What you have missed: Misha Kosmos, Bimhuis, Amsterdam

Eine Sonntagsmatinee um 13:30 Uhr im Bimhuis Amsterdam - das ist per Zug aus dem Rheinland gut zu erreichen (von der Rückfahrt wollen wir schweigen…)
Anlass ist nicht nur der Abschluss der jährlichen Tournee des ICP Orchestra, sondern auch die Präsentation des Buches „Misha Kosmos“, ein „Muziekboek“, 250 Seiten stark mit 75 Kompositionen des ICP-Gründers und auch über seinen Tod hinaus wirkenden Masterminds Misha Mengelberg (1935-2017).
Der Titel mag an Bartok´s „Mikrokosmos“ angelehnt sein (oder auch nicht), eine Welt für sich ist die Musik des verstorbenen und verschrobenen Pianisten allemal. Obwohl, ein Band mit Kompositionen eines Performers, den viele als einen der Ur-Spontis des europäischen Jazz erlebt haben, passt das?
Auf jeden Fall! „Der Schabernack war nur ein Baustein“. Sagt Thomas Heberer, der Trompeter und einzige Deutsche im ICP Orchestra.
Seit 15 Jahren lebt er in New York City. Er ist nun auch schon 56 - und der jüngste in der 10-köpfigen Band. Das war er immer, auch als er vor 30 Jahren dem Ensemble beitrat. Gewählt auch wegen seiner „deutschen“ Präzision, die seitdem so manche Probe bestehen musste.
MishakosmosMengelberg´s Stücke, verdeutlicht Heberer, sind „Kompositionen für Improvisatoren“, man könne sie allerdings in „alle möglichen Richtungen dehnen“, gemeinsam sei ihnen ein „Wille zur Kontroverse“.
Dieses Stichwort werden viele mit Mengelberg´s Ästhetik assoziieren, und von diesen vielen dürften nur wenige wissen, dass Mengelberg, der aus einer Musikerdynastie stammt, 40 Jahre lang am Konservatorium Amsterdam Kontrapunkt unterrichtet hat, „Palästrina war einer seiner Helden“.
Denen, die sich mittags in Europa´s wohl bestgeeigneter Jazz-Location einfinden, dürfte das vertraut sein. Tout Amsterdam ist versammelt, jedenfalls das Amsterdam, das sich für diese Musik interessiert, und das sind nicht wenige. Eine Art Familientreffen, viele ältere Paare, man grüßt sich, man unterbricht sich im Gespräch, die Stimmung ist blendend.
Eigentlich hätte man´s wissen können, aber trotzdem geht ein Zucken durch die Versammelten, als Han Bennink plötzlich mit einem Schlag auf der snare den Reigen eröffnet. Bennink ist das einzige Mitglied aus der Originalbesetzung von 1967, im nächsten Jahr wird er 80.
Er nimmt in den kommenden 90 Minuten fast ausschließlich die Besen zur Hand, er ist ein Swinger vor dem Herrn. Den Begriff darf man hier durchaus mit großem „S“ schreiben, denn Bennink´s furioser swing führt mitunter bis zum Two Beat zurück, in die Zeit des vor-modernen Jazz.
Der Bassist Ernst Glerum folgt ihm dabei, und abgesehen davon, dass u.a. Duke Ellington´s „In my Solitude“ auf dem Programm steht, intonieren auch die Bläser manches, das nie und nimmer als FreeJazz durchgeht und ganz woanders her stammt.
Der „Wille zur Kontroverse“ führt eben nicht, wie üblich, zu Stimmungen von Alarm oder Raserei, er führt zu Skurrilitäten, zu Ekklektizismus.
Tristan Honsinger Ton MijsMisha Mengelberg eben.
Oder auch Tristan Honsinger, der hier das Cello bedient und mindestens in zwei Momenten zu Einlagen kommt, die Beklemmung hervorrufen können. Honsinger ist von spindeldürrer Gestalt, gezeichnet durch Krankheit, in Kürze wird er erst 72: einmal erhebt er sich und tanzt verloren in der Art, wie man es aus Videos mit Parkinson-Patienten kennt.
Ein andermal nimmt er auf einem Stuhl Platz, malmt den Unterkiefer wie einer, der kein Gebiß mehr besitzt und wirft in fahriger Geste Steinchen über die Bühne.
Die Band spielt ungerührt weiter, sie kennt das, sie kennt ihren Tristan. Und er kennt die Form, er weiß, an welcher Stelle er ist. Eben deshalb ist man geneigt, diese Momente des Befremdens als „Dada“ auszulegen.
Oder als Herausstellen von körperlicher Hinfälligkeit, die ohnehin nicht zu verbergen ist. Das war auch beim legendären Bandleader zuletzt nicht anders.
Irjenswie passt dies zu einer Performance von frappierender Nonchalance. Es wird viel gelacht. Elemente tauchen auf, von denen man meint: die gehören da gar nicht hin. Mitunter auch rätselt man: ist das jetzt verunglückt oder so gewollt?
Thomas Heberer wird auflösen: „Wir spielen mit dem kreativen Potenzial von Katastophe. Und diese Ambivalenz ist durchaus gewollt“.
Obwohl „Misha Kosmos“ auf den Notenständern liegt, werden, wie gesagt, auch andere Komponisten aufgeführt.
Zum Beispiel Sean Bergin (1948-2012) aus Durban/Südafrika, verstorben in Amsterdam, und einst natürlich auch Mitglied des ICP. Von ihm flattert ein township Kettenmotiv durch den Raum, wie man es von Chris McGregor oder auch Dudu Pukwana kennt, gelegentlich aufgegriffen auch von Django Bates.

PS: Konzertstream bei Bimhuis TV

Foto: Ton Mijs
erstellt: 04.10.21

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