Wann hat die Überschrift dieser Kolumne je dermaßen dem Anlaß entsprochen wie diesmal: „What you have missed - was Ihr verpasst habt“ - sechs Männekes, wie man im Ruhrgebiet zu sagen pflegt, für zwei Spitzenkräfte der europäischen Improvisierten Musik!
Aber wir saßen nicht in Essen, Dortmund oder Duisburg, sondern im Jaki unterhalb des Stadtgarten Köln, eine Blackbox, nach dem Umbau bestens geeignet, elektro-akustische Handkantenschläge abzufedern.
Sechs Zuhörer für Benoit Delbecq & Jozef Dumoulin alias Plug & Pray; die beiden zeigten sich von dem in endemischen Zeiten unkalkulierbaren Publikumszuspruch nicht sonderlich überrascht. Sie sind Profis. Sie legten los, sie legten ein Feuerwerk von 70 Minuten, woran gemessen ihr Album von 2017 ein laues Lüftchen ist.
Keiner der sechs musste auch nur einen Wimpernaufschlag lang befürchten, den ironischen Bandtitel (Plug & Pray, statt Plug & Play, wie auf den Kartons der consumer electronics heißt, also Auspacken, Einstöpseln und Hoffen…dass irgendwas klingt) als Pray, als Beten, dahingehend zu verstehen, dass die Künstler sich bitte doch von den Umständen nicht beeinträchtigen lassen.
Wie gesagt, Delbecq & Dumoulin sind Profis, sie hatten sichtlich ihren Spaß. Zum Schluß entsprachen ihre Gesten des Gelungenen den Eindrücken der sechs, die aufsprangen, johlten und applaudierten, als sei der Laden rammelvoll.
Denn kurz zuvor waren die improvisierten Bemühungen von Delbecq & Dumoulin in einem erlösenden Beat kulminiert - den sie vorher konsequent verweigert hatten.
Jozef Dumoulin, 47, aus Westflandern, an zwei keyboards, das vordere, das Fender Rhodes Electric Piano, überladen mit Effektgeräten.
Benoit Delbecq, 56, aus Paris, diesmal nur an einem mini-keyboard (auf dem er selten Arpeggien spielt), ansonsten in einer Funktion („e-drums“), die sich im Tippen auf diverse Kleingeräte zeigt und vor allem breakbeats produziert.
Nichts davon, bis auf die Schlußpassage, ist metrisch fundiert* - und trotzdem goovt´s ohne Ende. Die große Kunst der beiden ist das Spiel mit Klang & Struktur, aber eben nur in Andeutungen. Nichts wird vollständig ausformuliert.
Klangfetzen reichen, tiefe Bassschläge, die hypnotisch den weiteren Vorgang zum Imaginieren bringen.
Im Grunde spielen Delbecq & Dumoulin hier mit einer evolutionären Errungenschaft des Menschen, denn Beat ist eine Eigenaktivität des Gehirns.
Das wissen wir nicht erst seit gestern, auch nicht seit der Hirnforschung - von der „subjektiven Rhythmisierung“ wussten schon Ernst Meumann und Thaddeus Bolton. 1894.
Schön, dass wir das noch mal erwähnen durften.
*PS Benoit weist in einer mail daruf hin, dass alle Rhythmen "precise time organisation" folgten, mit anderen Worten: sie waren polymetrisch organisiert; aber eben doch in Schichten unterschiedlicher patterns und Tempi, die den Eindruck (siehe oben) hervorrufen konnten.
Auf gut Deutsch; wir wurden wieder Zeuge des Unterschiedes zwischen Produktion und Rezeption. Danke dafür.
erstellt: 28.02.23
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