essentialistischer Eiferer ausruft, wir befänden uns „in einem post-Genre Moment“ und seinen Hoffnungen ein „Ich fühle mich wohler damit…“ voranschickt.
Zu wünschen wäre auch, dass sie eine Handreichung ihres Vorgängers beibehielte oder (wie zu hören) vielleicht in anderer Form fortführte: die JazzNews, einen mitunter wöchentlichen newsletter, der sehr neutral auf Artikel zum Jazz verweist, mitunter bis hin zu amerikanische Provinzzeitungen.
Wie gesagt, Wolfram Knauer. Der hat im Ruhestand nicht weniger vor, als den Berendt zu geben, ja wirklich:
eine Geschichte des Jazz zu schreiben.
Hoffen wir, dass er nicht in einer Sisyphos-Arbeit verharrt.
Fotos: Lena Ganssmann (Bohle), Stephanie Castillo (Knauer)
erstellt: 01.03.24
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