What you have missed: Etienne Nillesen + Marlies Debacker, Stadtgarten, Köln

Der Karfreitag gehört in Deutschland zu den sogenannten "stillen Feiertagen".
An diesen Tagen sind "alle der Unterhaltung dienenden Veranstaltungen" verboten. Laut aktueller Rechtsprechung sind dies Darbietungen, "die angenehmen Zeitvertreib, Geselligkeit sowie Erholung und Entspannung vermitteln sollen“. Gestattet sind jedoch Veranstaltungen, die sich mit den Themen "Trauer, Totengedenken und innerer Einkehr“ auseinandersetzen.
Die Regelung ist des öfteren, auch vor Gerichten, in Frage gestellt worden. Sie hat aber bis heute Bestand.
Und man hätte nur zu gern in die Gesichter der Initiatoren geblickt, wie sich diese verfinstern, hätten sie (noch) zur Kenntnis nehmen können, dass der Stadtgarten in Köln an Karfreitag 2023 den Auftritt eines Solo Schlagzeugers annonciert.
Dass der Mann nur ein einziges Teil des normalen drum set mitzuführen gedenkt, nämlich die snare drum, würde die Bedenkenträger vermutlich nur mäßig beruhigt haben. Wo eine Trommel, so ahnen wir quasi rückwärtig ihre Begründung, dort ein Beat. Und wo ein Beat - Tanz.
Das musikalische Weltbild jener Damen & Herren wäre vermutlich lautstark zerbrochen, hätten sie in Erfahrung bringen können, dass jener Solo-Schlagzeuger zu Karfreitag 2023 in Köln binnen 30 Minuten nicht einen einzigen Beat ausführt, ja dass er nicht mal die dafür nötigen Stöcke dabei hat.
Etienne Nillesen   1 1Und auch die zahlreichen Zuhörer im Konzertsaal werden (was sie sicherlich getan haben), wenn sie ihren Kopf nur für einen Moment zur Seite drehten, ihren Ohren nicht getraut haben, was sie doch gerade noch mit Blick nach vorn auf Etienne Nillesen, hundertprozentig wahrgenommen hatten:
schwebende, sirrende Klänge, ohne Anfang und Ende, wie man sie sonst nur von einem Synthesizer kennt, dann wieder zerrend wie im Sägewerk, immer in changierenden Klangfarben.
Dabei tut der Mann nichts anderes, als fortwährend die Trommel zu rühren, sprich: Kreise zu ziehen; vom Rand, zur Mitte, kleine Kreise, große Kreise, mit Werkzeugen, die Kinder von weitem als Dauerlutscher identifizieren mögen.
Am Kopf, anstelle der Süßmasse, sitzt ein Flummiball, und der nimmt - man staune - Einfluss auf das Klanggeschehen.
Nillesen bedient, rein äußerlich, eine snare, die sich kaum von denen abhebt, die seine Kollegen an dieser Stelle einsetzen. Mit seiner snare könnten sie ihrem Geschäft durchaus nachgehen, aber sie wäre für ihre Zwecke überdimensioniert.
Sie verfügt nämlich, fast in des Wortes Sinne, über einen doppelten Boden:
sie hat an der Unterseite nicht einen „Teppich“, sondern drei. Nillesen kann sie mittels Flügelschrauben, visuell fast unmerklich, näher ans Fell bringen oder davon abrücken - akustisch aber mit erstaunlicher Modulation.
Und das Erstaunen wäre der Parameter, um den man die Karfreitagsordnung ergänzen könnte. „Erstaunen“ ist ganz sicher mit „innerer Einkehr“ kompatibel, ob auch mit „Trauer“ und „Totengedenken“, bleibt der individuellen Hörgeschichte vorbehalten.
Auf jeden Fall verlangt Nillesen „Konzentration“, nein er saugt sie geradezu an, denn manchmal spielt er so leise, dass die Saallüftung als drone sich dazulegt.
Marlies Debacker   1Im zweiten Teil, bei Marlies Debacker, nistete sich ein Gedanke aus den Tagen des Kinderglaubens ein:
„Die Glocken fliegen nach Rom“, am Karfreitag.
Die in Köln lebende Belgierin zupfte in diesem Moment mit beiden Händen im Resonanzraum des Steinway Flügels.
Auch hier wieder „Erstaunen“: eine solche Kombination von „drinnen“ & „draußen“, von Saiten & Tasten hat die Jazzpolizei noch nicht gehört.
Debacker beginnt die Kombi in der obersten Oktave, mit einem irrisierenden Wechsel aus gedämpften, geschlagenen und lang ausgehaltenen Tönen.
Später werden letztere mit Hilfe von e-bows, 9-Volt Batterie-betriebenen, kleinen Elektromagneten ausgelöst.
Sie legt sie auf die Saiten, sie bringen sie aus sich heraus ins Schwingen, ohne dass sie ihrer Hände Arbeit bedürfen. Das macht sie sehr sparsam.
Inzwischen ist sie in die unterste Oktave gesprungen. „Präpariertes Klavier“ heisst bei Debacker, dass sie zwei kleine Holzstöcken, die sie zwischen die Saiten geklemmt hat und mit den Fingern reibt - Töne, der erst langsam vergehen.
Dann räumt sie mächtig auf da unten, sie donnert Repetitionen. Und wandert in Clustern in die Mitte, aber nur kurz.
An Karfreitag im Stadtgarten Köln hat sich das Spektrum der Frei Improvisierten Musik um ein Kapitel erweitert.

In Kürze gehen Nillesen, Debacker und der Bassist Stefan Schönegg ins Studio des DLF, zu einer neuen Produktion in dessen Reihe „Enso“.
Die Jazzpolizei kann das Ergebnis kaum erwarten.

Fotos: Gerhard Richter
erstellt: 08.04.23
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