Igor - Keith - Muddy

Die Jazzpolizei räumt ein: ein entscheidender Impuls, den Film „Igor Levit - No Fear“ zu sehen, ist dessen Regisseurin Regina Schilling.
Ihr „Kulenkampff´s Schuhe“ (2018), eine Doku, die das Schicksal ihres Vaters kreuzblendet mit der deutschen Fernsehunterhaltung, ist noch gut in Erinnerung.
Vor allem war die Jazzpolizei gespannt, welchen Raum die politische Haltung, man könnte auch sagen die diesbezüglich leichte Entflammbarkeit des Pianostars einnehmen würde.
Vorweg, sie bekommt nur wenig Raum: am Schluß in einer symbolischen Geste, eine klirrende Performance, umsonst & draußen an einem Dezembertag, im Protestcamp am Dannröder Forst.
Zwischendrin einmal, als die Kamera aufzieht und Wolfgang Schäuble als Gesprächspartner ins Bild kommt; Auftakt zu einer öffentlichen Debatte (geleitet von einer Spiegel-Redakteurin), von der nicht mehr als ein Statement und die Replik des alten Politfuchses gezeigt wird.
Igor Levit berichtet von der Begegnung mit einem Mann, der ihm bedeutet, für Menschen seiner Herkunft (Juden) sei in diesem Lande kein Platz mehr vorgesehen. Woraufhin Schäuble keineswegs die im Saal aufkeimende und berechtigte Entrüstung aufgreift, sondern seinem geschätzten Gegenüber scheinbar eiskalt bedeutet, wir lebten in einer Demokratie „nicht in einem Paradies“.
Iigor levit no fear film index quer„Igor Levit - No Fear“ besticht durch großflächige Musikaufnahmen, in Konzerten, viel in Studios, in Kirchen. Immer wieder eindrucksvoll die völlig unerotische Intimität zweier Männer: des Pianisten mit seinem Tonmeister Andreas Neubronner. Levit schmiegt sich an seine Schulter, auf seinem Arm spielt er mit der rechten Hand mit, was beide gerade abhören.
In den ersten Monaten der Pandemie gibt er 52 „Hauskonzerte“ über das Internet. Das Repertoire reicht weit, weit über Beethoven hinaus; Schilling gelingt es, in einer Montage dieses Panorama zu rahmen.
Hinterher schwärmt der Pianist von der „maximalen Unabhängigkeit“, die er in diesen Wochen erfahren habe. Und damit meint er nur am Rande Fragen der Bühnen-kleidung, sondern das Repertoire.
Aber wie kommt es zustande? Wer nimmt Einfluß?
Wann & wie übt er?
Der Film startet mit Packern, die ihm einen Steinway in seine neue Wohnung in Berlin schleppen. Die Szene bleibt unaufgelöst: man sieht ihn nie darauf proben, daran schwitzen, daran verzweifeln. Der Film konzentriert sich auf fertige Produkte oder Details kurz vor ihrer Vervollkommnung.
Was hat „Igor Levit - No Fear“ in einem Jazzblog zu suchen? Der Jazz kommt nicht vor (obwohl Levit auch Bill Evans und jüngst Fred Hersch interpretiert) - aber der Blues!
In einer der - nicht wenigen - ergreifenden Szenen des Films öffnet Levit ein Fenster in eine andere Welt. Er spricht davon, eine Doku über Keith Richards gesehen zu haben, wo dieser in der ersten halbe Stunde ausschließlich über Muddy Waters spräche.
Levit findet im Nu auf seinem smartphone das entsprechende YouTube-Video: „Mannish Boy“!
Die Stimme von Muddy Waters, die ersten Andeutungen der Gitarre, dann das klassische 5-Noten-Thema; selbst diese Quäke stellt plötzlich einen Groove in den Raum, der unwiderstehlich ist.
Levit tippt sich an die Kehle; dorthin zielt der Sound. So etwas will er spielen, er kann es nicht, sein Instrument lässt es nicht zu.
Diese Hommage an eine so gänzlich andere Musik, fast mehr gestisch als verbal, ist wunderbar.
Die Jazzpolizei muss sich jetzt unbedingt die Waldstein-Sonate und „Palais de Mari“ von Morton Feldman besorgen. In der Einspielung von Igor Levit.

erstellt: 09.10.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten