What you have missed - Umadum, Christian Muthspiel. Werksviertel, München

Was haben Komponisten nicht alles unternommen, um dem Konzertsaal zu entfliehen - ihre aushäusigen Kreationen aber dann doch wieder darin zum Klingen bringen.
Am weitesten, höchsten, wohl auch am lautesten hat sich Karlheinz Stockhausen entfernt, mit seinem Helikopter-Streichquartett (1996) aus „Mittwoch aus Licht“.
Die Dimensionen von Christian Muthspiels „Umadum“ sind in jeder Hinsicht, ganz sicher auch im Hinblick auf das Budget, bescheidener. Zwar beschäftigt er 27 Musizierende, aber sie bewegen sich in sehr, sehr gemächlichen Tempo, auf einem Rundkurs zwischen vielleicht 3 und 80 Höhenmetern über Groundlevel Null im Münchner Werksviertel.
Sie bespielen auch nicht einen Konzertsaal, sondern Zuhörer, der Unbill des Wetters ausgesetzt (wovon noch zu sprechen sein wird) in Liegestühlen auf Kies. Dass dies der Baugrund des künftigen Münchner Konzerthauses ist, macht insbesondere auswärtigen Besuchern symbolisch zu schaffen.
Umadum 5 1Man glaubt Muthspiel (der ja zugleich ein ausgesprochener Philharmoniker ist) gern, dass die Technik-Crew von neugierigen Anrufern bedrängt wird mit Fragen nach dem „making of“ Umadum.
Wie nämlich 24 InstrumentalistInnen sowie die drei Sängerinnen des erweiterten Orjazztra Vienna in 27 separaten Kleinstudios (nichts anderes sind die Aluminium-Glaskonstruktionen der Riesenradgondeln) untereinander, dann mit der zentralen Leitstelle, also dem Komponisten Muthspiel nebst Tontechniker, mit den Lautsprechern fürs Publikum und obendrein auch noch so verkabelt sind, dass man auf einer Videowand Einblick in jede einzelne ihrer Zellen bekommt.
Wobei, die Anrufer disqualifizierten sich sogleich, wenn sie vom „Verkabeln“ sprächen. Sie wissen selbstverständlich, dass hier „irgendwas mit W-Lan“ läuft. Aber, wie im Detail die Funkstrecken aufgeteilt und warum hier nicht mal Stromkabel verlegt sind (nach den Performances müssen x Akkus geladen werden), das wollen sie unbedingt in Erfahrung bringen.
Auch in der Hauptsache, in puncto Jazz betritt Muthspiel Neuland - und zwar dadurch, indem er zentralen Jazzprinzipien widerspricht.
Improvisation ist unerwünscht. Die Ausführenden sollen nicht emotional aufeinander reagieren.
Eine Gesamtpartitur der 44-minütigen Komposition (und es ist eine Komposition!) befindet sich nur beim Komponisten. Die 27 MusikerInnen (elf von ihnen weiblich) haben lediglich ihre individuellen Parts vor Augen, ohne Digital-Uhren könnten sie davon nichts umsetzen.
Muthspiels Konzept basiert darauf, „ein System zu finden, das zwingend für dieses Riesenrads komponiert ist. Also eben die Organisation der Partituren nicht durch einen gemeinsamen Takt, nicht durch ein gemeinsames Tempo, nicht durch einen Dirigenten, sondern durch synchronisierte Stoppuhren. Und jede Musikerin und Musiker spielen stur nach Minuten und Sekunden, sie sollen nicht aufeinander reagieren. Es ist wirklich diese Vorstellung: wir sind vereinzelt und außen gibt es eine übergeordnete Größe, die den gesamten Klang hören kann“.

Die Inspiration, die sich hierin versteckt, verweist auf das Bild, das Muthspiel aus den frühen Tagen der Pandemie in Erinnerung hat: Italiener, musizierend auf ihren Balkonen. Deren Motivation war eine Idee, der Gesamtklang ein Produkt der Fantasie.
Umadum 1 1Im Prinzip könnten Umadum auch die Mitglieder des Ensemble Modern aufführen. Wahrscheinlich aber hätten sie ihre liebe Mühe mit Vorgaben wie „slow swing with stops, unorthodox“ zum Beispiel für Baß 2 an einer Stelle. Die doppelt-besetzte Rhythmusgruppe folgt keinem Groove, nie einem gemeinsamen Tempo.
Anweisungen wie für Posaune 1, bei 28:10 eine freie Ballade („beautful, airy, not in foreground“, in der Dynamik pp < mf) zu spielen, aber nach 15 Sekunden wieder auszublenden - einer solchen Anforderung können eben wieder doch nur Improvisatoren genügen. Auch wenn ihnen dabei ein Hauptwerkzeug, nämlich die kontextuelle Einbettung ihrer Einfälle versagt wird.

Muthspiel hat „sehr ausgedünnt komponiert“, zufällig wirkende Überlagerungen und Schnitte machen die Musik aus.
Umadum muthspiel 1Einen Heidenspaß bereitet ihm am (Misch)Pult, wenn die Rhythmusgruppe zusammen mit einem fetten Fender Rhodes Electric Piano in Unschärfe kurz zu einem Muster a la Miles Davis´ „Bitches Brew“ zusammenfließt.
Das genaue Studium der Konzeption versöhnt den Besucher mit einer ersten auralen Enttäuschung.
Er steht, sitzt, liegt vor einem riesigen Rad und erwartet intuitiv Klänge von ganz oben.
Aber was woher schallt, bleibt ihm verborgen, alles klingt in breitem Stereo irjenswie vom Rad - und nichts anderes will Christian Muthspiel.
Dass „die weltweit erste Oper für Riesenrad“ keine Handlungs-
oper ist, dass das Libretto aus drei Gedichten von T. S. Eliot, Pablo Neruda und Wallace Stevens (ausgesucht von der Kuratorin Martina Taubenberger) besteht, die dem Nenner von Vereinzelung in der Gesellschaft und Bedrohung durch die Natur und die Stadt folgen - derlei Abstraktionen wurden von den Sinnlichkeiten des Ortes vollkommen aufgesogen.

Umadum Lisa 1Viel gravierender war das Wirken eines launischen Kantonisten: des Wetters.
Zu Beginn der Premiere war das Gelände von dunkelgrauen Wolken schon umlagert. Später als erwartet, sodaß man bangen durfte, das Gewitter würde sich bis Minute 45 ff zurückhalten.
Der Regen machte den Musikern in ihren Kanzeln nichts - auch den Besuchern nicht, die jeweils bis zu viert mitfahren (ein Erlebnis!), dabei aber je nur ein Siebenundzwanzigstel des Ganzen mithören konnten. Die Gondel schirmte das große Ganze weitgehend ab.
Wir fuhren bei Lisa Hofmaninger mit und durften ihr über die Schulter schauen. Regen rann übers Glas, es schaukelte ein wenig.
Als die Blitze am Horizont in dichterer Folge auftauchten, nahm die Saxophonistin ihr Instrument von den Lippen. Die Stoppuhr zeigte eine Sekunde zwischen 24:00 und 25:00.
Frau Hofmaninger hatte per Kopfhörer ein Sprachsignal erhalten, das nicht in der Partitur steht. Sie stellte wieder auf 00:00.
Abbruch.
Die Evakuierung zurück auf den Ausgang erfolgte angstfrei in wenigen Minuten.
Am nächsten Tag, bei der ersten von zwei Nachmittagsvorstellungen und störungsfrei, hörten wir das Stück völlig anders, der „Bitches Brew“-Teil erschien kräftiger. Wir erlaubten uns einen genaueren Blick in die Partitur in der Gondel des Posaunisten Alois Eberl.
Das sei, so ein überaus zufriedener Christian Muthspiel, die beste Performance gewesen, besser noch als die gute Generalprobe.
Ein Kollege aus Basel nickte. Wir, die wir (was in der Natur der Sache liegt und in dieser Sache ganz besonders) das Ganze in je anderen Gewichtungen gehört hatten, konnten dem zustimmen.
Umadum 6 1 1Es war ein Erlebnis. Es wird uns beim Hören & Nachdenken über Interaktion im Jazz wiederbegegnen.

erstellt: 07.08.22
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