13. Klaeng Festival 2022, Stadtgarten, Köln

Es war, wie angekündigt, ein Mitglied der „Kölner Bass-Familie“, dem der Höhepunkt dreier Abende glückte. Kein Mitglied des Klaeng Jazzkollektivs, das sich beim gleichnamigen Festival aufs Kuratieren beschränkt, sondern eines aus dem benachbarten Impact Kollektiv.
Dabei nutzt Stefan Schönegg nur einen kleinen Ausschnitt der Ausdrucksmöglichkeiten seines Instrumentes: er spielt ausschließlich arco, er streicht Liegetöne auf dem Kontrabaß, und er beginnt pianissimo, noch unter dem Liegeklang der Klimaanlage. Peu a peu gesellen sich Kari Rønnekleiv, v, und Judith Hamann, vc, dazu.
Die drei spielen vom Blatt, sie improvisieren allenfalls ihre Zeitpunkte von Ausstieg und Wiedereinstieg, wenn sie dem Rest des Quintetts Raum geben, dessen Tätigkeit schwerlich durch Partitur sich vorzeichnen lässt. Schließlich befinden wir uns nicht in Witten oder Donaueschingen, sondern immer noch auf einem Jazzfestival.
Enso: Strings & Percussion; es sind Etienne Nillesen und Toma Gouband, deren Texturen das noch größere Aha-Erlebnis bescheren. Mehr noch als bei der Cologne Jazzweek 2021 konnte man jetzt im Stadtgarten auch optisch begreifen, mit welch minimalem Einsatz sie den auditorischen Kortex ihrer Zuhörer entflammen (speziell die Weichenstellung „nicht Geräusch, sondern Musik“), sodass diese selbst das Streicheln von Stein mittels Stroh (Gouband) gebannt verfolgen.
Oder - man möchte den Gedanken eigentlich nur hinhauchen - seinen „Doppelschlag“ zweier Fußmaschinen: auf ein Steinchen und auf die Pauke.
Von Nillesens an dieser Stelle oft beschriebenen großen Kunst auf der snare drum, beispielweise betörende drones zu reiben, ganz zu schweigen.
Enso Klaeng 2022 1Es wäre ein (Klang)Traum, den Niederländer Nillesen in Kompanie mit dem belgischen E-Piano-Abenteurer Jozef Dumoulin zu erleben. Dessen Instrument war diesmal überladen mit Kabeln, mehr als das Fender Rhodes Tasten zählt (die auf dem Boden befindlichen „Tretminen“ gar nicht eingerechnet).
An einer Stelle wollte sich gar die optische Vorstellung eines Tarnüberzuges einstellen, als eine elekro-akustisch verfremdete „Trompete“ erklang. Wo kam die bloß her? Eine Illusion, die Dumoulin mit Arpeggien demaskierte, die einem realen Trompeter niemals gelingen dürften.
Dumoulin hatte im Quintett Octurn den bemerkenswerten Bassklarinettisten Joris Roelofs zur Seite, hinter sich leider aber auch, wieder einmal, den Schlagzeuger Dré Pallemaerts, der den Schwebezustand eines ewigen rubato nicht auszufüllen vermag.
Zumindest rhythmisch benachbart, wenn auch tonal freier, gelang dem dänischen Trio Zeuthen/Anderskov/Westergaard die wesentliche kohärentere Performance. Der Altsaxophonist Zeuthen, 73, nahm sich viel Zeit, um mit hymnischen Linien, später auch shouts einen Ausdruck zu erzeugen, den man früher (und heute wieder) als spiritual jazz zu bezeichnen pflegt.
Ob Zeuthen die dahinter oft vermutete Metaphysik teilt, lässt sich an seinen Klängen nicht ablesen; wer den Begriff mag und den damit verbundenen Essentialismus nicht, sollte ihn ihm nicht absprechen, nur weil er diesmal aus dem Norden Europas tönt.
Die Jazzpolizei konnte dem Pianisten Anderskov etwas abgewinnen, ihr Sitznachbar, ein promovierter Musikwissenschaftler, weniger: ihn störte dessen „ewiges Tremolieren“.
Und damit wäre glanzvoll übergeleitet zu einer weitaus denkwürdigen, ja umstrittenen Performance: Mitglieder der „Kölner Bass-Familie“ waren hingerissen davon. Die Jazzpolizei und andere Hörer erspäten - um das mal so auszudrücken - unter den im Stadtgarten anwesenden Mitgliedern eben jener Familie den einen oder anderen, dem sie an dieser Stelle auf diesem Instrument mehr zugetraut hätten. Mehr als Thomas Morgan.
Der 41-jährige ist ein Phämomen. Vor knapp 20 Jahren stand er schon einmal auf der Bühne des Stadtgarten, damals mit seinem „Entdecker“ David Binney. Inzwischen ist er als Bassist much in demand, Alben mit Bill Frisell, Charles Lloyd, Paul Motian, Jakob Bro und und und…
Als einer aus dem Klaeng-Kollektiv ihn angekündigt mit den Worten, sie alle hätten ihn „liebgewonnen“, spricht er damit ganz sicher allen Zuhörern aus dem Herzen.
Sein Anblick löst Fürsorge aus. Sein Weg zum Instrument und wieder zurück, zwischendrin - das Mikrofon steht nun mal in Reichweite - zwei, drei Worte an die Zuhörer;  kaum einer unter ihnen, den nicht das „A“-Wort bewegte. Ja, heißt es später aus nicht-medizinischem Munde, er sei ein Autist.
Am ersten Festivaltag spielt er solo, völlig versunken am Instrument. Das timing stimmt, die Intonation, auch bei vielen Lagewechseln, den Bogen verschmäht er. Avancierte Spieltechniken fehlen, für die einer seiner Kölner Kollegen (er saß im Publikum) bekannt ist. Es ist nicht state of the art des Kontrabaßspielens, was Thomas Morgan da vorführt.
Von zwei anderen, ebenfalls Kölner Bass-Kollegen, erfährt man, wie begeistert sie waren. Hat sie vielleicht lediglich das Handwerk verzaubert? Es stimmte ja alles. Aber was hat Thomas Morgan gespielt? Was ist seine spezifische Ästhetik, sein persönlicher Ausdruck?
Die Jazzpolizei versuchte es mit der Zauberformel „Narration“ - und meinte auch tatsächlich, irgendwann sieben Töne in Variationen entdeckt zu haben. Aber das sind nur wenige Minuten von sechzig.
Wieder einmal haben alle das Gleiche anders gehört, oder wie wir es bei Markus Gabriel finden:
„Wenn zwanzig Zuschauer einer Vorführung beiwohnen und sich auf diese einlassen, finden mindestens zwanzig Aufführungen und eine einzige Vorführung statt. (…) Niemals interpretieren zwei Rezipienten irgendein Kunstwerk auf eine identische Weise, da unsere Kohärenzbildung in der ästhetischen Erfahrung letztlich individuell ist“ (Fiktionen. Berlin, 2020).
Morgan Frisell 2022 1Zum Abschluß des Festivals, im Duo mit Bill Frisell, richtete sich die Erwartung an den Gitarristen. Bei allen Nebengedanken erweist der sich doch immer als Erzmelodiker, als Künstler, der mit Nachvollzügen nicht geizt
Man kann das „Kontrapunkt“ nennen, was die beiden in den ersten 10 Minuten betreiben, bevor sie dann in etwas Halt zu finden scheinen, das man gemeinsamen Groove nennen könnte. „The Days of Wine and Roses“ schält sich heraus, später „Save the last Dance for me“ oder auch „What the World needs now“. Frisell gibt vor, Morgan folgt, Frisell blickt ihn an, er nie zurück. Immer vermeidet er das Naheliegende zu spielen, Impulse verarbeitet er weiträumig.
Mitunter ist er so weit weg, dass er die cues nicht wahrzunehmen scheint, die Frisell ihm sendet: hier ist wieder und wieder das Thema, komm´ zum Schluss, mein Freund!
Frisells Ton ist heute sehr kammermusikalisch, Feedback taucht gar nicht auf, die wenigen Fußpedale vor ihm bedient er nicht einmal; der berühmte Sound, filgran, geradezu intim, resultiert ausschließlich aus beider Hände Arbeit.
Obwohl auch die beiden viel improvisieren, fehlt ihnen wohl doch die Ökonomie des Augenblicks der Frei Improvisierten Musik, wie sie eingangs des Festivals ein Quartett um Floros Floridis, cl, bcl, und die fabelhafte Vibraphonistin Andria Nicodemou vorgeführt hatte.
Floridis klebt noch an der ewigen Atonalität des FreeJazz, aber Nicodemou sowie die Gäste Gunda Gottschalk, v, und Dominik Mahnig, dr, haben wirklich ein Gespür für spontane Strukturbildung.
Dies alles ließ sich unter dem weiten Dach Jazz sortieren; am Rande vielleicht auch noch die Schumann-Träumereien der Pianistin Johanna Summer. Pablo Held war in pandemischen Zeiten mit ihr mal erfolgreich auf Hancock eingeschwenkt, heuer verließ sie sich erneut auf Variantenbildung zu ihrem romantischen Vorvater.
Was freilich den 08/15-Rap von Nepumuk in den kuratorischen Fokus eines doch künstlerisch hoch-ambitionierten Jazzmusiker-Kollektivs gerückt hat, bleibt das große Rätsel des Klaeng-Festivals. Von der Bühne, die vor Jahren immerhin Rampe war für das Wortfeuer eines Kokayi (bei Steve Coleman), nun Bekenntnisse wie „mein Penis ist zu kurz“ oder allfällige Nebensätze über „den Imperialismus“ zu vernehmen, war zuviel des Schlechten. Die Jazzpolizei schenkte sich den großen Rest.

Fotos: Peter Tümmers, Gerhard Richter
erstellt: 15.11.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten