Die Tagesschau weiß nichts davon, Lanz und Maischberger machen Ferien.
„Gewalt und Diskrimierung im Deutschen Jazz und an Musikhochschulen“ - ob sie dafür Platz hätten?
Am ehesten vielleicht noch „TTT“ („dies alles und noch viel mehr…“) oder Kulturzeit auf SAT3.
„Liebe Freund*innen und Kolleg*innen“, teilt die Berliner Musikerin Friede Merz am Dienstag, 25.07.2023 auf Instagram mit,
„ich werde heute abend ein Statement veröffentlichen und brauche eure Hilfe, damit in den nächsten 72 Stunden möglichst viele Personen und Institutionen davon mitbekommen“.
Sie hängt Adressen von Multiplikatoren an; außer mehreren hashtags sind die taz und das Netzwerk Recherche von SZ, NDR und WDR darunter.
Das nennt man „große Glocke“.
Die Sängerin und Gitarristin Friede Merz (ein Berliner Jazzversteher lobt an ihr „the rare art of being
in several places at the same time“, was doch eigentlich für Hans-Dietrich Genscher reserviert war) ist auf bandcamp mit ein paar richtig guten Popsongs über London vertreten, die Ortskenntnis verraten („Daisy Lane“, „Denmark Street“), aber auch mit einer Interpretation der „Lavant-Gesänge“ von Wolfgang Rihm sowie einem improvisierenden Jazzquartett.
Das nennt man vielseitig.
Friede Merz, auch das ist wichtig, gehört zu queer cheer, einer Gruppe, der in großem Überschwang der Sonderpreis des Deutschen Jazzpreises 2023 zugesprochen wurde.
Das "Statement" nun, veröffentlicht am 25.07.23, auf Deutsch und Englisch, ist allein von Umfang her (8 Seiten auf Merz´ Webseite) mehr als das.
Es ist ein Betroffenenbericht in Form eines Pamphletes:
„In diesem Statement geht es um Kontrolle, Macht und Missbrauch in der Musik mit Fokus auf den Hochschulkontext. Vornehmlich geht es um psychische Gewalt und emotionale Manipulation, besonders in Form von Vernachlässigung, wo Handlung und Verantwortungs-
übernahme angebracht oder sogar Pflicht gewesen wären. Es geht um epistemische Gewalt, Unwissenheit, Verdrängung, Toleranz und Befähigung von Gewalt.“
Das sind Pathos und Drama, denkbar Mainstream-fern mit ihren Szene-Anglizismen, erkennbar an die community gerichtet.
Ein Solidaritätsappell.
Und zugleich doch weit weg von der neuen Webadresse, auf die Merz selbst verweist (musicmetoo, „Gewalt und Machtmissbrauch in der deutschen Musikbranche sichtbar machen“), eine Sammlung anonymisierter, nüchterner, nicht selten erschreckender Erfahrungsberichte.
Im Kern geht es auch bei Friede Merz darum. Es geht um eine unglückliche Liebesbeziehung, an der sie offenkundig lange gelitten hat (was nicht in Abrede gestellt wird; ebensowenig, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt). Mehrfach betont sie, „strafrechtlich war nichts von dem, was geschah, relevant". Das unterscheidet ihren Fall von dem eines bekannten Klassik-Pianisten. Er hat aber einen Vorläufer im Jazz.*
Irritierend an Merz´ Darstellung ist die Wortwahl. Sie beginnt ein Studium am Jazzinstitut Berlin und trifft auf einen
„Professor, der einige Monate nach meiner Ankunft in Berlin anfing mich zu groomen.“
Das liest sich wie „anmachen“ - hat aber laut Wikipedia eine ganz andere Bedeutung:
„Als Grooming wird die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird.“
Friederike Merz war zu diesem Zeitpunkt Mitte zwanzig. Die Beziehung dauerte von 2013-15, eine „geheime und unglückliche Beziehung (…), bei der die meisten meiner Grundbedürfnisse konsequent ignoriert und ich systematisch ausgenutzt wurde.“
Um ihr Leiden zu erklären, zieht sie das sechsstufige Modell des Grooming aus einer Studie der New Yorker Psychologinnen Georgia Winters und Elizabeth Jeglic heran („Stages of Sexual Grooming: Recognizing Potentially Predatory Behaviors of Child Molesters“, 2016) - und wendet es auf ihren persönlichen Fall an. Ohne zu erwähnen, dass die beiden sich ausdrücklich mit Kinderschändern (child molesters) befassen.
Der Professor, „ein allseits beliebter Dozent und Musiker", wird bei ihr durchgängig zum „Täter".
Und er hat auch einen Namen. Er hat einen Namen aus der Zeit mit dem Masada Quartet von John Zorn, er war seit 2009 Fachbereichsleiter Bass am Jazzinstitut Berlin.
Der Name taucht in der letzten Zeile von Merz´ „Statement“ auf, zuvor aber wird noch auf ein Konzert des „Täters“ im Berliner Club Donau 115 hingewiesen, am 26.07.2023.
Leider hätte sich nur einer der drei Club-Besitzer bereitgefunden, dieses abzusagen. Es war deren (gemischte) Resonanz auf die Forderung nach einem Auftrittsverbot, verklausuliert vorgetragen durch die Maßgabe, "sich klar gegen Mißbrauch zu positionieren".
Es kam dann doch anders, das Konzert fand nicht statt. Das Jazzinstitut zeigte sich betroffen.
Und tags drauf bäumt sich für kurze Zeit, bevor er wieder gelöscht wurde, ein sehr spezifischer Appell im Netz auf: Personen und Institutionen der deutschen Jazzszene sahen sich auf Instagram namentlich markiert mit der dringenden Aufforderung zur Solidarisierung.
*Es ist der Fall Steve Coleman vs. Maria Grand (2018)
Vor wenigen Wochen erst veröffentlichte das Magazin Jazztimes online eine ausführlich Gegendarstellung des beschuldigten Saxophonisten.
Und wer sich wirklich in die Untiefen einer solchen Auseinandersetzung traut (die in Berlin hoffentlich nicht droht), kann dies auf einer Webseite von Coleman tun.
Sie enthält links zu Dokumenten aus dem bisherigen Prozeßverlauf.
erstellt: 27.07.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten
PS (01.08.23)
Die Unterstützenden,
umarmen den Club,
der ihnen so "wichtig" ist,
mit Liebe & Respekt so sehr,
dass der erst mal vier Wochen braucht, um sich davon
zu erholen.
PS (08.08.23)
Heute legt Friede Merz auf ihrer Webseite mit einer umfangreichen "Ergänzung zum Donau 115" nach.
Es ist ein Text, der an Undeutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.
VertreterInnen der Entscheidungstheorie werden ihre helle Freude daran haben.
Derweil meldet das Loft in Köln für den 11.9. (neu-deutsch: NineEleven) ein Konzert mit ...Friede Merz.