What you have missed: The Music of Hinrich Franck, Stadgarten Köln

Die Jazzpolizei bricht heute ein Gesetz, das sie eisern befolgt hat: nicht über Veranstaltungen zu berichten, an denen sie irjenswie beteiligt war.
Deren Zahl hält sich in Grenzen. Und so erscheint das Schlupfloch legitim: ein Interview mit dem Protagonisten hernach, dessen Auswahl und Repertoire ihr vorgegeben war; ein Interview für die Reihe „Speak like a Child“.
„What you have missed“; selten erschien der Zweck dieser Kolumne treffender. Diesmal geht es nicht um eine Tourneestation unter vielen, die man auch andernorts hätte erleben können, sondern um ein Einzelkonzert ohne weiteren Anschluß.
Der Protagonist tritt nämlich nur selten auf. In wenigen Wochen wird er eine Linie überschreiten, deren Bedeutung noch bis vor kurzem Signalcharakter hatte: er wird 65. Und es gehört zu den Tragödien der deutschen Jazzszene, dass sie für Hinrich Franck keinen angemessenen Platz gefunden hat.
Allerdings, wie Eberhard Weber, wenn auch auf gänzlich andere Weise, kokettiert auch er mit seiner Nicht-Zugehörigkeit. Seit Jahrzehnten macht er sich über den Jazz lustig:
1000 Kilometer auf der Autobahn/Karre im Arsch du kommst trotzdem an/5 Leute auf der Bühne/2 Zuhörer im Saal/SO WHAT
(„That´s Jazz“, 1991)
Er spielt keyboard. Seine sounds - heute hip - waren immer schon cheesy.
Er singt. Schlüpfrige, pubertäre, obszöne Texte („Mach weiter, ich komme“). Er kokettiert mit dem Alter, seit Jahrzehnten. Und ebenso lange, seit dem CD-Titel von 1991, pflegt er seine Bühnenrolle als „Looser“.
Ja - und das hört man von ihm selbst - manchmal ist es/er schwer auszuhalten.
Dies aber nur für einen kurzen Moment: die Expressivität seiner Musik schwemmt jeden Unmut fort. Hinrich Franck´s Macke & Methode ist, das Kunstlose auf das Katapult des Kunstvollen zu legen.
Eine Rhythmusgruppe wie die seiner Franck Band hat der deutsche Jazz-Funk nie wieder gehabt. 1991, auf dem Jazzfestival in Montreal, staunten Kundige nicht schlecht über den musikalischen Re-Import.
Lange segelte das expressive Altsaxophon von Frank Gratkowski obenauf. 2007 löst sich die Band auf, jetzt steht sie als Quartett für einen set auf der Bühne des Stadtgarten Köln:
Werner Neumann (inzwischen Prof. in Leipzig), g, Claus Fischer, bg (sein zweiter Vorname müsste „timing“ lauten) sowie Hardy Fischötter, dr (Dennis Chambers soll ihn mal weiterempfohlen haben).
„Past & Present: the Music of Hinrich Franck“; treffender als nie zuvor schält sich das Motto der Reihe, eigenlich eine Binsenweisheit, heraus.
Zunächst schließen die vier mit vollem Rohr da an, wo sie aufgehört haben, u.a. mit einer eigenwilligen Übersetzung von „Somewhere over the Rainbow“ (gesungen von Paul Köninger).
Dann überantwortet der Bandleader einen anderen Teil dieser Vergangenheit an den russischen Klavierlöwen Simon Nabatov.
Aus den „Bauerntänzen“ (in den 80ern und 90ern als anti-„Weltmusik“ konzipiert) wird schiere Gegenwart. Franck hat die „Bauerntänze“, elf an der Zahl, in der Corona-Pause zu Papier gebracht.
Er sagt, ja, die könne er selbst auch spielen - aber nie, nie, nie wie Nabatov.
Und es bleibt sein Geheimnis, wie der sich durch den Notenberg von 12 Seiten wühlt, durch die ganzen Verweise auf Bitonalität, Ragtime, Stride und Latin; was er wirklich vom Blatt spielt und was er erfindet, on the spot.
Die vordergründigen Banalitäten von Hinrich Franck mutieren zu einem Virtuosenstück, unglaublich.
Franck Band Stadtgarten 1Nach der Pause kehrt Nabatov noch einmal kurz zurück und spendiert dem „Bauerntanz Nr. 4“ ein schwelgerisches Intro, am Schluß schwenkt er auf den Groove ein, der sich in krummen Takten auf 16 addiert.
Dann übernimmt die Big Band, das Cologne Contemporary Jazz Orchestra. Das hat an Ort & Stelle schon Komplizierteres vorgetragen (u.a. The Music of John Hollenbeck), aber nichts mit soviel Lust & Power.
Jan Torkewitz hat die plakativen Themen gut verteilt und auch Raum gelassen für ein uraltes Spiel, nämlich Ruf & Antwort.
Ruf & Antwort, unnotiert, zwischen der schreienden Blues-Tonalität von Werner Neumann´s Gitarre und den Bläsern.
Ja, nicht alles war gelungen. Der Start für ein Stück wurde verstolpert, die Stimme von Anke Engelke vom Sampler drang nicht durch. Die Körperlichkeit der Musik aber -  zum Bersten; die Grooves - ins Parkett fahren; die gute Laune, die Freude der Musiker - ansteckend.

erstellt: 14.09.21
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